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Ungewollt wahlberechtigt

„Wir wollen das Grundgesetz ändern, um das aktive Wahlalter für die Wahl zum Deut­schen Bundestag auf 16 Jahre zu senken“, so steht es im Koalitionsvertrag. Offenbar ein Anliegen von Grünen und FDP, weil sie bei jungen Leuten überdurchschnittlich gut ab­schneiden. Bei der jüngsten Bundestagswahl erhielten die Grünen bei den Wähler/innen unter 25 Jahre 23 % der Stimmen (Durchschnitt 14,8 %), die FDP 21 % (Durchschnitt 11,5 %). Während dies Ergebnis der Grünen zu erwarten war, kam es bei der FDP eher überra­schend.

Die Beteiligung bei Bundestagswahlen lag in der Vergangenheit über 85 Prozent, seit 1987 zwischen 70 und 80 Prozent, 2021 bei 76,6 %. Bei Landtagswahlen betrug sie in der Re­gel mehr als 50 Prozent, bei Kommunalwahlen über 45 Prozent. Bei Europawahlen lag sie stets unter 50 %, 2019 jedoch über 60 %. Bei einer Einbeziehung der 16- und 17-Jähri­gen erhöht sich die Wahlbeteiligung nicht, denn sie wird in Prozent der Wahlberechtigten ange­geben. Nur wenn bei den neuen Wähler/innen überdurchschnittlich viele oder wenige zur Wahl gehen, ändert sich etwas. Eine positive Entwicklung dürfte jedoch nicht zu erwar­ten sein. Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung der über 60-Jährigen bei knapp 80 %, die der 18- bis 24-Jährigen unter 70 %.

Ändern wird sich jedoch die Höhe der Wahlkampfkostenerstattung. Sie richtet sich nämlich nach der Zahl der Wahlberechtigten und nicht nach der Zahl der abgegebenen Stimmen. Wenn nun zwei Jahrgänge mit rund 1,8 Mio. Personen hinzukommen, steigt die Summe der Wahlkampfkostenerstattung insgesamt um knapp 2 Mio. €.

Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ist keineswegs unumstritten. Eine Umfrage des SPIEGEL zeigt, dass sie von 68% der Befragten abgelehnt wird. Noch nicht einmal un­ter den 16- bis 29-Jährigen findet sich eine Mehrheit (47% ja zu 47 % nein). Alle anderen Altersgruppen lehnen sie ab, am deutlichsten die Personen ab 65 mit 78% Nein-Voten. Schaut man auf die Parteipräferenzen der Befragten, so wird die Senkung des Wahlalters nur von Anhänger/innen der Grünen (71%) und der Linken (59%) befürwortet. Am deut­lichsten ist die Ablehnung bei der Union (6% ja) und der AfD (2% ja). Erstaunlich ist, dass von den Sympathisanten der FDP, die bei der Bundestagswahl überdurchschnittlich viele Jungwäh­lerstimmen erhalten hat, die Senkung des Wahlalters nur von 18% bejaht wird. Für die Ampelkoalition dürfte es daher schwierig sein, die zur Grundgesetzänderung nöti­ge Mehr­heit zu finden.

Offenbar ist das Vertrauen der Bürger/innen in die politische Mündigkeit der jungen Leute nicht sehr groß. Infratest ist 2013 der Frage nachgegangen, wie gut die Wähler/innen über unser Wahlrecht informiert sind. Dabei zeigte sich, dass nur jeder Zweite die Erst- und die Zweitstimme richtig erläutern kann. 40% nannten fälschlicherweise die Erststimme als das für die Zusammensetzung des Bundestages entscheidende Votum. 13% gaben zu, dies nicht zu wissen. Die Erhebung bezog sich allerdings nicht nur auf Jungwähler, son­dern auf die gesamte Bandbreite.

Das Umfrageergebnis überrascht, da die Bereitschaft zum Stimmensplitting ständig gestie­gen ist. In den 60er Jahren lag der Anteil bei unter 10%, von 2000 bis 2017 stiegt er von 20% auf 27%. Die Unterschiede bei den Parteien sind bemerkenswert: 2021 wählten 92% derjenigen, die die Zweitstimme der CSU gaben, auch die/den CSU-Kandidat/in. Bei der CDU waren es 90%, bei der SPD 84% und bei der Linken 69%. Deutlich anders war es bei den Grünen (51%) und bei der FDP (27%). Bei den grünen Wähler/innen entfielen 34% der Erststimmen auf die SPD, bei der FDP landeten mehr als 50% bei der Union.

Interessante Erkenntnisse zum politischen Denken junger Leute bringt die letzte Shell-Ju­gendstudie. 92% der Jugendlichen bezeichnen sich als “politisch interessiert”, und der Anteil derer, die es wichtig finden, sich persönlich politisch zu engagieren, steigt stark an (von 23% in 2010 auf 34% in 2019). Ambivalent ist das Vertrauen in die Politik. Zwar sind 77% mit der Demokratie zufrieden, doch glauben 71% nicht, dass sich “Politiker dar­um kümmern, was Leute wie ich denken”. Die Landtagswahl in Sachen-Anhalt hat ge­zeigt, dass diese Haltung sich im Wahlverhalten niederschlägt. Dort haben nämlich die Grünen einerseits und die AfD andererseits bei jungen Leuten deutlich besser abgeschnitten als bei älteren.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Du schreibst im ersten Absatz: “Während dies Ergebnis der Grünen zu erwarten war, kam es bei der FDP eher überra­schend.” Weniger überraschend wird das, wenn mann (!) den Gendergap bei diesen beiden Parteien berücksichtigt:
    https://www.emma.de/artikel/olaf-gewann-frauenherzen-338955

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