Gewinnt er Statur gegenüber Putin?
Olaf Scholz hat Probleme, sich in die Rolle des Bundeskanzlers einzufinden. In seiner zweimonatigen Amtszeit sanken die Umfragewerte der Partei. Seine Sympathiekurve knickte ein. In der Russland-Krise brachte er sich und Deutschland in Verruf. Zunächst schien er nur untätig. Dann geriet er in Verdacht, unfähig zu sein. Schafft es Scholz, Statur zu gewinnen? Russlands Diktator Putin könnte ihm dabei helfen.
Wie ein dummer Junge
Dem Kanzler läuft seine jahrelang ausgeübte Funktion als Handlanger nach. Dem früheren SPD-Kanzler Schröder diente er seinerzeit als SPD-Generalsekretär. Er hatte dessen umstrittene Agenda-Politik zu verteidigen. Als Finanzminister ging Scholz der CDU-Kanzlerin Merkel brav zur Hand. Heute erscheint er manchmal wie der Assistent des französischen Präsidenten Macron.
Scholz erregt Anstoß, weil er nicht ausspricht, die Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen, wenn Russland die Ukraine angreift. US-Präsident Biden machte weltweit klar, dass es auf Scholz gar nicht ankommt. Greift Russland an, werden die USA verhindern, dass die Pipeline in Betrieb geht, sagt Biden. Er ließ Scholz wie einen dummen Jungen aussehen.
Auch seine Koalitionspartner schnüren ihn ein. Er kann die allgemeine Impfpflicht nicht durchzusetzen, die er – nach einem Meinungswandel – für notwendig hält. Er muss sie im Parlament zerreden lassen, weil sich seine Partnerin FDP bei Impfpflicht-Gegnern und Impfskeptikern profilieren will.
Die Zweifel verstärkt
Abgetaucht war Scholz auch in der Russland-Krise. Als er auftauchte, besserte sich die Lage nicht. Die EU- und die NATO-Staaten stehen der Ukraine bei. Scholz ließ zu, dass an Deutschlands Solidarität Zweifel entstanden und nun wuchern. Er geriet in Verdacht, Russlands Diktator Putin in die Hände zu spielen.
Schröder verstärkt das Misstrauen. Er beschuldigt die Ukraine, Russland zu provozieren. Dass er die Realität verfälscht, sorgt für Empörung. Seine Äußerungen werden immer noch der SPD zugerechnet. Sie fallen auf Scholz zurück. Ihm wird unterstellt, Schröders Ansicht zu teilen und Putin deshalb zu schonen.
Scholz wirkt in seinem neuen Amt ratlos und unbeholfen. Es scheint, als wäre er den Herausforderungen nicht gewachsen. Er tritt diesem Eindruck entgegen. Er hebt hervor, dass er und nicht Schröder der Kanzler sei. Je häufiger Scholz diesen Unterschied betont, desto größer werden die Zweifel.
Ein starkes Widerlager
Er scheint darunter zu leiden, dass Schröder immer noch die Politik der SPD beeinflusst. Seit sie wieder die führende Regierungspartei ist, fällt auf, wie groß das Widerlager ist, das Schröder in ihr findet. Ein Teil der Partei braucht ihn, um sich gegen seine Agendapolitik zu profilieren. Ein anderer empfindet seine US-kritische und russlandfreundliche Haltung als hilfreich.
Schröder gehört nur dem kleinen rechten SPD-Flügel an. Doch gerade dieses Lager der Partei hat es geschafft, wichtige Partei- und Staatspositionen mit Schröders Ex-Gehilfen zu besetzen. Sein früherer Generalsekretär Scholz ist Kanzler, sein früherer Chef des Kanzleramtes, Steinmeier, Bundespräsident und sein ehemaliger Wahlkampfhelfer Klingbeil SPD-Chef.
Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Regierungschefin Schwesig und ihr Vorgänger Sellering wie der frühere SPD-Chef und Brandenburger Regierungschef Platzeck sind Schröder verbunden. In Schwesigs Land endet die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2. Dort ist die russische Energiewirtschaft als Sponsorin bei Vereinen und Festivals sehr aktiv.
Putins Prokurist
Sie koppelt die Ukraine von Einnahmen aus dem Gastransfer ab und soll Russland über Jahrzehnte viele Milliarden Euro einbringen. Dass sie gebaut werden konnte, verdankt Putin Schröder. Er half Putin Anfang des Jahrhunderts, sich als Russlands Präsident zu stabilisieren. Schröder trug dazu bei, Russlands Pleite zu verhindern. Er erließ dem kriselnden Land 7,1 Milliarden Euro Schulden.
Er sorgte auch dafür, dass der Absatzmarkt für Russlands Energiekonzerne wuchs. Er erfüllte den Wunsch der deutschen Industrie. Sie will ihren wachsenden Energiebedarf sichern. Sie setzt darauf, dass Putin ihren Energiehunger stillen und ihr lukrative Aufträge zur Entwicklung des Landes verschaffen wird.
Russlands Präsident revanchierte sich bei Schröder. Er machte ihn nach dessen Abwahl 2005 zum Vorsitzenden des Gesellschafterausschusses der Nord Stream AG, zum Präsidenten des Verwaltungsrats bei der Nord Stream 2 AG und zum Aufsichtsratschef beim staatlichen Energiekonzern Rosneft. Der deutsche Alt-Bundeskanzler wurde Putins Prokurist.
Immer stärkere Fessel
Während Putin sein diktatorisches Regime mit Schröders Hilfe festigte, arbeitete Deutschlands Politik und Wirtschaft darauf hin, sich mit dem Bau der Pipeline Nord Stream 2 noch abhängiger von Russland zu machen. Ginge sie in Betrieb, würde diese Fessel noch stärker werden.
Den Baubeschluss drückte Schröder gegen den Widerstand etlicher EU-Partner durch. Sie befürchteten, Russland werde die Leitung dazu nutzen, die osteuropäischen EU- und NATO-Staaten und die Ukraine zu schwächen und sie unter Druck zu setzen. Diese Befürchtung hat sich bestätigt.
Putin belohnt Ungarns Regierungschef Orban, der sich Russland andient, mit niedrigen Gaspreisen. Dagegen wird es teuer für jene, die sich gegen Putin quer legen. Er reduziert die Gasmengen in den Speichern. Er treibt den Gaspreis hoch und schürt die Angst vor Gasmangel. Er will erreichen, dass die Pipeline Nord Stream 2 trotz der Kritik und des Widerstandes aus EU und NATO gestartet wird.
Als Kriegstreiber abgestempelt
Dabei geht ihm Schröder zur Hand. Putin will ihn nun auch in den Aufsichtsrat des Energiekonzerns Gazprom hieven. Dort wird er den Platz erhalten, den bisher die Familie des ehemaligen kasachischen Autokraten Nasarbajew hielt. Sie wurde nach Unruhen kürzlich entmachtet. Putin muss Kasachstan nun nicht mehr über lukrative Posten an sich binden. Er hat dort wie in Weißrussland und an der Grenze zur Ukraine Militär stationiert.
Mit Säbelrasseln hat er sich aus der Isolation befreit, in die er sich mit Aggressionen manövrierte: Er half dem EU-Gegner Trump, US-Präsident zu werden, finanzierte EU-Feinde in Europa, fiel in Georgien, Moldau und in die Ukraine ein und hat den Abschuss einer Passagiermaschine sowie Mordanschläge gegen Abtrünnige, Gegner und Oppositionelle in London, Berlin und Russland zu verantworten.
Seit er die Vermutung nährt, er könnte die Ukraine angreifen, wird er noch viel stärker als Aggressor und Kriegstreiber abgestempelt. Die NATO- und EU-Staaten führen seinen Helfern und Gegnern in Russland vor Augen, dass ein weiterer Angriff auf die Ukraine harte Sanktionen gegen Russland nach sich zöge. Gleichzeitig aber bemüht sich alle Welt, mit ihm ins Gespräch zu kommen, um einen Angriff auf die Ukraine zu verhindern.
Unterpfand für den Truppenabzug
Einen ersten Erfolg kann Putin bereits verbuchen. Vor dem Truppenaufmarsch verlangten die USA und eine Reihe von EU-Staaten immer wieder, Deutschland solle Nord Stream 2 stoppen. Immer wieder drohte der Bau der Pipeline zu scheitern. Ihr Start wurde für Russland zur Hängepartie mit großen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Risiken.
Seit dem Truppenaufmarsch ist klar, dass es nicht mehr Deutschland, die NATO oder die USA in der Hand haben, ob die Pipeline anläuft. Sie haben die Entscheidung aus der Hand gegeben. Sie machten den Start der Pipeline zum Unterpfand für den Rückzug der Truppen. Mit ihrem Aufmarsch hat es Putin geschafft, die Entscheidung über den Start der Pipeline auf sich zu verlagern.
Greift er die Ukraine erneut an, bleibt die Pipeline tot. Zieht er die Truppen zurück, wird sie anlaufen. Ihr Betrieb hängt nicht mehr von strategischen Erwägungen der EU- und der NATO-Staaten ab, sondern von Putins Verhalten. Dass er Schröder bei Gazprom etabliert, kann als Signal verstanden werden, dass Putin die Pipeline in Gang bringen will und die Voraussetzungen dafür schaffen wird.
Handschlag in der ersten Reihe
Es ist nicht auszuschließen, dass Putin seinen Schachzug, mit dem Truppenaufmarsch seine Isolation zu durchbrechen und den Betrieb der Pipeline durchzusetzen, mit Schröder beraten hat. Wie wichtig der Alt-Kanzler für Putin und Russland ist, demonstrierte der Diktator nach seiner Wiederwahl 2018.
An der Spitze der vielen Würdenträger, die an seiner Vereidigung teilnahmen, begrüßte er per Handschlag nur die drei Gratulanten in der ersten Reihe. Dort standen das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I. und der damalige Ministerpräsident Medwedjew. Beide flankierten den Ex-Kanzler Schröder.
Russland braucht die Einnahmen aus der Pipeline dringend. Der Truppenaufmarsch ist kein Zeichen von Stärke, sondern Ausdruck von Schwäche. Russlands Perspektiven sind schon ohne Krieg nicht besonders gut. Es ist militärisch sehr stark, doch wirtschaftlich schwach. Sein Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als das des krisengeplagten Italien.
Zwischen China und Europa eingezwängt
Russlands Militär verschlingt viel Geld. Es fehlt zur Modernisierung der veralteten Wirtschaft und der schwachen Infrastruktur. Die Armut wächst. Die Geburtenrate sinkt. Die Bevölkerung schrumpft. Der Klimawandel verursacht riesige Schäden. Putins Ansehen ist stark gesunken. Er hat die Repression verschärft. Ein großer Teil der Jugend hat sich von ihm abgewandt und orientiert sich an Europa.
In Nachbarstaaten, die der früheren Sowjetunion angehörten, erodieren längst die autokratischen Herrschaftsstrukturen. In Weißrussland und Kasachstan halten sich die Regime nur noch mit Gewalt gegen die aufbegehrende Bevölkerung. Putin und seinen Machtzirkeln müssen die Aufstände dort wie Menetekel eines ähnlichen Unheils auch in Russland erscheinen.
Die Befürchtungen der Herrschaftscliquen um Putin, ihre Macht könnte ebenfalls erodieren, sind offenbar gewachsen, seit China einen riesigen Aufschwung erlebt und die EU wie die USA ihre Wirtschaft stärker auf die Belange des Klimaschutzes ausrichten. Sie stecken riesige Milliardenbeträge in Modernisierungsprogramme, die den Verbrauch fossiler Brennstoffe reduzieren sollen.
Rüstungsniveau gefährdet
Greifen diese Programme, wird Europa den Verbrauch von Öl und Gas immer stärker reduzieren. Russlands Wirtschaft, die auf dem Export von Rohstoffen basiert, wird weniger einträglich werden und noch weiter hinter die der EU, der USA und Chinas zurückfallen. Russland wird dann sein Rüstungsniveau kaum halten können.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Russland mit der EU und der NATO Absprachen über Sicherheitsfragen treffen will. Schon heute hat es Mühe, seine Ambitionen im Nahen Osten und in Afrika zu finanzieren. Ein Krieg in der Ukraine würde Russland Verluste bringen, die es sich nicht leisten kann. In einem Krieg würden viele Russen sterben. Große Teile der Bevölkerung würden ihn wohl nicht mittragen.
Ein Angriff, der Putins Machtgefüge stützen soll, könnte ins Gegenteil umschlagen. Schon jetzt zeigt sich Widerstand gegen sein Vorgehen, sich über das Militär international Gehör zu verschaffen und seine Position im Inland zu festigen. In nationalistischen Militärkreisen wird ein Krieg gegen die Ukraine abgelehnt, Putin als gescheitert betrachtet und sogar sein Rücktritt gefordert.
Zugang zu Putin
Die Gespräche der NATO- und EU-Staaten mit Russland brachten bisher keinen Fortschritt. Der Konflikt steckt in der Sackgasse. Putin hält die Truppenpräsenz aufrecht. EU- und Nato-Staaten halten an den Sanktionsdrohungen fest. Putin verstärkte die Manöver seiner Truppen. Die USA wie viele EU-Staaten legen ihren Bürgern die Ausreise aus der Ukraine nahe. Die Kriegsgefahr ist gewachsen.
In dieser zugespitzten Lage reist Scholz nach Moskau. Ihm könnte gelingen, was Biden und Macron bisher nicht schafften: Putin einen Weg zu weisen, der es ihm ermöglicht, sich zu mäßigen. Er wird registriert haben, dass Scholz den Ball in der Krise stets flach gehalten und dabei selbst Schaden für sich in Kauf genommen hat. Schröder dürfte ihm den Zugang zu Putin erleichtern.
Kämen Scholz und Putin ins Geschäft, könnten beide gewinnen. Mäßigt sich Putin, ließe sich über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands, der EU und der NATO leichter reden. Beide Seiten existieren auf dem gleichen Kontinent. Beide nehmen Schaden, solange sie sich abgrenzen und attackieren. Beide könnten von friedlicher Kooperation profitieren.
Unvermeidbarer Wandel
Ein solcher Wandel setzt in Russland die Einsicht voraus, dass es das Land auf Dauer kaum schaffen kann, sich aus eigener Kraft als Weltmacht zu behaupten. Der Konflikt um Nord Stream 2 müsste Putin und seinen Helfern vor Augen geführt haben, dass sich Russlands Autokratie wandeln muss. Diese Entwicklung ist unvermeidbar. Gelingt ihr der Schritt nicht, wird Russland schwächer und sie Opfer des Wandels werden.
Das Land hat die Wahl, sich auf China oder Europa auszurichten. Einige diktatorisch regierte arabische Staaten unternehmen Schritte zur Öffnung ihrer Gesellschaften. Sie suchen nach Auswegen aus der Abhängigkeit von Öl und Gas und kooperieren sogar mit dem technologisch überlegenen Erzfeind Israel. Sie scheinen zu begreifen, dass Aggression nicht weiterführt.
Dass diese Erkenntnis auch bei Putin einsetzt, ist bisher nicht zu erkennen. Sie zu fördern, ist die große Aufgabe, die sich Scholz samt den EU- und NATO-Staaten in den nächsten Jahren stellen wird. Schafft es der Kanzler, Zugang zu Putin zu finden, könnte der Besuch in Russland für Scholz der erste Schritt auf dem Weg sein, ein Staatsmann zu werden.
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