Glaubt man den amerikanischen Geheimdiensten und den Lagebeschreibungen und Drohungen der NATO, droht bis Mittwoch dieser Woche ein Angriff Russlands auf die Ukraine. Anlässlich dieser Zuspitzung und der Darstellungen der Geschichte des Konflikts wagen wir hier ein Experiment: Wir veröffentlichen in den kommenden Tagen ältere Beiträge von Autoren des “Extradienst”, die in den Jahren von 2014 an geschrieben wurden, um an damals bekannte, in der aktuellen “Vorkriegsberichterstattung” aber vergessene oder unterbewertete Fakten zu erinnern und einen Beitrag zu Verständnis und Einordnung der aktuellen politischen Entwicklung ermöglichen.

40 Mrd. Dollar für Oligarchen und rechtsextreme Chaoten ?

von Roland Appel, verfasst am 3. September 2015

Was war das für ein monatelanges Theater um Griechenland und um den “Grexit”. Die Griechen, allen voran die linksliberale Regierung Tsipras würden die wirtschaftlichen Spielregeln der EU missachten, sie würden die griechischen Renten – dort gibt es keine Sozialhilfe, muss Mensch wissen – nicht rigoros genug kürzen, nicht ausreichend Viele aus dem öffentlichen Dienst entlassen und sogar nach 220.000 Entlassungen etwa 20.000 neue Leute einstellen – ungeheuerlich, etwa um die Steuern ausrechnen, zu erheben oder erstmals danach fahnden zu können. All das zu tun, was die korrupten Vorgängerregierungen von Pasok und Nea Dimokratia niemals getan haben – etwa bei den Reedern und anderen Superreichen Steuern zu erheben. Was haben sich Wolfgang Schäuble und andere selbsternannte “Säulen der Europapolitik” wie Seehofer und Söder, vor allem aber die “Bild”-Zeitung keine Gelegenheit entgehen lassen, den faulen Griechen die neoliberalen Tugenden der EU vorzuhalten, Streichung der Sozialleistungen, Verkauf von Gemeineigentum wie den Flughäfen und anderem öffentlichen Vermögen als alternativlos darzustellen.

Griechenland disziplinieren, Ukraine hofieren

Während Merkel, Schäuble und Co. gegen Griechenland mobilisierten, wurde ein Staat, dem gegenüber Zweifel und Misstrauen angebracht sind, nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit Nutznießer eines Geldsegens von EU, IWF und privaten US-Geldgebern: Die Ukraine. Diesem Kriegsstaat wurden angeblich 20% seiner Auslandsschulen durch US-Fonds erlassen, meldete am 28.8.2015 der Deutschlandfunk. Sonst hat dies kaum eine überregionale Zeitung interessiert. Was dies in absoluten Zahlen bedeutet, sucht die neugierige Bürgerin nahezu vergeblich. Die Neue Züricher Zeitung schreibt etwas von 3,6 Mrd. Dollar Schuldenerlass von privaten Gläubigern. Das kann schon nicht stimmen, denn wenn 3,6 Mrd. Dollar 20% Schulden der Ukraine wären, hätte diese nur rund 18 Milliarden Dollar Schulden. Das kann nicht stimmen, denn sie erhielt allein 2014 erst 17 Milliarden Dollar IWF-Kredite, darunter auch fünf Milliarden von Russland sowie Ende des Jahres 25 Milliarden Euro von der EU. Nun berichtete der DLF selbst, dass die Ukraine mit 92% ihres Bruttoinlandsprodukts verschuldet sei. Bei einem Bruttoinlandsprodukt, das Wikipedia mit 178 Mrd. Dollar für 2013 angibt, wären dies rund 73 Milliarden US-Dollar, was weit realistischer klingt. 20% wären dann 14,6 Milliarden Dollar und es stellt sich die Frage, wer hier die Zahlen schönt, um der Ukraine weiter Kredite zukommen zu lassen?

Massive Subventionen aus den USA

Es wäre außerdem spannend zu wissen, was das denn für private US-Fonds sind, die freiwillig auf 3,6 Mrd. Dollar verzichten? Aus Altruismus? Aus politischem Kalkül und wenn ja, wessen? Aus Mitteln des Pentagon? Jedenfalls war der Schuldenerlass eine entscheidende Voraussetzung, weitere Kredite des IWF für die Ukraine über 40 Milliarden Dollar überhaupt bewilligen zu dürfen. Nun ja, nicht nur Griechen scheinen massiv zu tricksen! Juli 2015 prognostizierten Goldman und Sachs, dass die Ukraine ihre zum 24. des Monats fällige Zinszahlung von 120 Millionen Dollar nicht leisten könne und die Rating-Agentur Standard & Poor’s hatte die Ukraine im April auf CC eingestuft – man fragt sich allerdings angesichts des fortdauernden Krieges, wieso dieses Rating denn besser ausfällt, als das des CCC- bewerteten Griechenland? Gibt es da verdeckte Bürgschaften und Finanzaktionen, von denen die europäische Öffentlichkeit nichts erfährt?

Oligarchenparadies

Alles das sind Fragen, die 2015 niemanden zu interessieren scheinen. So hat der ukrainische Präsident und Schokoladenkönig Poroschenko, dessen Privatvermögen auf über 350 Mio. Euro geschätzt wird, 2014 vor seiner Wahl erklärt, er werde im Falle seiner Wahl zum Präsidenten den Chefsessel seines Unternehmens räumen und das Firmenimperium verkaufen. Nichts davon ist passiert. Und wir denken an Rinat Achmetow, Oligarch aus der Ostukraine, 18 Milliarden Dollar schwer. Die Reichsten der Bundesrepublik Deutschland, die Brüder Albrecht (Aldi) mussten für ihre 19 bzw. 21 Milliarden über 50 Jahre schuften. Ihre Kollegen in der Ukraine haben dasselbe in weniger als zehn jahren geschafft – kann so etwas in einer niedergehenden, abgewrackten Volkswirtschaft mit rechten Dingen zugehen?

Wo sind, so fragt man sich in der deutschen Öffentlichkeit leider nicht, die 25 Milliarden Euro geblieben, die die Ukraine bereits bis zum vierten Quartal 2014 von der EU bekommen hat, wo die 17 Mrd. Dollar des IWF vom Juni 2014? Hier zeichnet die “Bild” Zeitung kein Zerrbild von den faulen Ukrainern beider Seiten, die nichts arbeiten wollen, sondern mit Waffen rumlaufen und am liebsten einander gegenseitig und die eigene Zivilbevölkerung massakrieren und von denen die einen Europa und die NATO, die anderen gerne Russland gleich mit in den Krieg hineinziehen würden. Das Bild mag ja nicht ganz zutreffen, aber es hat wahrscheinlich mehr mit der Realität zu tun, als das, was der breiten Öffentlichkeit seit Monaten über Griechenland vermittelt wird! Angesichts der Verteilung des Reichtums in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion und der üblichen Oligarchenherrschaft sowie den Vorbereitungen für eine Fortführung des Krieges gegen die Ostukraine drängt sich doch die Frage geradezu auf, warum die Ukraine keinen der Oligarchen zur Kasse bittet und so immer weiter in eine finanzpolitische Schieflage kommt?

Lage besorgniserregend

Die aktuelle politische Lage muss zu Besorgnis Anlass geben. Warum hat der ukrainische Präsident bei seinem Berlin-Besuch darauf bestanden, dass Russland nicht an den Gesprächen beteiligt wird? Warum sind die europäischen Partner darauf eingegangen? Bestimmt nicht, weil Poroschenko ihnen eine neue friedenspolitische Kursänderung seiner Politik erläutern wollte. Das bedeutet, dass die Ukraine im Herbst und Winter diesen Jahres vermutlich von den Nationalisten und rechtsextremen Freischärlern des “Rechten Sektor” in eine Verschärfung des Krieges hineingetrieben wird. Zu ersten Exzessen ist es schon gekommen. Das Ukrainische Parlament, hat gestern im Hinblick auf eine Deeskalation des Konflikts ein Gesetz in erster Lesung behandelt, das der Ostukraine eine Teilautonomie zubilligt, mit der Möglichkeit, selbst Polizeikräfte aufzustellen, wie es die Bundesländer in Deutschland praktizieren.

Regierung im Pakt mit Neonazis

Dieses an sich demokratische Verfahren wurde mit Handgranaten und brutaler Gewalt von den militanten Nationalisten und Rassisten des “Rechten Sektor” gegen Unschuldige beantwortet. Die ukrainische Regierung Poroschenko koaliert und paktiert nach wie vor mit diesen den ultrarechten Kräften zugerechneten Gewalttätern des “rechten Sektor”, um mit ihnen ihre Mehrheit zu behalten. Neonazis des “Svoboda” stellen nach wie vor Minister.

Und Präsident Poroschenko kapituliert vor dieser Nötigung des Parlaments, wie an seinen beschwichtigenden Äußerungen nach dem tödlichen Handgranatenangriff auf die Polizei zu hören war, dass man noch genau prüfen werde, ob diese Autonomierechte im Dezember wirklich in Kraft gesetzt würden, dafür seien schließlich 300 Stimmen von Abgeordneten notwendig. Wie eine Befürwortung des Gesetzes klang das nicht. Trotzdem bekommt die Ukraine weiter die politische Unterstützung der EU, zu deren 25 Milliarden Euro kommen nun 40 Milliarden Dollar Kredit des IWF.

Griechenland die Peitsche, der Ukraine Zuckerbrot

Diese Politik des zweierlei Maß des Westens könnte sich noch als Sargnagel der europäischen Einheit entpuppen. Die gewissenlose Zerstörung der Werte, sozialer Gleichheit, von Menschenrechten und einem Europa der Bürger darf nicht toleriert werden. Es kann nicht angehen, dass die Griechen als Freunde und Partner das scharfe Schwert der neoliberalen Austeritätspolitik zu spüren bekommen, während Oligarchen und dubiose Geschäftemacher, mafiöse Unternehmer und Neonazis wie der ukrainische “Rechte Sektor” unbehelligt ihr Unwesen treiben, die Regierung Poroschenko erpressen und dafür noch mit Krediten belohnt werden. Der Terror dieser Rechtsextremisten hat in Krawallen und Angriffen gegen das Ukrainische Parlament, bei denen ein Mensch durch eine Handgranate getötet wurde, einen Höhepunkt gefunden. Wenn die EU weiter den nationalistischen Mob des “rechten Sektor” und ihre politische Speerspitze “Swoboda” in der Nähe des Ukrainischen Präsidenten akzeptiert, verleugnet sie die demokratischen Grundprinzipien, gegen alle Werte wie Frieden, Demokratie, sozialer Teilhabe, für die das demokratische Europa der Versöhnung von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, von Helmut Schmidt und Giscard d’ Estaing, Francois Mitterand und Helmut Kohl einmal stand. Die Ukraine gehört eben nicht, anders als die Kanzlerin in ihrer letzten Rede hierzu behauptete, zur “Wertegemeinschaft” Europas.

Von wegen “Wertegemeinschaft”

Die Ukraine sollte gleichwohl aus humanitären Gründen nicht ihrem Schicksal überlassen werden. Aber wieso werden die Kredite und Finanzmittel nicht mit harten Auflagen verbunden, etwa die Faschisten von “Svoboda” aus der Regierung zu entlassen, den “Rechten Sektor” zu entwaffnen? Und eines muss auch klar sein und von Außenminister Steinmeier auch ausgesprochen werden, wenn es schon Merkel nicht tut: Die Ukraine hat in der EU und in der NATO nichts zu suchen – sie teilt weder unser Verständnis von Demokratie, noch kann ihre Gesellschaft der Oligarchen und Superreichen einerseits und marodierenden Banden von Neonazis und Freischärlern andererseits auf absehbare Zeit ein Partner der EU und ihrer Werte sein. Das bedeutet nicht, dass sie Russland zum Fraß vorgeworfen werden soll, aber klarer als bisher muss die Kanzlerin, muss Europa und muss die NATO deutlich machen, dass sie sich von solchen Kräften nicht instrumentalisieren lässt und dass das dumme Gerede aufhören muss, dass die Ukraine in die EU oder gar in die NATO aufgenommen werden könnte.

Kalten Krieg verhindern

Und wenn Regierungen in Polen oder in Teilen des Baltikums dieser Ideen anhängen, dann muss die Kanzlerin Hausaufgaben machen, verdeutlichen, dass es nicht im Interesse einer friedlichen Entwicklung Europas sein kann, mit dem Säbel zu rasseln und einen neuen kalten Krieg zu schüren. Wenn sie dies bisher unterlassen hat, ist das ein schwerer außenpolitischer Fehler, der sich in den kommenden Jahren im schlimmsten Falle durch eine Gefährdung des Friedens in Europa rächen könnte. Es wäre spannend zu wissen, wofür die Ukraine die 40 Mrd. Dollar, an denen der IWF beteiligt ist, im Einzelnen ausgeben wird – etwa für Waffen und Munition oder für Investitionen in die Infrastruktur und was davon in die Taschen der Oligarchen fließt. Die “Bild-Zeitung” wird da vermutlich nicht mit dem gleichen Eifer nachhaken, wie bei der Beschimpfung der Griechen. Es hätte auch gewundert, denn so kennen wir sie seit 1968.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net