Glaubt man den amerikanischen Geheimdiensten und den Lagebeschreibungen und Drohungen der NATO, droht bis Mittwoch dieser Woche ein Angriff Russlands auf die Ukraine. Anlässlich dieser Zuspitzung und der Darstellungen der Geschichte des Konflikts wagen wir hier ein Experiment: Wir veröffentlichen in den kommenden Tagen ältere Beiträge von Autoren des “Extradienst”, die in den Jahren von 2014 an geschrieben wurden, um an damals bekannte, in der aktuellen “Vorkriegsberichterstattung” aber vergessene oder unterbewertete Fakten zu erinnern und einen Beitrag zu Verständnis und Einordnung der aktuellen politischen Entwicklung ermöglichen.

Mit der NATO in den Kalten Krieg?

Von Roland Appel, verfasst am 12.6.2016

Man rieb sich die Augen und wunderte sich: Letzte Woche fand unter dem Namen „Anakonda“ ein Manöver von NATO-Staaten und in Polen statt. Anakondas sind, so das Lexikon, in Südamerika beheimatete Würgeschlangen, die in tropisch feuchten Gefilden am Rande von Gewässern hausen. Sie lauern unbeweglich auf ihr Opfer, beißen zu, erwürgen und verschlingen es, um sich anschließend der Muße des Verdauens hinzugeben. Schöne Beschreibung für ein Manöver, dessen Anlass, Sinn und politische Stoßrichtung ich doch gerne erklärt bekommen hätte.

Erklärungsversuche

Erster Versuch: Der TV-Auftritt des finster blickenden US-Generals in Tarnbefleckung hat mich nicht weiter gebracht. Er faselte etwas von gemeinsamer Übung, die deutlich machen solle, dass die NATO gegen einen Angriff zusammen steht. Spätestens seit dem Abschuss einer russischen MIG durch einen türkischen Abfangjäger ist das glücklicherweise nicht mehr pauschal so gültig. Noch lassen sich US-Streitkräfte und Europäer nicht vom Gernegroß Erdogan in den Konflikt treiben. Vielmehr hat es im Zusammenhang mit den Bombenangriffen des größenwahnsinnigen Sultänchens auf die gegen den IS kämpfenden Kurden wohl die Drohung der US-Amerikaner gegeben, notfalls auch türkische Maschinen abzuschießen, wenn diese nicht ihre Angriffe gegen Verbündete einstellen.

Neuer Versuch: Soweit es sich hier um Soldaten aus Deutschland, den baltischen Staaten, Frankreichs und Benelux-Staaten handelte, könnte man sich ja bei einem Manöver wenig denken – mit Polen, Ungarn und Tschechien, der Slowakei und anderen ehemaligen Ostblockstaaten schiene mir allerdings ein “Manöver” mit Politikern zur Einübung von Demokratie derzeit wesentlich angebrachter.

Eine Machtdemonstration ja – aber wogegen und wofür?

Einunddreißigtausend Soldaten aus vierundzwanzig europäischen Staaten spielen in nächster geographischer Nähe der Ostgrenze der NATO Krieg. Solche Gigantomanie des größten Manövers westlicher Truppen in Europa seit dreißig Jahren ist beunruhigend. Dabei werden nicht nur die „schnellen Eingreiftruppen“ erprobt, sondern auch jene 5.000 Mann „ultraschnelle Engreiftruppen“, die erst kürzlich aufgestellt wurden. Noch beunruhigender: Schon seit einiger Zeit findet an der NATO-Ostgrenze in Polen ein „rotierende Stationierung“ von US-amerikanischen, deutschen, französischen und englischen Truppenkontingenten statt. Dieses „rollierende System“ ist nichts anderes, als ein politischer Kunstgriff, den die NATO auf Initiative Deutschlands und der USA unternimmt, um zumindest formal den Absprachen und Abkommen zwischen der NATO und der ehemaligen Sowjetunion nachzukommen. Danach werden nach der offiziellen Beendigung des „Kalten Krieges“ keine Truppen von NATO-Staaten an deren Ostgrenze stationiert – wie auch nicht auf der Gegenseite. Mit Vertrauensbildung hat der Kunstgriff wenig zu tun.

Die Ukraine im Manöver mit dabei

Ein WDR-Journalist sprach im Radio vom “Ernstfall“ und von „welchem Feind auch immer“(!). “Aus dem Norden” käme der potenzielle Angreifer in diesem Manöver, hieß es im ZDF. Nun ja, da Georgien auch zu den kollektiven Metall-, Treibstoff- und Leibesübungsspielen eingeladen wurde, gibt “im Norden” schon einen gewissen Hinweis. Denn nördlich von Georgien am Schwarzen Meer liegt – Russland. Und weil es mit der Beschränkung auf die NATO nicht so ernst genommen wurde, ist die Ukraine gleich mit dabei. Jener Staat, der von Oligarchen beherrscht wird, die innerhalb von etwas mehr als zehn Jahren persönlich Milliarden und hunderte von Millionen aus der ehemaligen Sowjetrepublik herausgepresst haben, ohne sich einen Deut um Korruption zu kümmern. Der Staatshaushalt ist anhaltend bankrott und wird inzwischen überwiegend aus EU-Mitteln finanziert. Die Milliardäre Rinat Achmetow (18 Milliarden Dollar), Schokoladenkönig und Präsident Poroschenko und vor allem der zweitreichste Mann des Landes, Wiktor Pintschuk, fischen politisch in eher trüben Gewässern.

Zweifelhafte Freunde diesseits und jenseits des Atlantik

So hat etwa Wiktor Pintschuk, der seinen Reichtum durch die Heirat mit der Tochter des zweiten Ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma im Wege der Privatisierung von Stahlkonzernen machte, vor Jahren eine “Wiktor Pintschuk Foundation” gegründet, die in großem Stil politische Projekte finanziert, darunter zwischen 2009 und 2013, während ihrer Amtszeit als Außenministerin, Hillary Clinton mindestens 8,6 Millionen Dollar jährlich für ihre “Clinton Stiftung” zukommen ließ. Diese “Clinton Stiftung” spielt derzeit eine äußerst dubiose Rolle und ist Gegenstand der Untersuchungen aufgrund der etwas verharmlosend genannten “E-Mail-Affäre” der kommenden demokratischen Präsidentschaftskandidatin. [1] Über ihren privaten Server, über den sie auch Amtsgeschäfte führte und damit vermutlich gegen Bestimmungen der “nationalen Sicherheit” verstieß, wurden wohl auch die Geschäfte der “Clinton-Stiftung” abgewickelt. Eine von ukrainischen Oligarchen gekaufte US-Präsidentin? Solche Verbindungen lassen nicht nur für eine mögliche Präsidentschaft des Kryptofaschisten Donald Trump das Schlimmste befürchten – man beginnt sich zu fragen, wie schlimm die derzeit wahrscheinlichste Alternative ist.

Beruhigungspillen fürs Baltikum?

Noch ein Versuch: Im Interesse einer internen Festigung freundschaftlicher Beziehungen und zur Beruhigung historisch verständlicher, gleichwohl überspitzter Sorgen bei den Regierungen baltischer Staaten und Polens könnte es verständlich sein, solch gemeinsame Manöver abzuhalten. Allerdings sind gemeinsame Übungen die eine, dazu ausgebrachte Erklärungen die andere Seite der Medaille. Da fällt als außenpolitisches Signal auf, dass laut der neuesten NATO-Doktrin Russland künftig als „Risikostaat“ eingestuft werden soll. Und diese Manöver finden statt, kurz bevor der nächste NATO-Gipfel im Juli zusammentreten wird. Zufall?

Manöver als Wendepunkt der NATO

Der Russland-NATO-Rat dagegen, der am Ende des Kalten Krieges eingerichtet wurde, um gemeinsame Annäherung, aber auch im Krisenfalle direkte Kontakte zu pflegen, hat seit zwei Jahren nicht getagt. Kein gutes Zeichen in Zeiten, in denen immerhin die Ukraine-Krise 2014 stattgefunden hat. Nicht miteinander zu reden, dass sollten eigentlich alle Atommächte und die Staaten Mitteleuropas seit der Kuba-Krise 1962 wissen, kann unabsehbare Folgen haben. Man muss kein „Russlandversteher“ sein, um die Manöver des Jahres 2016 als einen Wendepunkt in der Politik der NATO- Friedenspolitik in Europa wahrzunehmen. Ja, die Bundeswehr hat heute nicht mehr 5.000, sondern keine 500 Panzer (eine Angriffswaffe, übrigens) – aber in den Atomarsenalen der USA und Russlands liegen immer noch genügend Vorräte, um fünf bis sechs Planeten von Erdgröße zu entvölkern und in Stücken ins Weltall zu blasen.

Von NATO-Osterweiterung war nie die Rede

Seit den Ergebnissen der 2+4-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten, an deren Ende die Vereinigung stand und ein Friede in ganz Europa zum Greifen nahe erschien, ist viel geschehen. Länder, von denen sich weder Michael Gorbatschow, noch sein Nachfolger Boris Jelzin jemals geträumt hätten, nämlich neben Litauen, Lettland und Estland auch Polen, Ungarn und die Slowakei sind inzwischen Mitglieder der EU und der NATO geworden und stehen direkt oder nahe an der Grenze zu Russland. Diese Länder sind, so zeigt sich in den letzten Jahren, Demokratien im Aufbau, aber eben auch keine gefestigten Demokratien. Wenn es deshalb zutrifft, dass derart tiefgreifende Strategiewechsel von der NATO geplant sind, dann kann es überhaupt nicht angehen, ohne dass eine politische Diskussion darüber hier und jetzt erfolgt und geführt wird. Vor allen der Außenminister, den die SPD stellt, ist hier gefragt, aber auch der Vizekanzler und Parteivorsitzende der SPD.

Aggressivität zur Ablenkung von Demokratiedefiziten in Europa?

Seit der Krise in der Ukraine werden die Staaten Europas nicht müde, Russland wegen seiner Demokratiedefizite anzuprangern. Zurecht, denn es handelt sich dort nach wie vor um eine “gelenkte Demokratie”, die mit freiheitlichen Rechtsstaaten, wie sie in der alten EU bis 1989 Mitglied waren, nichts zu tun hat. Aber rechtfertigt dies, dass die neue erweiterte EU mit dem Finger auf Russland zeigt und die eigenen Defizite beschönigt? Die innenpolitische Situation in vielen der neuen EU- Länder zeigt vielmehr, dass es im Bezug auf Demokratie, Pressefreiheit und Bürgerrechte dort erhebliche Defizite gibt.

In den baltischen Staaten werden Minderheiten der Bevölkerung in ihren demokratischen Rechten behindert, diskriminiert, ihnen die Staatsbürgerschaft und zum Teil das Wahlrecht entzogen. In Ungarn hat die rechtsextremistisch-populistische Regierung Orbans die Pressezensur eingeführt und verschärft, verstößt gegen EU-Recht und weigert sich beharrlich, die internationalen humanitären Flüchtlingskonventionen zu befolgen, die sie mit dem EU-Beitritt unterzeichnet hat. In Polen hat eine nationalistische Regierung mit ihrem Amtsantritt das Verfassungsgericht rechtswidrig entmachtet und weigert sich ebenfalls, die „Genfer Flüchtlingskonvention“, aber auch nur den EU-Flüchtlingsschlüssel zu befolgen. Sie hat zudem nach ihrem Wahlsieg 2015 viele Posten staatsstreichartig mit willfährigen Parteigenossen besetzt. In Rumänien und Bulgarien gibt es nach wie vor erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Gerichtsbarkeit und Bekämpfung von Korruption. Roma werden dort, wie in Ungarn auch, systematisch diskriminiert.

Mit Georgien, Frontstaat zu Russland am Schwarzen Meer und der Ukraine, Oligarchenstaat, dessen Regierung weder die Korruption in den Griff bekommt, noch Anstrengungen unternimmt, die sozialen Ungerechtigkeiten und die Ausplünderung des Landes durch korrupte Eliten zu unterbinden, nehmen an diesem Manöver zwei Länder teil, die weniger für friedliche Entwicklung, als für zweifelhafte militärische Abenteuer stehen.

Wer entscheidet in Europa eigentlich über politische Eskalation oder Deeskalation?

Diese Gesamtlage nutzen offensichtlich einige “NATO-Strategen” – um in Europa einmal kräftig mit dem Säbel zu rasseln. Was tut eigentlich unser SPD-Außenminister Walter Steinmeier? Gar nichts, scheint es. Was sagt Kriegsministerin von der Leyen dazu? Sie fordert mehr Geld für die Rüstung. Offensichtlich spricht man im Kabinett nicht miteinander über den künftigen Kurs und der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist unprofessionell und nicht gut, denn die gewachsene Souveränität und Verantwortung, die das wiedervereinigte Deutschland in Europa hat und wahrnimmt, muss politisch begründet werden. Und da kommt wieder eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands als Fernziel ins Spiel. Der erste Schritt wäre, Russland ökonomisch wieder einzubeziehen und nicht weiter vom G7-Gipfel auszuschließen. Europa und seine Außenpolitik könnten zudem ein Thema des Wahlkampfes 2017 werden, bei dem die SPD vielleicht einmal wieder punkten kann – wenn sie sich eine Meinung leistet.

Verselbständigter militärisch-industrieller Komplex NATO?

Die NATO wurde gegründet, um Demokratie und Freiheit gegen Sowjetstalinismus und den “Warschauer Pakt” zu verteidigen. Den “Warschauer Pakt” gibt es nicht mehr, Russland ist kapitalistisch und hat viel von seiner militärischen Bedeutung verloren. Trotzdem droht ein neues Wettrüsten. Uschi von der Leyen hat für 2017 eine Aufstockung der Bundeswehr und neue Waffen gefordert und bekommen. Mit der Cyberarmee, die sie aufstellen will, verstößt sie möglicherweise sogar gegen das verfassungsrechtliche Verbot des Angriffskrieges. Im Windschatten von Flüchtlingskrise, Terrorangst und Populismus regt sich nun der jahrelang ökonomisch schlummernde militärisch-industrielle Komplex, vor dem der scheidende US-Präsident Dwight d. Eisenhower 1961 gewarnt hat:

” In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the militaryindustrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist. We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes.”

“Auf allen Regierungsebenen müssen wir uns gegen ungerechtfertigte Einflussnahmen des militärisch-industriellen Komplexes, ob gezielt, oder nicht gezielt, verwahren. Das Potenzial für ein zerstörerisches Ausufern von unkontrollierter Macht ist gegenwärtig und wird anhalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Gewicht dieser Verbindungen unsere Freiheitsrechte und unsere demokratischen Prozesse in Gefahr bringt.”  

Das gilt ebenso für das Europa von heute.

Europa befindet sich kurz vor dem Wendepunkt zu einer neuen Rüstungsspirale. Sie ist nicht begründet, sie ist politisch nicht notwendig, sie ist eine Gefahr für den Frieden in Europa und Gift für die außerhalb Deutschlands weiterhin schwächelnde Wirtschaft. Die NATO hat abgewirtschaftet. Es ist an der Zeit, über eine neue, eine gemeinsame und demokratische Europäische Verteidigungspolitik und Friedensstrategie nachzudenken – mit verlässlichen Partnern statt zweifelhafter Freunde. Dafür bedarf es kluger Köpfe, wie sie die CDU mit Adenauer, die SPD mit Egon Bahr, Erhard Eppler, Horst Ehmke und Willy Brandt, die FDP mit Walter Scheel und die Grünen mit Hans-Christian Ströbele hervorgebracht haben – aber selbst letzterer geht mit 75 demnächst in Rente. Die CDU-Frauen Merkel und von der Leyen haben bisher auf diesem Feld nicht punkten können. Vielleicht gibt es ja andere. Die Zukunft der Europa- und Friedenspolitik ist jedenfalls für uns alle von existenzieller Bedeutung. Das trifft sich gut. Es wäre an der Zeit, dass sich Politik einmal wieder Dingen von existenzieller Bedeutung zuwendet. Anstatt populistische Dummheiten für den Nabel der Welt zu halten.

[1]        Über “Clintongate” spekuliert Telepolis: http://www.heise.de/tp/artikel/48/48378/1.html

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net