von Britt Weyde / Informationsstelle Lateinamerika (ila)
Chiles neuer Präsident Gabriel Boric hat Ende Januar sein Kabinett vorgestellt

Aktuell wird so mancher Beitrag zum neuen „Linksrutsch“ in Lateinamerika veröffentlicht. Neben dem Wahlsieg Xiomara Castros in Honduras oder dem möglichen Erfolg Gustavo Petros in Kolumbien gehört zu dieser Entwicklung auch der Triumph von Gabriel Boric bei der Stichwahl in Chile am 19. Dezember 2021. Mit knapp 56 Prozent hatte sich der Jurist und ehemalige Vertreter der Studierendenbewegung gegenüber dem ultrarechten Kandidaten José Antonio Kast durchgesetzt. Die Menschen feierten auf den Straßen, viele Chilen*innen hegen ernsthafte Hoffnungen auf einen Wandel unter dem jungen Präsidenten (der im Februar 36 Jahre alt wird). Er war Kandidat der linken Liste Apruebo Dignidad, die sich aus der Parteienkoalition Frente Amplio und der Kommunistischen Partei zusammensetzt. Boric, der im März sein Amt antreten wird, hat nun die Mitglieder seines künftigen Kabinetts vorgestellt. Darunter sind einige Vertreter*innen des alten Regierungsbündnisses Concertación. Folgt nun der Kater nach der Wahlparty?

„Wir setzen uns für eine bürgernahe Regierung ein, mit offenen Türen und stets auf der Seite der Bevölkerung“, verkündete Gabriel Boric bei der Vorstellung seines Kabinetts im Park Quinta Normal am 21. Januar. Das klingt vielversprechend. Doch Borics Liste Apruebo Dignidad verfügt mit 37 von 155 Sitzen im Parlament über keine Mehrheit und muss Kompromisse eingehen. So zeichnete sich bereits im Vorfeld ab, dass Borics Kabinett dieses politische Kräfteverhältnis auch widerspiegeln wird, indem es Personal aus den von Christ- und Sozialdemokrat*innen gestellten ehemaligen Regierungsbündnissen Concertación und Nueva Mayoría einbinden wird. Doch genau diese politischen Kräfte sind bei den Chilen*innen, die im Oktober 2019 den Aufstand erprobt hatten, um dem seit Jahrzehnten herrschenden ultraneoliberalen Modell eine Absage zu erteilen, diskreditiert.
Gelungene Symbolpolitik oder diskreditierte Figuren?
Nach mehreren Wochen Verhandlungen steht nun Borics Team fest. Auf den ersten Blick fällt die gelungene Symbolpolitik auf: Im 24-köpfigen Kabinett gibt es eine Mehrheit von 14 Ministerinnen, einige davon auf durchaus wichtigen Posten, zum Beispiel Verteidigungsministerin Maya Fernández Allende, Enkelin des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende himself. Oder Iskia Siches. Sie wird zur ersten Innenministerin in der Geschichte Chiles. Die 35-jährige Ärztin ist schon seit langem eine enge politische Weggefährtin des designierten Präsidenten und hat erfolgreich dessen Wahlkampf geleitet.
Gleichzeitig zeigt sich, dass in bestimmten Schlüsselministerien Kontinuität zu wahren gesucht wird. So zum Beispiel im Finanzministerium. Dessen Chef wird Mario Marcel, der der eher rechtssozialdemokratischen Sozialistischen Partei nahe steht (die in der Nach-Pinochet Zeit stets ein wichtiger Pfeiler der neoliberalen Regierungen war). Der 62-jährige Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Zentralbankchef Marcel war an den verschiedenen Concertación-Regierungen der letzten Jahre stets aktiv beteiligt. Unter Patricio Aylwin, Eduardo Frei und Ricardo Lagos war er in leitender Position in der DIPRES (Dirección de Presupuestos) tätig, der für den Haushalt zuständigen Abteilung im Finanzministerium. Unter Michelle Bachelet leitete er die nach ihm benannte Kommission, deren Ziel es war, das System der privaten Rentenversicherungen, der AFPs (1) zu „perfektionieren“ (zur Erinnerung: gegen dieses System der privatisierten Altersvorsorge, das viele chilenische Rentner*innen in die Armut treibt, richtete sich auch der energische Protest der sozialen Revolte ab Oktober 2019).
Traditionelle Eliten und “aufgewachtes” Volk
Die wahren Eigentümer Chiles, die alt eingesessene Elite aus dem Großunternehmertum und dem Finanzspektrum, hatten bereits im Vorfeld ihre Zustimmung zu dem von Boric angekündigten Kabinett signalisiert. Einer der reichsten Männer des Landes, Andrónico Luksic, freute sich auf Twitter und bezeichnete die Ernennung von Mario Marcel zum Finanzminister ausdrücklich als „großartige Entscheidung“. Auch Juan Sutil, Präsident des chilenischen Unternehmerverbands CPC (Confederación de la Producción y del Comercio), begrüßte begeistert den neuen Minister. Im Gespräch mit Radio Universo sagte er: „Das müssen wir gebührend würdigen. Marcel erfüllt viele Bedingungen. Obwohl er eine Person aus dem Mitte-Links-Spektrum ist, handelt es sich bei ihm um eine top ausgebildete Person, technisch hochkompetent, die ihre Management-, Führungs- und Leitungsfähigkeiten in schwierigen Zeiten mit einem vernünftigen, maßvollen und konsequenten Ansatz unter Beweis gestellt hat“. Die Tatsache, dass Boric diesen Mann zum Finanzminister ernannt habe, zeige, dass es dem neuen Präsidenten um rationale und gemäßigte Entscheidungen gehe.
Borics Kabinett spiegelt sein Bemühen wider, ein versöhnliches, betont mittiges Image zu erschaffen. Und er steht vor dem Dilemma, das „aufgewachte“ Volk, das seit der Revolte vehement Veränderungen und wahren Wandel einfordert, nicht zu enttäuschen und gleichzeitig die traditionellen Eliten und Wirtschaftskräfte nicht zu verschrecken. Eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche Gratwanderung.
Extremer Fall neoliberaler Wirtschaft
Die zukünftige Regierung wird nicht ausschließlich von Apruebo Dignidad gestellt, sondern ist letztlich ein Bündnis mit Teilen der ehemaligen Concertación, um im Parlament Mehrheiten zu bekommen. Die Tatsache, dass die Kommunistische Partei ̶̶ obwohl sie die Partei mit der stärksten parlamentarischen Basis in Apruebo Dignidad ist ̶̶ nur drei Ministerien bekommen hat, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass der Unternehmenssektor beruhigt werden soll.
Eine bemerkenswerte Personalie ist auch der künftige Wohnungsbauminister Carlos Montes, Wirtschaftswissenschaftler an der Katholischen Universität und Abgeordneter seit den 1990er- Jahren. Er war einer der Senator*innen der Sozialistischen Partei, die 2013 für das verhasste Fischereigesetz stimmten, das garantiert, dass 70 Prozent des Fischreichtums in den Händen von sieben chilenischen Milliardärsfamilien liegt.
Zuständig für die Gesundheit wird María Begoña Yarza sein, eine Kinderärztin mit einer langen Karriere in verschiedenen Einrichtungen. Gerade in Pandemiezeiten führt sie somit ein Schlüsselministerium. Wegen ihrer gewerkschaftsfeindlichen Praxis wird sie von vielen Angestellten im Gesundheitssektor abgelehnt (Mitte Januar wurde sogar ein offener Brief an Boric geschickt, mit der Aufforderung, die Nominierung von Yarza rückgängig zu machen).
Giorgio Jackson, den Boric noch aus den bewegten Zeiten der Studierendenbewegung ab 2011 kennt und mit dem er damals eine Zeit lang zusammen wohnte, wird zukünftiger Präsidentschaftssekretär (was in Deutschland etwa dem Kanzleramtsminister entspricht). Eine weitere Kampfgefährtin, die Boric noch aus bewegteren Studierendenprotestzeiten kennt, ist die auch hierzulande in Lateinamerikakreisen bekannte Camila Vallejo von der Kommunistischen Partei. Sie wird Regierungssprecherin.
Der 38-jährige Ökonom Nicolás Grau von Borics Partei Convergencia Social wird das Ministerium für Wirtschaft, Entwicklung und Tourismus leiten. Er ist eher gemäßigt links, gilt aber als Kritiker des chilenischen Neoliberalismus, wie er es etwa im Interview mit der chilenischen Zeitung „La Tercera“ im Juni letzten Jahres präzisierte: „Die Vorschläge der Frente Amplio zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen sind eine Collage aus vielen, weltweit bereits existierenden Mechanismen. Die Vorschläge zum Gesundheitssystem ähneln einer Kombination aus Kanada und England, die zur betrieblichen Mitbestimmung ähneln dem, was es in Deutschland und Schweden gibt, während die Vorstellungen zu Tarifverhandlungen der Situation in Uruguay ähnlich sind. Das Extrem hingegen ist der hiesige Status quo, wenn man ihn mit der Welt vergleicht. Chile gilt als ein eher extremer Fall einer neoliberalen Wirtschaft. Wir schlagen einen wichtigen Kurswechsel vor, der nicht ohne ist. Er bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, was die Umsetzung und die politische Führung betrifft. Aber dieser Kurswechsel ist ein Schritt in Richtung Normalisierung, im Vergleich zum Rest der Welt.“
Boric, der übrigens aus Chiles südlichster Region Magallanes stammt und für den es allein deswegen stets ein wichtiges Anliegen war, die Dezentralisierung des Landes voranzutreiben, hat im Januar der BBC Mundo ein langes Interview gegeben. Darin deutet er auch auf präferierte außenpolitische Bündnispartner hin, etwa Boliviens Präsident Luis Arce sowie, wenn sie jeweils erfolgreich sein sollten, Lula in Brasilien und Petro in Kolumbien. Den Regimes in Nicaragua und Venezuela hingegen steht er kritisch gegenüber. Zu dieser Linie passt auch die Wahl seiner Außenministerin, Antonia Urrejola von der Sozialistischen Partei. Sie hatte das nicaraguanische Regime von Daniel Ortega stark kritisiert, als sie 2021 die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) leitete.
Insgesamt lässt sich Boric in besagtem Interview politisch aber nicht festnageln. Staatsmännisch versiert gibt er sich versöhnlich und gemäßigt. Was ihn allerdings sympathisch macht: dass er offen mit persönlichen Schwachpunkten umgeht, auf die ihn die Reporterin anspricht, etwa seine Angststörung. Insgesamt ist das Kabinett Borics eher jung, die Jüngste ist 32 (die Ministerin für Frauen und Gleichstellung, Antonia Orellana), der Älteste 75 (der erwähnte Wohnungsbauminister Carlos Montes). Das Durchschnittsalter liegt bei 49 Jahren.
Anmerkung
1) Administradoras de Fondos de Pensiones Das Rentenversicherungssystem wurde 1980 unter der Militärdiktatur Augusto Pinochets vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt
Quellen: La Diaria, BBC Mundo, infobae, Página 12, La Izquierda Diario, La Tercera
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 452 Feb. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Informationsstelle Lateinamerika (ILA):

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