von Adrián Moyano (Übersetzung: Alix Arnold)
Patagonien ist eine Erfindung des Kolonialismus

Vor 1492 war Amerika auf keiner Landkarte verzeichnet und ebenso wenig Patagonien, obwohl es von verschiedenen Völkern bewohnt wurde. Die Mapuche nennen das Territorium, das sich von der Andenkordillere nach Osten erstreckt, Puelmapu. Dieser Ausdruck hat tiefere Bedeutungen, wird aber in der Regel als Territorium des Ostens übersetzt. Das Volk der Mapuche war von 1592 an mit der spanischen Invasion konfrontiert, die in der Nähe des Flusses Biobío (Chile) begann. Unterworfen wurden die Mapuche aber am Ende nicht durch die Spanier, sondern erst im 19. Jahrhundert durch die Eliten der Nationalstaaten Argentinien und Chile, die den äußersten Süden des Kontinents wirtschaftlich nutzen wollten.
Puelmapu
Ein Teil des historischen Puelmapu entspricht Patagonien, aber die ersten Nationen, die hier vor der Ankunft der Europäer existierten, dachten nicht in patagonischen Begriffen. Sie überquerten die Berge von West nach Ost und umgekehrt, ohne größere Hindernisse, denn die Grenzen sind relativ neue Erfindungen. Chile und Argentinien eigneten sich den Süden erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts an. Bevor das geschah, pflegten die dann durch diese Angriffe Vertriebenen die Flüsse Limay, Negro oder Colorado zu überqueren, und sie kamen auch bis zum Atlantik, aber ihre Vorstellungen von den jeweiligen territorialen Räumen hatten nichts mit dem aktuellen Begriff Patagonien zu tun. Erst die Spanier bezeichneten – nachdem sie den Kontinent, den sie zu erobern versuchten, getauft hatten – das Gebiet der Mapuche Gününa Küne und Aónikenk als Patagonien. Sie benannten sogar die ursprünglichen Bewohner*innen in Araukaner, Tehuelche oder Patagonier um, neben vielen anderen Bezeichnungen, die größtenteils verwirrend und widersprüchlich sind. Die Region ist seit mehreren Jahrtausenden besiedelt, aber erst im 16. Jahrhundert wurde sie als Patagonien bekannt, allerdings ausschließlich unter Spaniern und anderen europäischen Kolonialisten.
Auf argentinischer Seite gehen sie davon aus, dass sich die Region vom Südufer des Colorado-Flusses im Norden bis zur Magellanstraße im Süden erstreckt. Verwaltungstechnisch gehört auch die Inselgruppe Feuerland dazu, aber es gibt Diskussionen, ob diese Einbeziehung opportun ist. Auf chilenischer Seite gilt der Golf von Corcovado (Provinz Palena) als der Norden Patagoniens und das Kap Hoorn als seine südliche Grenze.
Waizuf Mapu
Doch weder Mapuche noch Gününa Küne oder Aónikenk haben in Patagonien gelebt. Selbstverständlich gab es das Territorium und auch seine Bewohner*innen, aber diese gaben den Räumen, in denen sie lebten, ihre eigenen Namen. Bis zur Ankunft der staatlichen Institutionen wurde die Kordillerengegend, die heute den Westen der Provinz Neuquén (Argentinien) ausmacht, Waizuf Mapu oder Territorium am Rand genannt. Waizuf kann auch einfach als Kordillere übersetzt werden. Ein Teil des Waizuf Mapu überschneidet sich mit dem Pewen Mapu, einer Gegend, für deren Natur der Baum Pehuén oder Araukarie charakteristisch ist. Da Bäume nichts von administrativen Zuständigkeiten verstehen, erstreckte sich der Pewen Mapu über Gebiete, die heute entweder zu Chile oder zu Argentinien gehören. Im Norden, in Richtung der Provinz Mendoza (Argentinien), lag der Pikun Mapu. Pikun bedeutet genau das: Norden.
Lelfün Mapu – Mamül Mapu – Willi Mapu
Es ist problematisch, sich mit den heutigen regionalen Kriterien auf die Geschichte früherer Völker zu beziehen, da zum Beispiel das angestammte Gebiet der Mapuche über die Grenzen Patagoniens hinausging. Das Lelfün Mapu oder Territorium der Felder umfasste Teile der heutigen Provinz Buenos Aires und der Pampa (Argentinien). Das Mamül Mapu oder Territorium des Waldes verlief von der Pampa bis zum Fluss Río Negro. Es gab hier viele Prosopisbäume (Prosopis caldenia), die sehr stark abgeholzt wurden, da die britische Eisenbahn das Holz wegen seiner Härte zur Herstellung von Eisenbahnschwellen nutzte. Jenseits der Ufer des Limay-Flusses und des Nahuel-Huapi-Sees (Argentinien) lag das Willi Mapu oder Südliche Territorium, wo die Gebiete der Mapuche sich mit denen der Gününa Küne mischten.
Che bedeutet in der Sprache der Mapuche Person oder Leute. Waizufche, Pewenche, Pikunche, Mamülche, Lelfünche oder Williche waren von daher Bezeichnungen, die sich die Bewohner*innen dieser Territorien selbst gaben. In den Zeiten ihrer Unabhängigkeit und Freiheit sahen sie sich nie als Patagonier*innen. Die ersten Nationen, die diese Gegend bewohnten, kannten in der Regel nicht die gesamte Region, die heute diesen magischen und verlockenden Namen trägt. Sie hatten auch keine Probleme, deren hypothetische Grenzen zu überschreiten, die vor dem Auftauchen der Staaten nur in den Köpfen einiger europäischer Geografen oder Reisender mit Interesse an der Natur vorhanden waren. Das Territorium der Mapuche, das bis etwa 1880 seine Freiheit behielt, umfasste den Norden Patagoniens, einen Teil der Pampa und auch Araukanien im Westen der Kordillere. Aber seine Bewohner*innen hatten nicht den heutigen Begriff von Patagonien. Nur im Fall der Aónikenk, die fälschlicherweise als Patagonier oder Südliche Tehuelches bezeichnet werden, könnte man sagen, dass sie eine gewisse Vorstellung von Patagonien hatten, da sie es mit ihren außergewöhnlichen Karawanen in Längsrichtung vom Süden von Santa Cruz (Argentinien) bis zum politischen Zentrum der Mapuche durchquerten, im heutigen Süden von Neuquén, das ihr Anführer Valentín Sayweke Gobernación Indígena de Las Manzanas nannte. Von dort aus zogen die Familien der Aónikenk weiter nach Carmen de Patagones, damals ein verlassener Ort am Fluss Río Negro, etwa 30 Kilometer vor seiner Mündung in den Atlantik. Danach kehrten sie zu ihren Ausgangspunkten zurück. Diese Reisen konnten anderthalb bis zwei Jahre dauern. Trotzdem hatte Patagonien für sie keine politische, kulturelle oder gar geopolitische Bedeutung. Außerdem lag es ihnen fern, entsprechend der späteren Staatsformen zu funktionieren. Sie nutzten auch Gebiete, die nach dem Abkommen zwischen den beiden Ländern im Jahr 1881 unter chilenische Hoheit fielen.
Alles Indios …
In Europa wusste niemand etwas von der Existenz eines Gebietes, das die Seefahrer ab dem 16. Jahrhundert Patagonien nannten. Und noch weniger war von den dort lebenden Völkern bekannt, die sie als Patagonier bezeichneten. Später gaben sie ihnen Namen wie Pampabewohner, Araukanier, Tehuelche, Auca und viele andere selbst erfundene. Eine komplizierte ethnische Vielschichtigkeit wurde in einem diffamierenden Wort vereinfacht: Indios. Letzten Endes waren eben alle Indios…
Wie der Kontinent Amerika ist auch Patagonien eine kolonialistische Erfindung, die während des kolonialistischen Vordringens der Spanier entwickelt wurde. Doch im Gegensatz zu den Ereignissen weiter im Norden waren es hier Argentinien und Chile, die das Werk der Europäer zu Ende brachten, indem sie kolonialistische Institutionen und Ideen einführten.
Der Aufbau der Staatlichkeit in Patagonien wurde unter anderem durch die Einwanderung von Menschen europäischer Herkunft vorangetrieben, nachdem sich der bewaffnete Widerstand der Mapuche erschöpft hatte. Infolgedessen bezeichnen sich heute zahlreiche patagonische Städte oder Ortschaften als Produkte der deutschen, schweizerischen, italienischen oder walisischen Kultur. Aber die historischen Berichte, die die Selbstaufopferung und die Entbehrungen dieser Pioniere rühmen, die als erste ankamen, oder die ihr Erstaunen über die raue Schönheit so vieler von ihnen als wild angesehenen Landschaften beschreiben, haben nichts mit den Mapuche zu tun und ebenso wenig mit den Gününa Küne oder Aónikenk. Sie stammen von denjenigen, die von der Kolonisierung profitierten.
Gegenwehr der Mapuche
Es vergingen etwa 100 Jahre. Zwar gab es eine Vorgeschichte, aber meist wird 1992 als Datum für das Wiederauftauchen der Mapuche genannt, mit der Herausbildung einer autonomen Bewegung, die unabhängig von Parteien, Gewerkschaften, bäuerlichen Organisationen, anderen politischen Organisationen und dem Staat ist. Von da an wurden die kolonialistischen und europäisch geprägten Narrative von den Mapuche-Organisationen und ihren Oberhäuptern immer stärker in Frage gestellt. Später fanden das politische Denken und die Kultur der Mapuche, die nur eine der ersten Nationen in Patagonien waren, Eingang in die öffentliche Debatte. Nach der Rückkehr zur Demokratie in Argentinien (1983) und noch stärker ab Mitte der 90er-Jahre verbreitete sich in den regionalen und lokalen Medien, bei Politiker*innen, Unternehmerverbänden und in der übrigen Gesellschaft Verwunderung darüber, dass hier ein Diskurs aufblühte, der der staatlichen Erzählung widersprach. Die militärischen Expeditionen von 1833/34 und 1879 bis 1885 fanden als „Wüstenkampagne“ oder „Eroberung der Wüste“ Eingang in die Geschichte, aber diese Wüste hat es hier nie gegeben. Argentinische Politiker*innen, Generäle und Intellektuelle rechtfertigten die kolonialistische Aggression damals damit, dass die Mapuche angeblich aus Chile stammten. Aber dieses Volk existierte bereits vor der Bildung der beiden Staaten. Und sogar vor der Ankunft der Spanier. Noch größer war das Erstaunen, als den Erklärungen und Dokumenten der Organisationen konkrete Wiederaneignungen von Territorien sowie Demonstrationen vor den Standorten der Erdölgesellschaften und staatlichen Institutionen folgten und Gesetzesänderungen gefordert wurden. Patagonien wurde zwar nie formell gegründet, aber in den Gründungsnarrativen fanden die indigenen Völker keine Beachtung, außer wenn es darum ging, sie zu entmenschlichen oder lächerlich zu machen.
Aus der Geschichte der Geografie geht hervor, dass Patagonien erst 1875 in die offizielle Kartografie Argentiniens aufgenommen wurde. In den Schulbüchern, die zwischen 1856 und 1871 verwendet wurden, wurde eingeräumt, dass Patagonien eine Art eigenes Land war, neben Argentinien und Chile. Erst 1874 wurden in einem Schulbuch Karten aufgenommen, die den Atlantischen Ozean und die Magellanstraße als südliche Grenze des Landes betrachteten. Es liegt auf der Hand, dass für die Erfindung Patagoniens sowohl die koloniale Aneignung der Region als auch ihre Einbindung in die nationale Ideologie Argentiniens durch intellektuelle Operationen erforderlich waren, die vom Staat, der sich noch im Aufbau befand, und den oligarchischen Großgrundbesitzern, die sich in den Bürgerkriegen 1861 durchgesetzt hatten, in Gang gesetzt wurden. Auch wenn die Spanier die ersten Eindringlinge waren, die dieses große Gebiet für ihre Krone beanspruchten, so war doch Buenos Aires für die erste institutionelle Organisation nach europäischem Vorbild verantwortlich.
Usurpierung der Pampa
Die Wüstenkampagne oder -eroberung, das heißt die Usurpierung der Pampa und Patagoniens durch Argentinien, lässt sich von der politischen Bedeutung her mit der sogenannten Entdeckung Amerikas vergleichen. Letztere war von einer imperialistischen Perspektive einer vermeintlich globalen Geschichte geprägt, die mit triumphalistischem Getöse von Europa aus geschrieben wurde. Erstere wurde mit dem Konquistadorenblick der Eliten konzipiert, die ihr politisches Projekt als Höhepunkt beim Aufbau der (argentinischen) Nation sahen. Auch hier kann die Moderne nicht ohne ihren logischen Gegenpart gedacht werden, die Kolonialität. Die Feststellung, dass Amerika und Patagonien Erfindungen sind, ist keine rein terminologische Frage von nebensächlicher Bedeutung. Damit wird der kritische Standpunkt der Völker eingenommen, die in ihrer Geschichte an den Rand gedrängt oder sogar zurückgeworfen wurden. Auch heute noch verlangen die hegemonialen Vorstellungen, dass die Ersten Nationen sich in den kontinuierlichen Rhythmus des Fortschritts einfügen, der immer nur für andere gut ist, und zwar unter dem Deckmantel von Erzählungen, die ihnen nicht gehören.
Als Begriffe repräsentieren sowohl Amerika als auch Patagonien imperialistische Projekte, da Argentinien und Chile letzten Endes nur die Ziele umgesetzt haben, die Spanien nicht erreicht hat. Die Institutionen, die hinter den Militärkolonnen nach Puelmapu kamen, waren keine eigenen Kreationen eines neuen oder originellen Projektes, sondern nur Versionen vorheriger europäischer Entwicklungen. Das Gleiche geschah südlich des Flusses Biobío, denn die Erfindung von Patagonien und Araukanien spielte eine zentrale Rolle bei der Schaffung von Bedingungen, die die koloniale Expansion von Chile und Argentinien begünstigten. Die europäische Lebensweise kam triumphierend als Synonym für menschlichen Fortschritt daher, ohne Rücksicht darauf, dass die Toten aus den ungleichen Kämpfen, die Vertriebenen, die Hingerichteten, die zerrissenen Familien und die in Konzentrationslagern Gefangenen auch Menschen waren.
Eine unvergessliche Intellektuelle und Politikerin aus Deutschland hat die Gründe für die kolonialistischen und imperialistischen Vorstöße Ende des 19. Jahrhunderts deutlich erklärt. Rosa Luxemburg hat den Aufschwung des Kapitalismus in Europa nach der Kriegsperiode zwischen 1860 und 1870 hervorgehoben. Nach einer langen Wirtschaftskrise, die sich bis 1873 hinzog, gab es eine Zeit des Aufschwungs von bislang unbekannter Intensität. Der Expansionszyklus trieb die europäischen Mächte in eine Art Wettlauf um die Übernahme von Ländern oder Gebieten, die bis dahin noch nicht unter kapitalistischer Herrschaft standen. In London, Paris oder Berlin wussten sie sehr genau, dass Patagonien oder Araukanien außerhalb der Handelskreisläufe lagen, in denen Rohstoffe nachgefragt und Waren angeboten wurden. Ab den 1880er-Jahren nahm sich Großbritannien Ägypten und Südafrika, Frankreich eignete sich Tunis und Regionen in Indochina an, Italien landete in Abessinien, Russland dehnte seine Eroberungen nach Zentralasien aus, Deutschland machte das Gleiche in Afrika und im Pazifik und sogar die USA bestanden ihre Prüfung als Kolonialisten, indem sie in die Philippinen einfielen.
Völkermörderischer Krieg Argentiniens
Der völkermörderische Krieg der argentinischen Armee gegen das Volk der Mapuche war Teil dieses Prozesses, den Luxemburg ausgemacht hat. Während der ersten Präsidentschaft von Julio Roca (1880-1886) stiegen die Investitionen aus Großbritannien in Argentinien exponentiell an, so wie auch die Handelsflüsse zu den englischen Häfen und die Auslandsverschuldung. Die endgültige Eingliederung des Landes und seiner neuen Gebiete in den britischen Imperialismus war unübersehbar: Während überlebende Mapuche-Familien noch qualvoll in Konzentrationslagern schmachteten, übernahm die Compañía de Tierras del Sud Argentino 80000 Hektar ihrer ehemaligen Ländereien. Ursprünglich in britischem Besitz, wurde der Name des Unternehmens 1996 durch die Übernahme durch die Benetton-Gruppe über die Grenzen hinaus bekannt. Heute hat das italienische Unternehmen die Kontrolle über 900000 Hektar, die vorher Gebiete der Mapuche und Gününa Küne (Tehuelche) waren. In Patagonien, versteht sich. Eine kolonialistische Erfindung, die dem globalisierten Kapitalismus und seinen extraktivistischen Facetten sehr dienlich ist.

Adrián Moyano, Journalist und Autor, hat vier Bücher über die Geschichte der Mapuche geschrieben. Er lebt in Bariloche (Argentinien) und ist aktiv in Mapuche-Organisationen und gegen den Extraktivismus.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 452 Feb. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften und ein Link wurden nachträglich eingefügt.

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