Der Ukrainekrieg in der Politik

Die Naturwissenschaften reden manchmal von Skalensprüngen – dann, wenn riesige Größen- und Zeitunterschiede in einen gemeinsamen Horizont zusammentreten. Das ist zum Beispiel bei der Klimakrise der Fall, wo menschliches Handeln tatsächlich etwas viel Größeres, das Weltklima, aus dem Tritt gebracht hat.

„Normal“ ist so etwas nicht. Normal leben wir auf der „Meso“-Skala vor uns hin – also zum Beispiel Kiez-Ebene Berlin-Wedding, Bonn-Beuel oder Stuttgart-Degerloch – während die Elektronen unbemerkt auf ihren Quantenbahnen springen (Mikro) und der Big Bang (Makro) uns eine Idee (aber eben nur Idee) vom „dynamisch Erhabenen“ geben könnte – ohne dass wir wirklich drüber nachdenken.

Nun hat es – möglicherweise – einen Skalensprung auch in der Politik gegeben. Das größte Land Europas führt Krieg gegen das zweitgrößte. Russland hat den ersten großen Landkrieg in Europa nach 1945 vom Zaun gebrochen. Wenn der Angreifer es nicht schafft, diesen Krieg schnell auf eine Art historische „Episoden“-Skala zurückzuführen – ich bin sehr skeptisch, dass das gelingen kann – dann wird das Jahr 2022 Kerbe und Rahmendatum für eine veränderte Zeitrechnung – deutlich größer und tiefer als 9/11, Finanzkrise 2008, Flüchtlingskrise 2015 oder Corona. Wir sind wohl auf der Skala von 1989-91 oder eben 1945 angekommen.

Die Erinnerung an die Größenordnung sollte auch die, die heute analysieren, diskutieren oder politisch agieren, nachdenklich machen. Zum Beispiel die SPD. Es dürfte nicht mit der Feststellung getan sein, dass “der Gerd“ eben ein bisschen „Mist gebaut“ hat, als er sich – und ein ziemlich großes Umfeld – so sehr mit Putin verstrickte.

Auch der beliebte „What-aboutism“ hat wohl erst einmal ausgedient. Ja, wir wissen – und kritisieren auch weiterhin – was andere Staaten in aller Welt so alles angerichtet haben. Aber ein großer Landkrieg direkt an einer EU- und Nato-Außengrenze – das gab es in der Nato- und EU-Geschichte eben noch nicht.

Tatsächlich schaue ich in den Texten und Verlautbarungen dieser Tagen doppelt genau hin, ob sie helfen, die neue Dimension – zumindest in Ansätzen – zu begreifen. Oder ob sie festhängen im alten Business as Usual, mit alten, wohlvertrauten „Meso“-Kategorien, die wohl leider nicht mehr passen.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.