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Politik in Zeiten des Umbruchs

Klimawandel, Pandemie und jetzt auch noch Krieg! Mehl und Sonnenblumenöl werden gehamstert. Diesmal wenigstens kein Klopapier. Mineralölkonzerne streichen Spekulationsgewinne ein und der Bundesfinanzminister will das mit Steuergeldern subventionieren, statt das Bundeskartellamt auf die Unternehmen anzusetzen und eine SPD-Vorsitzende demonstriert öffentlich, dass sie ihrer Verantwortung nicht gewachsen ist. Der Kanzler sieht sich zu einer Klarstellung genötigt.

Die Infektionszahlen sind so hoch wie nie und die Bundespolitik zieht sich aus der Pandemiebekämpfung zurück. Es drohe keine Überlastung unserer Krankenhäuser. Konnte man bisher doch den Eindruck haben, es gehe um den Gesundheits- und Lebensschutz der Bevölkerung, wird man nun eines Besseren belehrt.
Politik in Zeiten des Umbruchs offenbart in erschütternder Deutlichkeit, dass es ihr an der viel beschworenen Werteorientierung fehlt.

Der chinesische Künstler und Aktivist Ai Weiwei wirft der Politik in einem Gespräch mit dpa zu Recht vor, man habe kein klares moralisches oder philosophisches Urteilsvermögen mehr, sondern ein großes Durcheinander.

Ginge es vorrangig um die Rettung von Menschenleben in der Ukraine, müssten sämtliche Energieimporte aus Russland sofort gestoppt und gleichzeitig ein offenes Verhandlungsangebot an Russland gemacht werden.

Europa müsste dabei trotz seiner militärischen Schwäche die Vorreiterrolle übernehmen. Denn die Interessenlage spricht leider dafür, dass die USA sich nicht um einen schnellen Frieden bemühen. Big Oil reibt sich seit dem Überfall auf die Ukraine die Hände. North Stream 2 war den USA schon immer ein Dorn im Auge. Wer mit dem Finger auf die USA zeigt, sollte allerdings auch die deutschen Profiteure im Auge behalten. Nicht nur die Aktien von Rheinmetall sind im Steigflug.

Ginge es um die Erreichung einer dauerhaften Friedensordnung, müssten wir nicht 100 Milliarden in neues Kriegsgerät sondern in Anreize zur Bewahrung von Frieden stecken.

Andere Prioritäten sind auch bei den anderen genannten Umbruchszenarien gefragt.

Ginge es darum, den Klimawandel zu stoppen, würde Deutschland nicht die Klimaziele verfehlen und im vergangenen Jahr nicht 4,5 Prozent mehr Treibhausgase im Vergleich zum Vorjahr ausgestoßen haben, sondern sofort ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen einführen und andere schnell wirksame Maßnahmen ergreifen, wie sie die Wissenschaft schon seit Jahren fordert.

Klimawandel, Pandemie und Krieg gehören zu einer Kette von Ereignissen, für die die traditionellen Narrative keine tröstenden Erklärungsmodelle und Lösungsperspektiven bieten. Der Mensch ist wohl doch nicht die Krone der Schöpfung, sondern nur ein Teil von ihr. Die Erde kann ohne den Menschen existieren, aber der Mensch nicht ohne die Erde.

Es stimmt. Alles spricht dafür, dass wir Zeugen einer Zeitenwende sind – aber nicht so, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es am 27. Feb. 2022 im Bundestag den staunenden Parlamentariern als Begründung für das umfassendste Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erklärte.

Vor 50 Jahren erschien der erste Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Seither hat der Verbrauch endlicher Ressourcen exponentiell zugenommen. Stephen Emmott macht in seinem gerade neu erschienenen Buch „Zehn Milliarden“ wenig Hoffnung, da wir den Kipppunkt wahrscheinlich bereits überschritten haben.

Man muss nicht Jonathan Franzen zustimmen, der provokant fragt „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“. Das Minimum wäre jedoch, dass Politik aufhört, die Wirklichkeit zu leugnen. Und die Wirklichkeit erfordert radikales Umsteuern in praktisch allen Feldern der Politik. Auch wenn sich alle Weizen- und Sonnenblumenfelder der Ukraine von den Verwüstungen des Krieges wieder erholen, werden Sie nicht ausreichen, die zehn Milliarden Menschen zu ernähren, die bei ungebremsten Bevölkerungswachstum Ende dieses Jahrhundert auf dieser Erde leben werden. Die weltweit ungleiche Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen dürfte das Friedensthema Nr. 1 sein. Dafür 100 Milliarden EUR zu investieren wäre zum Beispiel eine prima Alternative. Auch zum 2% Ziel der Nato gibt es sinnvollere Verwendungsmöglichkeiten. Eine weltweite Bildungskampagne wäre ein schöner Anfang.

Politik in Zeiten des Umbruchs legitimiert sich aus dem Bemühen der Bewahrung der Schöpfung. Wer mag, kann dies religiös begründen. Wer darüber keinen Zugang findet, kann dies auch rein naturwissenschaftlich oder philosophisch tun. In jedem Fall stellt sich die alte Frage des Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) nach einem gelungenen Leben in Zeiten des Umbruchs in aller Schärfe neu. Politik kann sich davon nicht ausnehmen.

Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das gehegt und gepflegt sein will. Demokratie nach westlichem Muster ist eng verbunden mit der Erfolgsgeschichte des Kapitalismus und seinem Wohlstandsversprechen. Das Wohlstandsversprechen des chinesischen Staatskapitalismus und anderer autoritärer Regime ist geknüpft an die Unterwerfung unter das allumfassende Regime. Beiden Modellen liegt das trügerische Narrativ der Unendlichkeit zugrunde. Wenn wir über eine Zeitenwende sprechen, muss Politik auch darauf Antworten suchen. Andernfalls wächst das Risiko, das die Problemlösungskompetenz von Politik immer weniger akzeptiert wird. Und das ist keine besonders schöne Vorstellung.

Über Dr. Hanspeter Knirsch (Gastautor):

Der Autor ist Rechtsanwalt in Emsdetten und ehemaliger Bundesvorsitzender der Deutschen Jungdemokraten. Er gehörte in seiner Funktion als Vorsitzender der Jungdemokraten dem Bundesvorstand der F.D.P. an und war gewähltes Mitglied des Landesvorstands der F.D.P. in NRW bis zu seinem Austritt anlässlich des Koalitionswechsels 1982. Mehr zum Autor lesen sie hier.

Sie können dem Autor auch im Fediverse folgen unter: @hans.peter.knirsch@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Hanspeter Knirsch

    Es ist nicht zu fassen. Heute, am 24. März 2022, sind die Regale mit Klopapier bei Aldi und Lidl leergekauft. Was geht in den Köpfen der Menschen vor, die jetzt Klopapier hamstern? Ich gebe zu, es ist eine Herausforderung, sich von der Kriegsberichterstattung und der medialen Aufrüstung nicht irre machen zu lassen. Die „Ostflanke“ der Nato wird verstärkt und Selenskyj setzt seinen Werbefeldzug für den 3. Weltkrieg unter Beifall westlicher Parlamente fort. Mir scheint, mit jedem Tag schwindet nicht nur der Vorrat an Klopapier, sondern auch der Vorrat an Vernunft.

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