Interview mit Valentina Caviedes von Feministas Colonia

Auf dem Blog von Feministas Colonia heißt es: „Wir sind eine Gruppe spanischsprachiger Frauen und Disidencias (1) aus Köln, die gegen die Unterdrückung durch das Patriarchat kämpfen. Wir wollen ein Unterstützungsnetz für diejenigen schaffen, die weit von ihrem Herkunftsland entfernt sind – im Alltag, aber auch bei physischer und psychischer Gewalt. Unsere Botschaft lautet: Du bist nicht allein“ . Ila-Redakteurin Britt Weyde war diese Gruppe auch durch rege Aktivitäten auf Instagram aufgefallen. Im Februar traf sie sich mit der 31-jährigen Valentina Caviedes zum Zoom-Talk. Mit der deutsch-chilenischen Politologin, die seit zweieinhalb Jahren in Deutschland lebt, unterhielt sie sich über die Agenda der Gruppe und die Frage, was den lateinamerikanischen Feminismus in der Diaspora auszeichnet.

Ihr habt kurz vor der Pandemie gestartet, wie läuft eine Organisierung in Pandemiezeiten?

Die Gruppe startete zunächst unter dem Namen „Chilenas de Colonia“, aber kurz vor dem 8. März benannten wir uns um in „Feministas Colonia“. Im Moment sind über 100 spanischsprachige Frauen in unserer WhatsApp-Gruppe. Neulich wollten wir die Gruppe bereinigen und fragten diejenigen, die nie etwas von sich geben, ob sie noch dabeibleiben wollen. Viele antworteten: Ich beteilige mich zwar nicht an den Chats, aber ich bekomme gerne mit, was ihr plant und diskutiert. Oder sie erzählten, dass sie sich auf Zoom-Meetings unwohl fühlten. Wir sind auch auf Instagram aktiv und betreiben einen Blog.

Du sagst, ihr seid „Spanischsprachige“ – sind das alles Muttersprachler*innen?

Was uns eint, ist die Tatsache, dass wir uns als Feministinnen begreifen und Spanisch sprechen. 90 Prozent sind Migrantinnen oder haben einen Migrationshintergrund. Aber es gibt auch einige Europäerinnen, die sich mit unserer Gruppe identifizieren. Wir nehmen die Perspektive des lateinamerikanischen, spanischsprachigen Feminismus ein, der sich vom europäischen beziehungsweise deutschen Feminismus unterscheidet.

Ich könnte also zum Beispiel auch bei euch mitmachen?

Ja klar. Wir verfolgen zwei Hauptziele. Zum einen wollen wir patriarchaler Gewalt vorbeugen, zum anderen wollen wir Gemeinschaft und Integration für Frauen und Disidencias schaffen. Zur Erklärung: Die meisten von uns sind Frauen, aber wir sind auch offen für dritte Geschlechter, nichtbinäre Personen, alle Geschlechteridentitäten außer Cis-Männern …

Häusliche Gewalt nimmt zu

… also für alle, die in Deutschland unter den Begriff FLINTA fallen – Frauen, Lesben, Inter, Nichtbinäre, Trans und Agender.

Genau. Wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir feststellten, dass viele spanischsprachige Migrant*innen recht alleine mit ihren Problemen dastehen. Das war schon vor Corona so. Seitdem hat sich das verschärft, vor allem die Fälle häuslicher Gewalt nehmen zu. Es gibt immer mehr Frauen, die aus Spanien oder Lateinamerika hierhergekommen sind, einen Deutschen geheiratet und Kinder bekommen haben und dann hier Gewalt erfahren. Seitdem es uns gibt, haben wir mehr als zehn Fälle begleitet, bei denen es sehr schwierig war, Lösungen zu finden. Die Prognosen in solchen Fällen sind meist nicht besonders günstig. Bisher habe ich in Köln zum Glück noch keinen Fall von Feminizid mitbekommen, aber sehr viele Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt. Über unsere WhatsApp-Gruppe können uns auch Frauen erreichen, die isoliert zuhause sind. Falls es brenzlig wird, können sie sich an uns richten.

Arbeitet ihr bei häuslicher Gewalt mit anderen – institutionalisierten – Gruppen zusammen, etwa mit AGISRA, autonomen Frauenhäusern etc.?

Wir möchten eine Art Erste Hilfe Gruppe sein. Wir stehen bereit, sprechen Spanisch und können die erste Anlaufstelle sein. AGISRA ist total überlastet mit Fällen, vor allem seit Ausbruch der Pandemie. Sie haben nicht genügend Kapazitäten für spanischsprachige Frauen. Deswegen ist es zum Beispiel auch so wichtig, dass Leute wie du, die nicht migrantische Muttersprachlerin sind, aber die Sprache beherrschen und sich interessieren, auch Teil unserer Gruppe sind. Innerhalb der Gruppe sind wir etwa zehn bis 20, die Deutsch sprechen. Deswegen brauchen wir immer jemanden, die übersetzt, die weiß, wie die Sachen hier funktionieren. Die Kooperation geht in beide Richtungen.

Andere feministische Agenda

Du meintest eben, euer Feminismus unterscheidet sich vom deutschen. Inwiefern?

Alle kulturellen Unterschiede, die es zwischen der deutschen Kultur und den lateinamerikanischen/hispanischen Kulturen gibt, zeigen sich auch im Feminismus. Zum Beispiel: Wir haben keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen, wenn jemand bei uns mitmachen will. Weil wir generell ein bisschen mehr Vertrauen in die Menschen haben. Vielleicht ist das ein Fehler, aber wir wollen niemandem die Tür vor der Nase zuschlagen, die gerade erst wenige Tage oder Wochen im Lande ist und vielleicht Hilfe braucht.
Ein anderer Unterschied sind die Themen. Wir sind aus Lateinamerika mit einer anderen feministischen Agenda hierhergekommen: Der Kampf um das Recht auf Abtreibung, die Anerkennung des Straftatbestands Feminicidio, dass diese Art von geschlechtsspezifischen Morden also als solche rechtlich geführt wird. Ich bin echt überrascht, dass das in Deutschland so schlecht geregelt ist. Oder Themen wie inklusive Sprache oder gleichgeschlechtliche Ehe. All das steht in Lateinamerika auf der Tagesordnung. Hierzulande sind einige Forderungen davon bereits erreicht, andere nicht. Hier haben sich auch viele Feministinnen eher ökologischen Fragen zugewandt oder beschäftigen sich mit der Frage, wie sie auf die Diskussionen rund um den TERF (2) reagieren. Auf den Treffen überrascht mich, wie hoch das Misstrauen untereinander ist. Das ist bei uns anders. Wir suchen nach den Gemeinsamkeiten. Das mögen zwar nicht die wichtigsten Punkte sein, aber strategisch ist das angebracht. So stellte zum Beispiel das Frauenwahlrecht zu seiner Zeit eine Strategie dar, um als Person anerkannt zu werden. Feminizide als eigenen Straftatbestand zu definieren ist ebenfalls eine Strategie, um machistische Gewalt sichtbar zu machen. Klar, da mögen sich die genderdiversen Personen ein wenig beiseitegedrängt oder vergessen fühlen, aber eigentlich vergessen wir sie nicht. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen, um unsere Ziele zu erreichen.

Eigentlich stimmt es ja nicht, dass wir hier wirklich „weiter“ bei bestimmten Themen sind. In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch nach Paragraf 218 immer noch eine Straftat. Es gibt lediglich Ausnahmeregelungen.

Was mich auch absolut überrascht hat, ist die Existenz von § 219a, der die Information darüber, welche Ärzt*innen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, als „Werbung“ kriminalisiert. Wenn ich auf die offensichtlichen Unterschiede zwischen dem lateinamerikanischen und dem europäischen Feminismus hinweise, möchte ich keinen Zwiespalt säen, sondern darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass wir zusammenarbeiten – was im Moment meiner Meinung nach nicht passiert.
Mich wundert zum Beispiel auch, dass es keine deutsche, bundesweite Koordination für den 8. März gibt. In Chile, Argentinien, Peru, Mexiko gibt es jeweils eine landesweite Koordination für „Ni una menos“ oder eben den 8. März, wo 80 Prozent der feministischen Organisationen vertreten sind. Anfang Februar fand zum Beispiel das „Plurinationale Treffen der kämpfenden Frauen“ statt, ein Treffen von feministischen Organisationen, wo Strategien und Ziele festgelegt werden. Die Einigung auf das grüne Halstuch für die Kampagne für Schwangerschaftsabbrüche fand auf solch einem Treffen statt. Falls es hier übergeordnete Strukturen überhaupt gibt, sind sie sehr schwach.

“Auf jeden Fall kommt mir die feministische Bewegung hier sehr zersplittert vor.”

Es gibt beispielsweise die lokalen Bündnisse für den 8. März oder den 25. November.

Die Koordinationen, die ich meine, machen viel mehr, sie gehen über den 8. März oder den Frauenstreik hinaus: Sie planen Aktionen für das ganze Jahr oder sogar die kommenden zwei Jahre. Dort einigen wir uns darauf, wohin wir wollen. Das fehlt hier. Auf jeden Fall kommt mir die feministische Bewegung hier sehr zersplittert vor. Gut, Chile ist ein sehr zentralisiertes Land, da ist eh alles auf die Hauptstadt konzentriert, aber auch in Argentinien, das föderal ist, gibt es eine übergeordnete Koordination für den 8. März. Dort sind alle Regionen vertreten.

Eure Gruppe hat verschiedene Kommissionen. Könntest du sie kurz erklären?

Nicht alle sind momentan aktiv, weil wir uns neu strukturieren, aber ich nenne dir mal einige. Da wäre zum einen Horneando al patriarcado, „Das Patriarchat backen“, eine Art Kochworkshop mit Gender-Perspektive, dann die Kommission, die den Blog redaktionell betreut, die Social Media Kommission, die ziemlich aktiv ist und die bereits eine gute Reichweite erzielt hat. Dann gibt es den Lesekreis, wo wir zum Beispiel Texte wie „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, „Feminismo para principiantes“ von Nuria Varela oder „Women, Race & Class“ von Angela Davis gelesen haben. Schließlich gibt es noch ein paar interne Kommissionen, vor allem die für rechtliche Fragen, die gerade am meisten ackert, denn wir wollen uns als Verein oder Stiftung aufstellen und müssen dafür sehr viele Fragen klären. Als gemeinnütziger Verein könnten wir nicht nur Anträge stellen, sondern auch die Zusammenarbeit mit AGISRA institutionalisieren. Dieser Prozess bindet gerade 80 Prozent unserer Kapazitäten, weil es uns als Nicht-Muttersprachlerinnen sehr schwerfällt, alle Feinheiten und Formulierungen zu verstehen. Schließlich haben wir noch die audiovisuelle Gruppe, die gerade eine Filmreihe vorbereitet, in Präsenz und mit Diskussionsrunden. In Pandemiezeiten war es schwierig, alles aufrecht zu erhalten, die ganze Arbeit wird von wenigen Aktiven, etwa zehn bis 20 Personen, gestemmt. In der Vergangenheit haben wir auch Demos oder die Performance von „Las Tesis“ für Köln mitorganisiert

Ihr habt auch eine Kunstausstellung gemacht: „MenstruARTE“, um die Menstruation zu entstigmatisieren. Die Ausstellung ist auf eurem Blog zugänglich. Habt ihr überlegt, die Werke real auszustellen?

Diese Idee hatten wir bisher noch nicht, die Online-Version hat aber bereits einiges an Aufsehen erregt. Das war ein recht spontanes, offenes Projekt, alle arten von Einreichungen waren möglich: Gedichte, Bilder, Videos.

Wichtig sind die gemeinsamen Ziele

Auf welche politischen Grundprinzipien hat sich eure Gruppe geeinigt?

Eine der wichtigsten Diskussionen kreiste um die Frage, ob wir Männer oder andere diverse Geschlechter aufnehmen wollen oder nicht. Wir entschieden uns für alle FLINTA. Welche Art von Feminismus wir vertreten, ist nicht festgelegt. Schließlich wollen wir, dass alle, die bei uns mitmachen wollen, aber vielleicht noch zweifeln, frei von Berührungsängsten sind.
Indem wir uns als Feministinnen bezeichnen, positionieren wir uns aber politisch. Wir arbeiten mit anderen migrantischen Frauenorganisationen zusammen, die sich selbst nicht als Feministinnen bezeichnen möchten. Eigentlich verfolgen sie die gleichen Ziele wie wir, lehnen aber diese politische Definition ab, auch wenn ihnen klar ist, dass sie einen ganz anderen Status haben als ihre männlichen Landsleute. Aber Feminismus hin oder her, wir reiten nicht darauf herum. Wichtig sind die gemeinsamen Ziele. Vielleicht ist es eine Frage der Zeit und irgendwann nennen sie sich auch stolz Feministinnen – meine positivistische Ader verleitet mich zu dieser Annahme!

1) Personen, die nicht der zweigeschlechtlichen Heteronorm entsprechen
2) Trans-Exclusionary Radical Feminism („Trans-ausschließender radikaler Feminismus“), wird für Feministinnen verwendet, die transgeschlechtliche Personen, insbesondere Transfrauen, entwerten, diskriminieren und Transidentität infrage stellen oder ihre Existenz leugnen. Letzteres wird auch Transmisogynie genannt.

Das Interview führte Britt Weyde am 9. Februar per Zoom

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 453 März 2022, hrsg, und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Britt Weyde (Interview) (Gastautorin):

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.