Der heilige Thomas von Aquin nennt eine Reihe von Gründen, warum Gott das Böse in der Welt zulässt. Im Gedächtnis geblieben ist mir nur jenes Argument, das ich als das stärkste empfunden habe: Das Böse existiert, damit das Gute etwas hat, worüber es siegen kann.
So, nur so bekam einst im Anfang der Heilsgeschichte der Erzengel Michael mit seinen himmlischen Heerscharen Gelegenheit, den Satan mit seiner bösen Horde blasphemisch gefallener Engel zu besiegen und ihn hinabzustossen in die tiefste Hölle. So, nur so kann in unseren Tagen der amerikanische Präsident Joe Biden als neuer Erzengel Michael mit seiner riesigen Heerschar verbündeter kleiner Engel – in vordersten Front die Engel Olaf und Annalena – Gelegenheit bekommen, den satanischen „Kriegsverbrecher Putin“ (Biden) zu besiegen und ihn hinabzustossen ins ewige Feuer.
Nicht einen Augenblick dürfen wir Christen zaudern, auf wessen Seite wir in diesem titanischen Kampf zwischen der Macht des Guten und der Macht des Bösen auch heute stehen. Mit unserem Erzengel Biden kämpfen wir kleinen Engel entschlossen den guten Kampf gegen das Böse.
Dennoch bleibt eine Frage.
Ist das Böse auch dazu da, um durch das Gute besiegt zu werden, so ist es doch Christen nicht unbedingt erlaubt, das Böse anders zu besiegen als auf christliche Art. Was aber ist die christliche Art im Umgang mit dem Bösen?
In der langen Geschichte unserer Religion kenne ich einen einzigen, der sich dazu überzeugende Gedanken gemacht hat. Das ist der kalvinistische Dichter John Milton, der „blinde englische Homer“. Auch bei ihm, in „Paradise Lost“, wird der Satan besiegt. Er ist ja dazu da, besiegt zu werden. Und doch schlägt Milton, wenn er über den Satan spricht, einen unverkennbar anderen Ton an als vor ihm Dante. Wie er bei Dante im alleruntersten Inferno hockt als unförmiger Moloch, dem aus drei grausigen Mäulern blutiger Geifer trieft, ist der Satan ein höllisches Urbild von Ekel und Hässlichkeit. John Milton hat Dantes Hölle sehr gut gekannt. Und doch stellt er den Satan anders dar: als jemanden, der Respekt verdient für den unerhörten Mut, mit dem er aufsteht gegen die Übermacht des Guten, gegen „the Tyranny of Heav´n“. Und für seine unbeugsame Selbstachtung: „Better to reign in Hell, than serve in Heaven“. Über den bösesten aller Bösen Feinde spricht Milton mit Fairness, altdeutsch gesagt: Er übt sich im Umgang mit dem Satan in einer Sprache des religiösen Anstands.
Anders die deutschen Medien heute: Was sie über den Bösen Feind im Kreml schreiben und sagen, klingt von Woche zu Woche dantesker. Schon schreibt ein besonders qualifiziertes Qualitätsmedium ein „Nürnberg II“ herbei. Dass er, wenn er nachgibt, am Galgen in Nürnberg enden könnte, ob das den Bösen Feind im Kreml in die Knie zwingen wird?
Vielleicht würden wir unseren lieben ukrainischen Freunden mehr nützen, wenn wir über den bösesten aller bösen Russen mit ebensoviel Respekt sprechen und schreiben würden wie einst John Milton, der „blinde englische Homer“, über den Satan selbst.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.
Es sind nun schon einige Wochen her, seit diese fromme Betrachtung aus der Feder von Hans Conrad Zander in diesem Blog erschien. Ich habe sie mehrere Male studiert. Unter den vielen Analysen und Kommentaren stellt sie für mich eine der klügsten Überlegungen dar, seit eine mächtige Propagandamaschinerie uns weismachen will: Putin ist der neue Hitler.
Gewiss: es ist für weniger fromme Zeitgenoss*innen eher ungewohnt, politische Vorgänge, die einem Krieg zugrunde liegen oder vorausgehen, aus der Perspektive von Glaubenswahrheiten (oder entsprechenden Annahmen) zu betrachten. Aber ist es nicht erstaunlich, wie Religion zur Unterscheidung der Geister beitragen kann?
Dabei sollten die Deutschen ihren Hitler doch kennen. Aber schon die halbherzige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit nach 1945 zeigte, dass es nicht gut ausgehen würde, die Verbrechen des Regimes – und der vielen begeisterten Volksgenossen und Parteigänger – einzig dem „Teufel Adolf Hitler“ anzulasten.
Nun haben also die „kleinen Engel Olaf und Annalena“ unter Führung des US-Präsidenten als neuem „Erzengel Michael“ die Gelegenheit ergriffen, den satanischen Putin zu besiegen und ihn „hinabzustoßen ins ewige Feuer“. Von Joseph Biden ist bekannt, dass er praktizierender Katholik ist. Olaf Scholz, evangelisch getauft, gilt nachdem er aus der Kirche ausgetreten ist als „erster konfessionsloser Bundeskanzler“. Bei seinem Amtseid verzichtete er auf die Formel „so wahr mir Gott helfe“. Außenministerin Baerbock wird ein „pragmatisches Verhältnis“ zu Glauben und Kirche nachgesagt: zwar schätze sie das soziale Engagement der Kirchen, sei aber selbst „nicht ganz“ gläubig.
Immerhin glaubt sie an eine feministische, wertebasierte Außenpolitik. Der amerikanische Präsident glaubt schon immer an die Mission der USA gegenüber den Völkern der Welt. Und der zögerliche Kanzler? Dass er keiner Kirche mehr angehört, muss sich – entgegen überkommenen Dogmen – nicht nachteilig auf sein Seelenheil auswirken. Doch in jüngster Zeit ist aus seinen wenigen öffentlichen Aussagen herauszuhören, dass er wohl auch an der Existenz des Teufels zu zweifeln beginnt.
In seiner Rede zum 8. Mai, dem Tag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, sagte er: „Einst kämpften Russen und Ukrainer gemeinsam unter größten Opfern, um Deutschlands mörderischen Nationalsozialismus niederzuringen.“ Und er beharrte auf sozialdemokratischer Entspannungspolitik: „Mit beiden streben wir seit Jahrzehnten nach Aussöhnung.“ Ein Satz nicht im Imperfekt, sondern im Präsens, merkte Michael Jäger im „Freitag“ (19/22) dazu an. Das lässt hoffen.