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Nichts bleibt wie es war

Zeitenwende wird wohl das Wort des Jahres 2022. Kaum eine politische Rede, Aktion oder Abhandlung kommt heute ohne dieses Wort aus. Laut Duden ist eine Zeitenwende das Ende einer Epoche oder Ära und der Beginn einer neuen Zeit, in der vieles nicht mehr so ist wie bisher. Glaubt man der Schilderung der derzeitigen Situation, dann befinden wir uns in einer solchen Phase. Ist diese Einstufung gerechtfertigt? Oder wird hier ein großes Wort für ein Geschehen verwendet, das so weltbewegend gar nicht ist?

Als originäre Zeitenwende gilt im christlich-europäischen Raum der Wechsel vom Jahr 1 v. Chr. zum Jahr 1 n. Chr.; ein Jahr Null gab es nicht. Anders ist es verständlicherweise im Islam. Dort beginnt die Zeitrechnung vor 1400 Jahren, als der Prophet Mohammed von Mekka nach Medina flüchtete.

Der Begriff Zeitenwende lässt sich auf verschiedenen Ebenen abbilden: technologisch bzw. wissenschaftlich (Entwicklung von Schlüsseltechnologien wie Feuer, Rad, Webstuhl, Auto, Computer, Atombombe); religiös und kulturell (Götterwesen, Monotheismus, Weltreli­gionen, Kirchenhierarchien); militärisch und diplomatisch (Staatenbildung, Imperialismus, Sozialismus, Weltkriege, Völkerrecht); klimatisch-ökologisch, ökonomisch (Ende der Eis­zeit, Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht, Erfindung des Geldes, Industrialisierung, Welthandel.)

Manche Zeitenwende lässt sich an einem konkreten Datum festmachen wie die Entde­ckung Amerikas oder der Terroranschlag vom 11. September 2001. Andere Zeitenwenden erstreckten sich über Jahre oder gar Jahrtausende wie z.B. der Übergang vom Sammeln und Jagen zu Ackerbau und Viehzucht oder die Entwicklung der Schrift. Je nach persönli­cher, öffentlicher oder wissenschaftlicher Betroffenheit, Überzeugung und Einschätzung gibt es eine Vielzahl und Vielfalt von sogenannten Zeitenwenden. Was sind weltbewegen­de Neuordnungen und was sind nur zeitweilige Verwerfungen? War die Coronapandemie schon Signal einer Zeitenwende?

Ist die Verwendung dieses Begriffs für die Änderungen, die die russische Invasion veran­lasst hat, im Vergleich zu anderen Zeitenwenden gerechtfertigt oder eher überzogen? Noch ist nicht zu übersehen, wie weitreichend die Folgen sein werden. Putins Krieg ist die Rück­kehr zu einem längst überwunden und vergangen geglaubten Politikverständnis. Krieg wird wieder zum Mittel der Politik, der Kalte Krieg lebt wieder auf. Gleichzeitig wird sich wohl das Bündnis der USA mit der EU vertiefen – politisch, ökonomisch und militä­risch.

Pessimisten befürchten ein Ende der Friedenszeit in Europa und eine Abkehr von der Entspan­nungspolitik. Rüstungsbegrenzungen und entsprechende Abkommen würden Teil der Ge­schichte. Aufrüstung würde das Gebot der Stunde, die Rüstungsspirale drehe sich wieder. Rüstungsexporte, auch in Krisengebiete, würden selbstverständlich. Pazifisten gäl­ten als Gegner von Freiheit und Selbstbestimmung, die Friedensbewegung müsse sich neu defi­nieren.

Manches ist vielleicht noch ungewiss, anderes aber schon Realität. Viele Selbstverständ­lichkeiten gelten nicht mehr. Manches früher Undenkbare wird Wirklichkeit: Die Regierung stellt hundert zusätzliche Milliarden € für den Verteidigungshaushalt bereit. Die NATO, die schon mal als überholt bezeichnet wurde, wird gestärkt und erweitert. Die Cyberab­wehr wird verschärft und für Auslandseinsätze eingesetzt. Die Ankündigung einer restrikti­ve Rüstungsexportpolitik entfällt. Die neuen Drohnen werden – anders als geplant – nun doch bewaffnet. Die Regierung erwägt die Anschaffung milliardenteurer Raketenabwehrsysteme und den Bau von Bunkern und Alarmsirenen. Die Wiedereinführung der Wehr­pflicht wird diskutiert. Die geplante strategische Autonomie der EU gegenüber den USA wird nicht mehr angestrebt. Polen gilt plötzlich als Brückenkopf des freien Europa. Die Aktienkurse der Rüstungsindustrie steigen.

Auch in der deutschen Umweltpolitik findet eine Zeitenwende statt. Der Verwendung fos­siler Energien soll weitaus rascher reduziert werden als bisher geplant. Allerdings nicht, weil das drohende Ende der Menschheit durch die Erderwärmung eine Zeitenwende im Umweltbewusstsein bewirkt hat, sondern wegen der Auseinandersetzungen mit Russland. Der Wirtschaftsminister hat Ostern ein Gesetzespaket mit mehr als 50 Maßnahmen zur Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien vorgelegt.

Sogar ein Ausstieg aus dem Kohleausstieg und längere Laufzeiten für Atomkraftwerke sind im Gespräch. Die Grünen verlangen unter Hinweis auf die Zeitenwende ein Tempoli­mit auf Autobahnen, die FDP lehnt dies unter Hinweis auf die Zeitenwende ab, weil derzeit auf Experi­mente verzichtet werden soll. Umweltschützer fordern die Landwirtschaft auf, mehr Le­bensmittel und weniger Pflanzen für Viehfutter, Agrosprit und Biogas (derzeit 60 %) anzu­bauen. Ölreichen ara­bischen Despoten wird die Aufwartung gemacht. Den Mine­ralölkonzerne beschert die Zeiten­wende hohe Spekulationsgewinne. Der Finanzminister (er)findet einen Trick nach dem an­deren, um zusätzliche Kredite aufzunehmen, ohne offizi­ell gegen die Schulden­bremse zu verstoßen.

Auch im ökonomischen Sektor ist eine Zeitenwende mit weitrei­chenden weltwirtschaftli­chen Auswirkungen. Manche dieser Probleme haben sich schon während der Coronapan­demie abgezeichnet: Lieferketten werden differenziert; neue Quel­len für unverzichtbare Rohstoffe werden gesucht; Produktionsstätten werden aus außereu­ropäischen Ländern zurückverlagert; die Abhängigkeit von Zuliefererbetrieben wird durch Diversifizierung ge­senkt; die Just-in-time-Produktion wird durch größere Vor­ratslager abge­sichert; das Risiko von Auslandsinvestitionen wird sorgfältiger geprüft. Dazu kommt der Ruf nach staatlichen Hilfen.

Manche missbrauchen die Zeitenwende, um damit persönliche Interessen einzubringen und zu rechtfertigen. Beispielsweise fordern solche Trittbrettfahrer die Änderung von EU-Umweltschutzplänen, z.B. die Wiedernutzung stillgelegter Agrarflächen und keine Redu­zierung des Pestizidverbrauchs. Die Rüstungsindustrie soll im EU-Taxationsschema als sozial und ökologisch wertvoll eingestuft werden. Vorgaben für die Anhebung der Energie­effizienz bei Neubauten sollen entfallen (CDU Baden-Württemberg).

Leider findet man in Politik und Medien kaum Hinweise oder Forderungen, dass es auch eine Zeitenwende – zumindest eine Trendwende – im Sozial-, Pflege-, Wohnungs- und Bil­dungssektor geben müsse. Und dass auch für andere Zwecke Milliarden-Investitionen vorzusehen sei­en. Laut Koalitions­vertrag will die Regierung „gewagte Forschungsideen“ fördern (S. 19 f.): klimaneutrale In­dustrie; nachhaltige Mobilität, Landwirtschaft und Ernäh­rung; ein moder­nes und krisenfes­tes Gesundheitssystem; technologische Souveränität in der Digitalisie­rung; gesellschaftli­che Resilienz in Gesellschaft, Demokratie und Frieden. Wir dürfen ge­spannt sein.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

3 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Wir erleben einen Angriff der Despotenvergangenheit – aller Seiten – auf die Zukunft. Den müssen wir zurückschlagen. Ob das gelingt, ist offener und gefährdeter denn je. Ob es eine Zeitenwende ist, werden Nachgeborene entscheiden. Wenn wir ihnen die Zeit dazu lassen. Und nicht stehlen.

  2. w.nissing

    Die Zeitenwende war um die 90er, nur wir (jedenfalls die meisten von uns) wollten oder konnten sie nicht sehen. Schon damals war zum Klima eigentlich schon alles gesagt ( jedenfalls vor meiner Haustür hat Wiebke Hallo gesagt) und wer 2+2 zusammenzählen konnte hätte das auch erkennen können. Militärisch……… ach da müssten wir tief im Atlantischen Graben tauchen um diesen Schatz von damals zu heben und ich befürchte, er ist für immer verloren

  3. w.nissing

    Nachtrag:
    https://makroskop.eu/spotlight/im-krieg-mit-russland/im-krieg-mit-russland/
    aber haben wir wirklich noch eine Politik die auch nur rudimentär in diesen Kategorien denken kann? Leider haben unsere Nachbarn die Chance vertan, sich einen Präsidenten mit diesen Qualitäten an die Macht zu wählen.

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