Corona und Solidarökonomie in einer brasilianischen Favela
In Lateinamerika forderte die Corona-Pandemie nicht nur überdurchschnittlich viele Todesopfer, sondern führte auch zur Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen. Zwar gab es mancherorts, vor allem während der ersten Welle, finanzielle Zuwendungen staatlicher Stellen, doch waren diese eher bescheiden und zeitlich begrenzt. Vor allem der großen Masse der im informellen Sektor Tätigen brachen die Einkünfte ganz oder teilweise weg. In den ärmeren Vierteln der Städte waren Hunger und wirtschaftliche Not ebenso lebensbedrohlich wie das Virus selbst. Den Menschen blieb nur Selbsthilfe, um ihr Überleben und das der noch Schwächeren, etwa Alte und chronisch Kranke, zu organisieren. Im folgenden Beitrag berichtet die afrobrasilianische Erzieherin und Menschenrechtsaktivistin Janete Nazareth, wie das Frauenkollektiv in der Favela Salgueiro in São Gonçalo, einer Nachbarstadt von Rio de Janeiro, die bereits vor der Pandemie begonnenen Strukturen der Solidarökonomie ausgebaut und damit Leben gerettet und den sozialen Zusammenhalt gestärkt hat.
In den 20 Jahren unserer Arbeit haben wir uns immer auf die Stärkung der Rolle der Frau konzentriert und die wirtschaftliche Emanzipation als etwas Grundlegendes verstanden, um die Ketten der Gewalt zu durchbrechen. Deshalb glauben wir, dass es immer um das Recht auf Leben gehen muss. Mitten auf dieser Reise kam es zu einer Pandemie, ohne Überlebenshandbuch und lange ohne Impfstoff. Überall um uns herum Tod und Unsicherheit, Menschen ohne Arbeit und viele ohne Nahrung. Ganz automatisch überlegten wir, was das Überleben unseres Kollektivs garantieren könnte. Schon bald verteilten wir alles, was wir verdienten, und machten uns gemeinsam Gedanken über die Ernährungssicherheit angesichts der drohenden Gefahr von Covid-19. Wir haben versucht, so vielen Menschen wie möglich zu helfen.
In dieser Zeit, in der vieles hin und her ging, haben wir an Bewegungen und Debatten teilgenommen, um unseren Widerstand im Gebiet des Complexo do Salgueiro in São Gonçalo zu stärken. Der Kampf für das Recht auf Leben bedeutete zuallererst, dafür zu sorgen, dass Essen auf den Tisch kam. Aus dem „Mein“ wurde ein „Unser“; unser Recht, Rechtssubjekte zu sein, menschliche Beziehungen zu schaffen, mit Zuneigung und Empathie.
Als alles zum Stillstand kam
Im ersten Jahr der Pandemie, als alles zum Stillstand kam, erlebten wir einen unglaublichen Aufbruch für das Recht auf Leben, auf eine ganz neue Art und Weise. Wir haben uns an die Nähmaschine gesetzt und Masken zum Spenden und Verkaufen hergestellt. Mit Unterstützung von Partnern haben wir Hygienesets, die auch Seife aus wiederverwendetem Altöl enthalten, zusammengestellt und verteilt. All dies mit emotionaler Nähe und Nachdruck, in einer Zeit, in der man so sehr auf Fürsorge und Zuneigung angewiesen ist.
Wir wissen, dass es neben der Verteilung der Lebensmittel wichtig ist, die Bevölkerung in der Favela über die von Covid-19 ausgehenden Gesundheitsrisiken zu informieren, Fake News zu bekämpfen, Schutzmaßnahmen öffentlich bekannt zu machen und Lebensmittel zu verteilen. Daher haben wir in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe LIQUENS der Universität des Staates Rio de Janeiro (UERJ) Informationspakete über Covid-19 erstellt und verteilt. Darin sind auf einfache Weise die Verwendung und Verdünnung von Bleichmitteln zur Desinfektion sowie die Verwendung von Masken und Handhygiene erklärt. Im Rahmen dieser Partnerschaft haben wir Materialien entwickelt, um wissenschaftliche Informationen in einfacher Sprache zu verbreiten, die einen Dialog mit der Bevölkerung zu den Themen Impfung, Ansteckung und Prävention ermöglichen. Genaue und zuverlässige Informationen ermöglichen es den Menschen, fundierte Entscheidungen zu treffen.
Im Jahr 2021 wurde der Aufruf des öffentlichen Gesundheitsinstituts Fiocruz zur Unterstützung von Notfallmaßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 in den Favelas von Rio de Janeiro veröffentlicht. Wir machten uns daran, unsere Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 zu verstärken und auszuweiten und zugleich inmitten des Pandemie-Chaos neue menschliche Beziehungen aufzubauen. So entstand das Projekt „Solidarmarkt“, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, und das waren vor allem Lebensmittel.
Die erste Aufgabe bestand darin, denjenigen wirklich zu helfen, die sich in einer sozial schwachen Situation befinden. Zu diesem Zweck haben wir ein Unterstützungsnetzwerk aufgebaut, an dem wichtige Akteure des Gesundheits- und Sozialwesens in der Region mitmachen. Gemeinsam legten wir die Empfänger*innen der zu erbringenden Dienstleistungen fest: bettlägerige Menschen, ältere Menschen, die nicht oder nur wenig mobil sind, Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, schwangere Frauen, Arbeitslose und alleinerziehende Mütter. Bei eingeschränkter Mobilität haben wir Lieferungen nach Hause übernommen.
Soziale Währung “Salgueiro Salva”
Bei der Beschaffung von Lebensmitteln wollen wir mit unseren Aktionen auch Sand im kapitalistischen Getriebe sein. Käufe bei großen Geschäftsleuten, die zu den Banken gehen und Kredite bekommen, die mit der Arbeit anderer Leute erwirtschaftet wurden, gibt es nicht. Unser Ziel ist es, die Preise in der Region auszuhandeln, Geld in Umlauf zu bringen und so die lokale Wirtschaft zu stärken. Wir haben die erste Soziale Währung von São Gonçalo eingeführt: Salgueiro Salva. Jede Familie erhielt eine solche Karte, die den Kauf von Lebensmitteln garantierte und ein Grundbedürfnis nach Nahrung deckt.
Unser Wunsch ist, dass das Projekt in der Tat die Perspektive einer verantwortungsvollen Produktion und eines verantwortungsvollen Konsums hat, die soziale Ungleichheit durch die Förderung eines Modells der peripheren wirtschaftlichen Organisation und die Schaffung von Synergien zwischen den lokalen Unternehmen, den Familienbetrieben und der Bevölkerung des Complexo do Salgueiro bekämpft und eine andere Möglichkeit für Beziehungen, Konsum und Rechtssubjektivität in einem städtischen Gebiet bietet. So konnten wir uns mit dem lokalen Handel verknüpfen, wir konnten Preise, Qualität der Produkte und Solidarität sichern. Es war alles andere als einfach, diese neue Logik auf die Tagesordnung unseres Gebiets zu setzen.
Eine unglaubliche Möglichkeit war die Partnerschaft mit dem Verband der familiären Landwirtschaft von São Gonçalo, der Siedlung Fazenda Engenho Novo/São Gonçalo. Wir haben agrarökologische Lebensmittel gekauft, jeweils etwa 775 kg, darunter Kohl, Kürbis, Gurken, Süßkartoffeln, Gurken, Zitronen, Bananen und Eier. Mit diesen bewährten Verfahren stärken wir die lokale Wirtschaft und die bäuerlichen Familienbetriebe in der Gemeinde.
Unsere Sozialwährung Salgueiro Salva soll den Real nicht ersetzen, sondern den Geldumlauf innerhalb der Gemeinschaft stimulieren, das heißt den in einer bestimmten Gemeinschaft erwirtschafteten Reichtum. Leider verfügen wir nicht über eine Gemeinschaftsbank, um diese Aktion zu verstärken, aber wir glauben, dass ein wichtiger Schritt in Richtung lokaler Entwicklung gemacht wurde.
Wir träumen
Wir träumen davon, die soziale Währung auf andere Gemeinschaften auszuweiten und das Bewusstsein für neue menschliche Beziehungen und Beziehungen zur Natur zu schärfen, die auf gesunden Lebensmitteln ohne Pestizide beruhen, die im harmonischen Umgang zwischen Mensch und Natur angebaut werden, und bei denen die Zeit eine wichtige Rolle bei der Produktion von Lebensmitteln spielt, um Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Wir wollen eine verantwortungsvollere, harmonischere und solidarischere Gesellschaft aufbauen, mit einer nachhaltigen Entwicklung, die auch in einem Favelagebiet gelebt wird.
Übersetzung: Lutz Taufer; https://casafluminense.org.br/outra-economia-e-possivel/. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 455 Mai 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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