Beueler-Extradienst

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Enttäuschungen vorprogrammiert?

Bundeskanzler Scholz, Präsident Macron und Mario Draghi sowie Klaus Johannis sind in die Ukraine gereist. Was sie erreicht haben, ist eine eindeutige politische Geste: den Einsatz für den EU-Kandidatenstatus. Der Besuch fand in einem Klima der überbordenden Erwartungen statt, die Präsident Selenskij und sein Botschafter Melnik durch ihre verzweifelte Medienstrategie gefördert haben.  Vor allem die Europäische Union, aber auch viele Politiker*innen des Westens wie die “drei Frustketiere” des Bundestages und zuletzt die deutsche Aussenministerin, getrieben von einer bellizistischen Medientendenz, haben unter diesem Druck voreilige Versprechungen gemacht, die sie möglicherweise nicht einhalten können. Viele mediale Besserwisser*inn*en organisieren derzeit damit eine Verengung des Diskurses im Freund-oder-Feind-von-Putin-Schema. Das ist beschränktes Schwarzweißdenken und befördert eine mögliche mediale und politische Niederlage der Ukraine und des Westens.

Verzweifelte Lage der Ukraine

Seit des Überfalls Russlands auf die Ukraine und des außerordentlich tapferen Widerstands der ukrainischen Armee hat sich seit dem 24. Februar ein Kriegsverlauf ergeben, in dem die zunächst überhebliche Strategie Russlands, in einer Art “Blitzkrieg” die Ukraine vernichten zu wollen, vorerst gescheitert ist. Die anfänglichen Kriegserfolge der besser motivierten und durchaus nicht schlecht gerüsteten Ukraine sind nach der taktischen Neuaufstellung der Aggressoren, die sich auf den Südosten der Ukraine konzentrieren, in Bedrängnis geraten. Es ist völlig verständlich, dass Präsident Selenskij und seine Regierung sich in einer verzweifelten Lage befinden, und sich deshalb mit einer historisch einmaligen Medienoffensive um die Solidarität des Westens bemühen. Trotzdem, und das scheinen manche zu vergessen, die von “Kriegsmüdigkeit” sprechen,  müssen die angesprochenen Regierungen, Parlamente und Bürger*innen legitimerweise bei aller Solidarität in ihrem eigenen nationalen oder europäischem Interesse denken und danach handeln. Denn sie haben gelobt, Schaden von ihrem Volk abzuwenden, nicht aber, ohne Rücksicht auf Verluste die Ukraine zu unterstützen. Die Freiheit Deutschlands und der EU wurde weder am Hindukusch verteidigt, noch wird sie es im Donbas.

Die realen Grenzen westlicher Solidarität

Bei aller Verurteilung des verbrecherischen Wort- und Zivilisationsbruchs Putins und der Unterstützung der Ukraine darf nicht außer Acht bleiben, dass der bewaffnete Konflikt nicht nur vor dem Hintergrund einer Atombewaffnung Russlands und einer Konfrontation mit der NATO stattfindet. Diese hat unmissverständlich klar gemacht, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat konsequent beantwortet würde – aber die Ukraine ist kein Mitglied der NATO und auch nicht der EU. Es gibt klare Grenzen westlichen Engagements:

1. keine Eintritt der NATO in einen Krieg mit Russland, deshalb auch keine “Flugverbotszone” über der Ukraine,

2. Waffenlieferungen nur in gemeinsamer, sorgfältiger Absprache der NATO-Partner, auch im Detail,

3. vorrangig Defensivwaffen, keine Angriffswaffen, die eine Eskalation in Richtung Russland ermöglichen würden. Deshalb sind die Raketensysteme, die die USA liefern, reichweitenbegrenzt, ebenso wie die Systeme, die Deutschland im Sommer liefern wird.

4. Keine Sanktionen, die einen EU-Partner oder Verbündeten existenziell mehr schädigen würden, als sie Russland treffen,

5. keine Lieferung aktueller Hightech-Waffen der NATO, die nicht in die Hände Russlands fallen dürfen, um die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses nicht zu schwächen.

Diese Grenzen werden in der Öffentlichkeit durch die Bundesregierung nicht hinreichend kommuniziert, was möglicherweise falsche Erwartungen geweckt hat. Allerdings haben auch diverse interessengeleitete “Thinktanks”, wie die “Liberale Moderne” (weder liberal, noch modern, aber bellizistisch) von Anfang an die Waffenlieferungen der Bundesregierung als unzureichend dargestellt. Darüber hinaus haben Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall schon vor Wochen geschickt die Angebote ihrer älteren, eingelagerten “Ladenhüter”, wie Leopard 1 Kampfpanzer und Schützenpanzer sowie ausgemusterte “Gepard” Flugabwehrpanzer, in die Öffentlichkeit lanciert, und haben in ihrem Geschäftsinteresse damit ein publizistisches Spiel “über Bande” mit einem Teil der Berliner Journalist*inn*en initiiert. Von denen einige, vor allem die von Springers WELT und BILD, allzu gerne den Ball aufgegriffen haben, um die Ampel vermeintlich auseinander zu dividieren.

Hilfeschrei nach “schweren Waffen” und die Lieferwege

Seit Wochen tun vor allem Vertreter*innen der genannten Richtungsblätter, aber auch zahlreiche andere Medienvertreter*inn*en in den Politik-Fiction-Talks von Illner bis Will so, als müsse man “schwere Waffen” für die Ukraine nur bei der Bundeswehr, Rheinmetall oder Krauss-Maffei-Wegmann bestellen, und Amazon würde tags drauf pünktlich um die Mittagszeit die gewünschten Güter bei Verteidigungsminister Olexij Resnikow  auf den Hof stellen.  Dabei hat sich schon am Beispiel der rasend schnell genehmigten MIG-29 Exporte aus DDR-Beständen in polnischer Hand gezeigt, dass es nicht möglich ist, ohne Verletzung des umkämpften ukrainischen Luftraums und damit der Gefahr, zur Kriegspartei zu werden, einfach mal so Kampfflugzeuge nach Kiew zu liefern. Dass Polen vorschlug, das sollten doch amerikanische Piloten von Ramstein aus machen, zeigt, welcher hemdsärmelige Dillettantismus in Sachen Waffentransport die friedensgewohnten Staaten des Westens an den Tag legen. Für viele Unterstützungs-Initiativen gibt es eben überhaupt keine Strukturen. Der geheim tagende Bundessicherheitsrat ist gewohnt, Waffenexporte wie U-Boote oder Panzer monatelang vorher zu begutachten und zu entscheiden, ist aber kein “Lieferando” der Rüstungskonzerne.

Zufällig ist der Autor dieses Artikels in einen Liefervorgang medizinischer Instrumente von einem Drittstaat in die Ukraine involviert, und es ist evident, dass für derartige Unterstützungen eines kriegführenden Staates die nötigen Strukturen von der Bestandsaufnahme, Abstimmung, über die Lieferung, Bezahlung durch unsere Regierung und die Abwicklung, Krisenstäbe und jede einzelne Station der Entscheidung erst einmal geschaffen und aufgebaut werden müssen. Das ist im Bereich der Waffenlieferung nicht anders, schließlich werden hier Steuergelder ausgegeben. Und die Lieferwege werden Tag und Nacht von Satelliten überwacht. Das als “Zögerlichkeit” zu skandalisieren, ist wohlfeil und billig.

Mediale Betroffenheitsstrategie

Die innovative Medienoffensive der Ukrainischen Führung hat im Westen vor allem dazu geführt, dass die Massenmedien im Westen Partei für die Ukraine und ihre verzweifelte Lage ergreifen, und die Sicherheitsinteressen der NATO und der EU vernachlässigen. Seit Wochen müssen sich die Bundesregierung, Macron und andere Staatschefs für die angeblich zögernde Haltung bei Waffenlieferungen rechtfertigen, die nur auf Vermutungen beruhen. Es ist die Aufgabe der Presse, die Regierung zu kontrollieren und für Fehler zu kritisieren. Allerdings fällt bei distanzierter Betrachtung die Vernachlässigung deutscher und EU- Interessen auf. Krieg ist brutal und immer mit Menschenrechtsverletzungen, Morden und Vergewaltigungen verbunden, sie gehören zum Wesen des Krieges, so brutal ist die Wahrheit. Dagegen erwecken manche Berichte den Eindruck, als wären die Gräuel gerade dieses Krieges eine Besonderheit. Aufschrecken, um “Kriegsmüdigkeit” vorzubeugen?

Ob die “Politiksimulationen” Illner, Lanz, und Co. hier aufklärerisch wirken, muss bezweifelt werden, denn sie haschen nach Quoten. Nachdem sie seit Kriegsbeginn weitestgehend immer wieder die gleichen “Expert*inn*en” einluden, tourte vergangene Woche der ehemalige Außenminister der Ukraine durch Deutschlandfunk, ZDF und ARD und verblüffte mit der kühnen Behauptung, wenn die Ukraine 2014 in der NATO gewesen wäre, wäre Putin nicht einmarschiert. “Dann hätte es damals schon Krieg mit der NATO gegeben” hat Alexander Graf Lambsdorff dieser These schon vor Wochen, damals geäußert von der sicherheitspolitisch unbeleckten Marina Weisband, widersprochen. Statt über Konfliktlösung nachzudenken, wird derzeit medial auf dem Niveau “Hätte, hätte, Fahrradkette” schwadroniert.

Denkbare Kriegsend-Szenarien

Der derzeitige Kriegsverlauf lässt nach wie vor keine klaren Aussagen über den Zeitpunkt zu, in dem beide Seiten, vor allem aber Russland bereit für Verhandlungen wären. Deshalb sind auch die folgenden Szenarien letztlich Spekulation:

1. Russland erobert Schritt um Schritt nicht nur Donbas, die Ostukraine und Odessa, sondern rückt von dort aus weiter nach Norden vor. Diese Variante setzt allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit einen lang andauernden, mehrjährigen Krieg voraus, der jederzeit das Risiko der Eskalation – auch mit atomaren Gefechtsfeldwaffen – und eine Ausweitung des Kriegs über die Ukraine hinaus in sich birgt. Trotzdem – ein “Erfolg” der Ukraine läge schon darin, dass Russland nicht weiterkommt. Motor eines Szenarios der Verhandlungsbereitschaft: Beide Kriegsparteien sind von Verlusten an Menschen und Material sowie ökonomisch erschöpft. Durchaus eine denkbare, für die Ukraine ungünstige Variante, bei der es faktisch nur Verlierer gibt, und eine starke Verhandlungsposition Russlands.

2. Die russische Invasion kommt nach langen Kämpfen zum Stehen und hat entweder Luhansk, den Donbas und Odessa bis zur Krim okkupiert, oder wäre ein Stück zurück gedrängt worden, Odessa bliebe dann ukrainisch, möglicherweise werden die russische Armeen auch ein Stück in Richtung der 2014 okkupierten Gebiete zurückgedrängt. Die bessere Variante als 1, eher erreichbar und realistischer. Auch hier kommt es erst zu Verhandlungen – und darin liegt ein besonderes Risiko, wenn auch Russland den Grenznutzen der Kriegsführung überschritten sieht. Angesichts der Opfer furchtbar, aber ein beachtlicher Erfolg der Ukraine. Ein Waffenstillstand für beide Seiten wäre gesichtswahrend kommunizierbar, was die Bereitschaft Russlands zu Gesprächen fördern könnte.

3. Die Ukraine kann die Invasion Russlands aus dem Donbas und den bisher eroberten Gebieten hinter die Linie von 2014 zurückdrängen, würde wie in Variante 1 aber möglicherweise den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen seitens der Aggressoren nicht ausschließen. Zerstörungen oder Terrorangriffe Russlands gegen den Westen der Ukraine nicht ausgeschlossen. Wie in der 1. Variante ein hohes Eskalationsrisiko. Weniger Wahrscheinlich als 2., ein glücklicher “Sieg” des ukrainischen Militärs, aber nicht völlig ausgeschlossen.

4. Die Ukraine erobert die 2014 besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurück und vertreibt Russland vollständig aus der Ukraine. Ein derzeit völlig unrealistisches Szenario, das geradezu überirdische militärische Kräfte der Ukraine voraussetzen würde und die Bereitschaft Russlands, wiederum taktische nukleare Gefechtsfeldwaffen einzusetzen, noch weiter erhöhen würde. Ob Putin das wirklich tun würde, ist schwer abzuschätzen. Deshalb und wegen der geringen Wahrscheinlichkeit, dieses Kriegsziel zu erreichen, wäre es im eigenen Interesse töricht und gefährlich, wenn die ukrainische Regierung oder gar der Westen dieses Szenario ernsthaft öffentlich zum Kriegsziel erklären würden.

In allen vier Szenarien wäre in Waffenstillstandsverhandlungen zu klären:

– realistische Vereinbarungen über einen dauerhaften Grenzverlauf und Ausgleich von Gebietsansprüchen unter Garantie der Souveränität der Ukraine,

– ob und wie eine militärische Neutralität der Ukraine dauerhaft Grundlage einer Stabilisierung eines Waffenstillstands dienlich sein könnte, Abzug russischer Truppen aus der Ostukraine,

– inwieweit und durch welche Staaten und Maßnahmen die Sicherheit der Ukraine und der Region garantiert werden kann, wobei zu berücksichtigen ist, dass Russland die Abkommen von Budapest und Minsk gebrochen hat,

– welche Sicherheitsgarantien Russland als Alternative zur nicht verhandelbaren, weil erfolgten Osterweiterung der NATO akzeptiert, ggf. Einrichtung einer breiten demilitarisierten Zone in Osteuropa,

– Regelung der Kosten des Wiederaufbaus in den Kriegsgebieten,

– Regelungen zur Freizügigkeit der Personen und z.B. Schaffung einer Freihandelszone in den ehemals besetzten Gebieten in der Ostukraine,

– Regelungen über die Freiheit zur Teilhabe der Westukraine an Wirtschaftsbündnissen wie der EU,

– Bedingungen der schrittweisen Aufhebung von Sanktionen und Normalisierung des Handels.

Dem Autor ist bewusst, mit diesen Spekulationen möglicherweise grundlegend zu irren. Aber die kontroverse Diskussion über Auswege aus der Krise ist weit wichtiger, als die derzeitige Verengung des öffentlichen Diskurses auf immer neue Waffenlieferungen oder die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die einen militärischen Sieg über Russland oder einen Regimewechsel im Kreml voraussetzen würde.

Irrlichternde EU-Kommissionspräsidentin

Mit ihrer Reise in die Ukraine und ihr Angebot der EU-Mitgliedschaft hat Ursula von der Leyen voreilig falsche Erwartungen geweckt. Die Reise der vier Regierungschefs hat dies nun vorläufig mit politischem Gewicht unterfüttert. Die EU-Perspektive der Ukraine, dass wissen alle, wird eine sehr, sehr langfristige sein. Die Verleihung des Kandidatenstatus, das zeigt der Fall Türkei, kann viele Jahre oder gar Jahrzehnte nichts konkretes bedeuten. Das wird zwangsläufig Enttäuschungen nach sich ziehen, verlangt Besonnenheit. Der Kandidatenstatus der Ukraine birgt innerhalb der EU Probleme, und solche mit Beitrittskandidaten:

Speziell mit Serbien, ebenfalls EU-Beitrittskandidat, drohen Probleme: Seit Jahren wird die ehemalige Kernrepublik Jugoslawiens, die nach wie vor gute Beziehungen zu Russland pflegt, eher ferngehalten. In der Pressekonferenz von Vucic und Scholz wurde überdeutlich, dass die deutschen Bomben auf Belgrad im Kosovo-Krieg nicht vergessen sind. Für die EU wäre es eine Katastrophe, würde sich Serbien einer wie auch immer geARTEten russisch geführten Wirtschaftsgemeinschaft anschließen, in der sie nicht gezwungen wären, Realitäten und damit den Kosovo politisch anzuerkennen. Bereits in der kommenden Woche wird sich zeigen, ob Viktor Orban in der EU wieder aus der Reihe tanzen wird. Das macht deutlich: Es geht wirklich um eine politische Neuordnung Europas. Ob Ursula von der Leyen hierfür das notwendige Geschick und Fingerspitzengefühl aufbringt, darf bezweifelt werden.

Irrweg der “werteorientierten” Außenpolitk

Die Bewertung der Außenpolitik seit den 70er Jahren steht derzeit ebenso in der Gefahr einer Geschichtsrevision, wie die realpolitische Diplomatie von Henry Kissinger, Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. Diese verfolgten die realpolitische Linie, anstatt lautstark über Menschenrechtsverletzungen zu tönen, pragmatisch Menschen zu helfen. Statt den Starrsinn und die Reformunfähigkeit Honeckers anzuprangern, erreichte Genscher in stiller Diplomatie die Freilassung der Botschaftsflüchtlinge in Prag. Ob es klug für eine deutsche Außenministerin und die  EU-Kommissionspräsidentin sein kann, “die Ukraine muss Siegen” zu erklären, sei dahin gestellt. Es macht sie nicht gesprächsfähiger.

Wie widersprüchlich die neue, angeblich “menschenrechtliche” Außenpolitik ist, zeigen nicht nur die – notwendigen – Verbeugungen des grünen Wirtschaftsministers vor den qatarischen und emiratischen Despoten für Gas- und Öl, die in der derzeitigen Lage verständlich sind. Völlig absurd und mit den selbst formulierten Ansprüchen gänzlich unvereinbar ist, bei allem Engagement für Nawalny, die völlige Ignoranz der Bundesregierung gegenüber dem Umgang der britischen Justiz und Regierung mit dem Journalisten und Menschenrechtler Julian Assange. Wenn eine “werteorientierte Außenpolitik” keinen Finger rührt, wenn ein Journalist und Whistleblower, der illegale Morde an Zivilpersonen durch US-Militär aufgedeckt hat und dafür eigentlich den Pulitzer-Preis verdient hätte, von der britischen Regierung in vorauseilendem Gehorsam an die USA ausgeliefert wird, führt sie ihre eigenen Ansprüche ad absurdum.

Welcher Sieg ist wirklich realistisch? 

Ursula von der Leyen, Annalena Baerbock und Marie-Agnes Strack-Zimmermann haben wiederholt erklärt, dass “die Ukraine siegen muss.” Was für ein Sieg das sein soll, haben sie nicht spezifiziert. Der Kanzler hat wiederholt erklärt, dass “Putin nicht gewinnen darf” – das ist etwas anderes. Es ist zu hoffen, dass Baerbock und v.d.Leyen damit nicht ein Szenario wie das vierte gemeint haben. Denn das würde ernsthafte Zweifel an der  Realitätstauglichkeit der Außenpolitik der wichtigsten Repräsentantinnen deutscher und europäischer Außenpolitik begründen. Die Frage nach einer Zukunft, wie nach Beendigung des Krieges eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur aussehen könnte, wird derzeit weder gestellt, noch erörtert. Dabei könnte dies doch eine Chance für die Ampelregierung sein, ein gemeinsames programmatisches Politikfeld zu entwickeln.

Waffenstillstand und Verhandlungsziele müssen vermittelbar sein

Wenn die Regierung Selenskij Waffenstillstandsverhandlungen – in welcher Konstellation auch immer – führen wird, muss sie die Ergebnisse auch vor ihrer Bevölkerung vertreten und rechtfertigen können. Auch vor diesem Hintergrund gibt es nicht nur die Verantwortung für die Staaten Europas und der EU, dass niemand der Ukraine “gute Ratschläge” erteilen sollte, wo die Verhandlungsergebnisse liegen könnten. Es erfordert auch, dass im Vorfeld bedacht werden muss, keine Ziele zu setzen oder zu unterstützen, die unrealistisch sind. Nur radikale Realpolitik in der Außenpolitik wird die Krise der europäischen Friedensordnung überwinden können.

Wo wird eine außenpolitische Strategie für Europa erdacht?

Das ist eine entscheidende, eine strategische Herausforderung für diese Bundesregierung, die darauf nicht vorbereitet zu sein scheint. Dass es in der Tradition von Scheel, Genscher, Kinkel und Westerwelle keinerlei liberale Vorstellungen von Außenpolitik mehr gibt, Hau-Ruck Bellizismus einer Marie-Agnes Strack-Zimmermann liberale Außenpolitik prägt, ist ein großes Problem, zumal Lindner an Außenpolitik kein erkennbares Interesse zeigt.

Der Grünen-Vorsitzenden Annalene Baerbock ist genau wie Joschka Fischer kurz nach Regierungsantritt die Verantwortung für Außenpolitik in einem Krieg in den Schoß gefallen. Sie hat sich besser als viele vermuteten, geschlagen, aber eine Strategie ist bei ihr nicht erkennbar. Die grüne Partei von Habeck bis Hasselmann beschäftigt sich vorrangig damit, zu “hadern”, sprich zum zweiten Mal seit dem Kosovo-Krieg die Wurzeln aus der Friedensbewegung zu kappen und wie Anton Hofreiter ins andere Extrem zu verfallen.

So sind als Hoffnungsträger für eine zu entwickelnde gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur der Zukunft Olaf Scholz und Rolf Mützenich besonders gefordert. Denn auch die SPD hat mit Heiko Maas und Michael Roth keinerlei erkennbare außenpolitische Ideen entwickelt. Dass Europa nicht mehr der “Nabel der Welt” ist, haben der Kanzler und die Außenministerin bereits am Verhalten Indiens und Chinas, aber auch der Afrikanischen Union in Sachen Ukrainekrieg feststellen müssen. Auch in den USA mehren sich kritische Stimmen, die Joe Bidens Engagement hinterfragen. Er steht vor wichtigen Wahlen, bei denen die Demokraten die hauchdünne Mehrheit verlieren können. Trump muss da gar nicht gewählt werden, um zu erkennen, dass die Zeit drängt.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

5 Kommentare

  1. Reinhard Olschanski

    „So sind als Hoffnungsträger für eine zu entwickelnde gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur der Zukunft Olaf Scholz und Rolf Mützenich besonders gefordert.“ – Weia, Roland Appel. Last man standing der Sozialdemokratie? (-:

    • Martin Böttger

      Lieber Reinhard, wo genau ist hier jetzt ein Argument?

  2. Andreas Obersteller

    Es wäre gut, wenn dieser Artikel, der die Situation im Krieg in der Ukraine und -ganz wichtig – die Sicherheitsinteressen aus westlicher (NATO, EU, Deutschland) Sicht beleuchtet, mal im Auswärtigen Amt gelesen wird. Dort scheint nichts in der Schublade zu liegen, wie dieser von Russland begonnene verbrecherische Krieg beendet werden kann und – vor allem – was dann dafür von Deutschland politisch/ diplomatisch beigetragen werden kann. Die ständigen Forderungen nach Waffenlieferungen gerade von deutschen Politikern (in einer seltsamen Allianz von Grünen, manchen in der FDP und Union mit maßgeblicher Unterstützung von ARD, ZDF, SPIEGEL, Springer-Blätter, Tagesspiegel, FAZ) offenbaren nur den fehlenden Realismus deutscher Außenpolitik. Denn wenn deutsche Waffenlieferungen auch nicht zum Ziel eines „Siegs“ der Ukraine führen, dann müßte konsequenterweise Generalfeldmarschall von Hofreiter ja persönlich an der Spitze deutscher Truppen in die Ukraine einreiten und die Atommacht Russland vertreiben. Wir waren schon mal weiter!

  3. Hans Schmidt

    Über das Ende dieses Krieges wird in Washington und Moskau, evtl. in Beijing, entschieden, aber doch nicht in Berlin oder Brüssel! Die Frage muss erlaubt sein: was sind die geostrategischen Interessen Washingtons, und sind diese kompatibel mit denen Europas?

    • Martin Böttger

      Ja klar ist die erlaubt. Sogar Antworten. Und Streit darüber ist sogar notwendig.

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