Am 24. Juni 2022 startete der Bundestag die Neuregelung der Sterbehilfe. Seit 2015 bedrohte § 217 StGB die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung mit einer Höchststrafe von drei Jahren Haft. Straffrei blieb, wer nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des Betroffenen ist oder ihm nahesteht. Der Gesetzgeber wollte damit der Aktivität von Sterbehilfevereinen entgegentreten. Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht am 26.2.2020 wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Daher gilt nunmehr wieder die frühere Rechtslage, wonach Suizidhilfen straffrei sind. Der Deutsche Ärztetag hat daraufhin im Mai 2021 das strikte Verbot der Suizidhilfe aus der Berufsordnung für Mediziner gestrichen. Hilfe zur Selbsttötung sei trotzdem keine Aufgabe der Ärzteschaft, betonte die Kammervertretung.
Damit wurde eine langjährige Forderung von Bürgerrechtsorganisationen erfüllt, den Suizid und die Suizidhilfe nicht weiterhin zu kriminalisieren. Sie plädieren darüber hinaus für eine konsequente Enttabuisierung des Suizids und für flächendeckende, niederschwellige Angebote zur Suizidprävention und zur Suizidberatung. Erwartet wird ein geregelter legaler Zugang zu einem tödlichen Medikament und die Ermöglichung vielfältiger, unterschiedlicher Formen von Suizidbegleitung, die der Pluralität in unserer Gesellschaft entsprechen.
Offenbar hält eine Reihe von Politiker/innen eine gesetzliche Regelung der Suizidhife für unumgänglich. So heißt es in der Koalitionsvereinbarung der Ampel: „Wir begrüßen, wenn durch zeitnahe fraktionsübergreifende Anträge das Thema Sterbehilfe einer Entscheidung zugeführt wird.“ Also keine Meinungsbildung und Initiative der Regierungsmehrheit, sondern Überwälzung der Verantwortung auf einzelne Abgeordnete. Solche Gewissensentscheidungen kennen wir schon aus anderen Anlässen, z.B. bei der Impfpflicht (wo das Verfahren krachend gescheitert ist), der Organspende, der Verjährung von Naziverbrechen, der Ehe für alle, dem Abtreibungsrecht und der Verlegung der Hauptstadt nach Berlin (!). Da fragt man sich ernsthaft, wann das Gewissen der Abgeordneten sich regt und wann es in der Schublade bleibt. Werden denn Entscheidungen über Waffenexporte, Atomausstieg, Asylrecht, Hartz IV oder sexuellen Missbrauch unabhängig vom Gewissen getroffen?
Inzwischen wurden dem Bundestag drei Gesetzesentwürfe zur Sterbehilfe vorgelegt, die am 24. Juni in erster Lesung im Bundestag beraten wurden. Der erste Entwurf – eingebracht von Abgeordneten aller Fraktionen außer der AfD (Castellucci u.a.) – ist der rigoroseste: Er will die Beihilfe zum Suizid wieder unter Strafe stellen, außer wenn die sterbewillige Person volljährig und einsichtsfähig ist, zwei psychiatrische und psychotherapeutische Untersuchungen absolviert hat, an mindestens einem ergebnisoffenen Beratungsgespräch teilgenommen hat, eine freie Entscheidung ohne Druck zu unterstellen ist und eine letzte Wartefrist von mindestens zwei Wochen vorliegt. Ein neuer § 217a StGB soll „Werbung für die Hilfe zur Selbsttötung“ und das Angebt von Sterbehilfe um „seines Vermögensvorteils wegen“ oder „in grob anstößiger Weise“ unter Strafe stellen.
Ein Gesetzentwurf aus Kreisen der FDP, SPD und Linken (Henning-Plahr u.a.) bestätigt das Recht auf selbstbestimmten Suizid und die Berechtigung, dazu Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine neue strafrechtliche Regelung für Suizidhilfe wird verworfen. Vorgesehen ist eine ausführliche Beratung (für die ein Netz von staatlich anerkannten Beratungsstellen aufgebaut werden soll), die der Ärztin/dem Arzt die „Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit des Sterbewunsches“ bescheinigt. Frühestens zehn Tage danach dürfen Ärzt/innen tödliche Medikamente zur Selbsteinnahme verabreichen.
Der dritte Entwurf, verfasst von den Grünen Künast und Keul, sieht zwei Wege zur Suizidhilfe vor: Personen in einer schwierigen medizinischen Notlage können aufgrund einer gemeinsamen Diagnose ihrer/s Hausärzt/in und einer/s weiteren Mediziner/in ein tödliches Medikament verschrieben bekommen. Wer nicht in einer solchen Notlage ist, müsse sich im Abstand von mindestens zwei bis höchstens zehn Monaten zweimal von einer unabhängigen Beratungsstelle beraten lassen und darlegen, dass keine Zweifel an einer autonomen Entscheidung bestehen. Zudem soll er/sie den Sterbewunsch samt Ursache und Dauerhaftigkeit schriftlich niederlegen.Die Entscheidung über die Abgabe des Medikaments trifft dann eine Behörde.
Der erste Antrag ist offenkundig ein Suizid(hilfe)-Abschreckungsantrag und dürfte kaum den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. Er bevormundet die Sterbewilligen und baut so viele Hürden wie möglich auf. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch jedem einzelnen ausdrücklich das Recht auf einen frei verantworteten und selbstbestimmten Freitod und das Recht zugestanden, dazu Hilfe in Anspruch zu nehmen. Von psychiatrischen Untersuchungen und Strafandrohung bei Suizidhilfe ist dort nicht die Rede. Da es bei der Suizidassistenz nicht um eine Schutzpflicht gegenüber Dritten geht, bleibt deren grundsätzliche Kriminalisierung fragwürdig. Diesem Antrag werden dennoch große Chancen zugesprochen, vor allem, weil er fraktionsübergreifend entstand.
Auch die beiden anderen Entwürfe sehen eine Beratungspflicht vor, während das BVerfG das freie Entscheidungsrecht des einzelnen betont. Wer Beratung sucht, wird sie auch finden. Ausreichend wäre eine Art Aufklärungspflicht durch die/en freitodbegleitende/n Arzt/Ärztin. Beide Entwürfe dokumentieren allerdings eine liberale Einstellung zum Freitod. Sie kriminalisieren die Suizidhilfe nicht, sichern die Freiverantwortlichkeit der Suizidentscheidung und regeln die Zugänglichkeit von Hilfen. Beide Entwürfe öffnen den Zugang zum tödlichen Medikament und bestimmen die Aufhebung berufsrechtlicher Verbote.
Es ist bedauerlich, dass sich diese beiden Antragsteller/innen nicht auf einen einheitlichen Entwurf verständigen konnten. Vielleicht gelingt dies noch bis zur Entscheidung, die für Oktober vorgesehen ist. Sollte dies nicht sein, so besteht bei drei alternativen Anträgen die Möglichkeit, dass keiner eine Mehrheit findet. Dann bleibt es bei der „offenen“ Rechtslage, die den Betroffenen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung gewährleistet. Hier taucht die Befürchtung auf, dass Menschen bei einer lockeren Handhabung der Sterbehilfe zunehmend aus Lebensüberdruss, wegen schwerer Krankheit oder gar aus Angst vor einem Pflegeheim Suizid begehen. Dagegen sprechen jedoch die Erfahrungen in der Schweiz, wo Suizidhilfe schon längere Zeit erlaubt ist und sich solche Entwicklungen nicht gezeigt haben.
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