Interview mit Professor Luis Felipe Miguel von der Universität Brasília

Die Veröffentlichungsliste von Luis Felipe Miguel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Brasília, auf der Website von Demodê (Forschungsgruppe für Demokratie und Ungleichheiten) ist gelinde gesagt beeindruckend. Miguel ist Koordinator dieser Forschungsgruppe und ein geschätzter politischer Analytiker. Deswegen ist er ein vielgefragter Interviewpartner, gerade auch vor den Wahlen in Brasilien. Umso erfreulicher, dass er Zeit für ein Skype-Interview mit der ila fand.

Sie haben in Ihrem Buch „Democracia na periferia capitalista“ geschrieben, dass sich die brasilianische Demokratie in einer Krise befindet. Woran machen Sie diese Krise fest?

Der Übergang vom Militärstaat zur Demokratie in Brasilien dauerte sehr lange und war komplex. Er führte unter anderem zur Verfassung von 1988, die sehr klar die Instrumente einer liberalen Demokratie festschrieb. Dazu gehörten Gewaltentrennung, Herrschaft des Gesetzes, freie Wahlen mit universellem Wahlrecht, also all jene Mechanismen, die das Funktionieren einer Demokratie garantieren. Im Großen und Ganzen wurde das umgesetzt, auch wenn es Probleme gab. Etwa die Kontrolle der Medien durch wenige. Oder die sehr große soziale Ungleichheit. So wurden die Rechte und Garantien in der Verfassung für die ärmeren Bevölkerungsschichten, für die Marginalisierten nie voll umgesetzt. Trotz allem war der Weg bereitet für eine Demokratie.

Diese geriet in die Krise ab dem Augenblick, wo einige politische Sektoren in Brasilien zu der Auffassung kamen, dass sie Wahlergebnisse nicht respektieren müssen. Der große Moment des Bruchs der Demokratie ereignete sich nach den Präsidentschaftswahlen 2014, als diejenigen Gruppen, die zum vierten Mal die Wahlen verloren hatten, entschieden, das demokratische Spiel nicht mehr mitzumachen, also eine politische Kraft zusammenzubringen, die bei folgenden Wahlen die von ihnen gewollten Veränderungen erreichen würde. Stattdessen beschlossen sie, die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff mittels eines parlamentarischen Staatsstreichs abzusetzen, der vonseiten der Justiz und der Medien stark mitbetrieben wurde. Ebenso stark, wenn auch verdeckt, vonseiten der Militärs, die die Unternehmer unterstützen. Es kam zu einem Impeachmentverfahren, das formell gesetzeskonform war. Tatsächlich aber hatte Dilma Rousseff keins der Verbrechen begangen, die nach dem brasilianischen Gesetz die Absetzung einer Präsidentin rechtfertigen. Im brasilianischen Präsidialsystem kann das Staatsoberhaupt nicht vom Parlament abgesetzt werden, sondern hat ein Mandat vom Volk. Er oder sie kann nur abgesetzt werden aufgrund schwerwiegender, gesetzlich definierter Verbrechen. Das zeigt, dass bestimmte Sektoren sich nicht mehr an das Wahlspiel gebunden fühlten.

Im Ergebnis führte das zur Regierung eines Rechtsextremen. Warum konnte die bürgerliche Rechte, die den Sturz der Regierung von Dilma Rousseff vorangetrieben hatte, die Schwäche der PT nicht nutzen, sondern musste das Feld einem wie Bolsonaro überlassen?

Als die Rechte entschied, Dilma abzusetzen, ging es nicht allein darum, eine bestimmte Präsidentin loszuwerden, sondern auch darum, ein Programm des Abbaus sozialer Rechte umzusetzen, also Arbeiterrechte zurückzunehmen, zu privatisieren, den Staat aus der Wirtschaft zu verbannen. Dafür wurde sie abgesetzt. Die moderate Rechte glaubte anfangs, sie könne diesen Prozess anführen. Sie hatte die meisten Abgeordneten; der Vizepräsident, der Dilma ersetzte, war einer der ihren. Aber die Straße musste ebenfalls mobilisiert werden, um der Sache Legitimität zu verschaffen. Die Mittelschichten waren zwar zuerst dort, aber deren Diskurs zündete nicht. Die moderate Rechte glaubte, sie könne die extreme Rechte funktionalisieren, um breiten Widerstand gegen Dilmas Agenda zu mobilisieren, sie dann auf Abstand halten und insgesamt die Zügel in der Hand behalten. Aber das Kalkül ging nicht auf. Ein Diskurs gegen die traditionelle Politik Dilmas ging gegen die Linke, aber auch gegen die gemäßigte Rechte. Dieser Diskurs setzte sich auf der Straße durch. Dilma wurde 2016 abgesetzt. Wir hatten dann zwei Jahre lang eine rechte Regierung unter Michel Temer, die in wirtschaftlicher Hinsicht ultraliberal war, die viele der sozialen Errungenschaften der gesamten Zeit der Demokratisierung zerstörte. Gleichzeitig war es eine autoritäre Regierung, weil sie einige wichtige Stimmen der Opposition kaltzustellen versuchte. Aber es war noch keine extremistische Regierung, wie sie danach kam.

Der Plan war, bei den Wahlen 2018 jemanden aus der traditionellen Rechten wählen zu lassen und mit dem Wahlsieg den Staatsstreich zu legitimieren. Aber das klappte nicht. Lula musste am Ende verhaftet werden, um zu verhindern, dass er 2018 anträte und wiedergewählt würde. Das war sozusagen ein vorgezogenes Impeachment. Statt zu warten, dass er gewählt würde, um ihn dann wie Dilma abzusetzen, zogen sie ihn gleich aus dem Verkehr.

Damit handelte es sich schon um Wahlen ohne Legitimität. Mehr noch: Dem Kandidaten der traditionellen Rechten gelang es nicht, breite Unterstützung zu bekommen. Er kam am Ende auf weniger als fünf Prozent der Stimmen. Die traditionelle Rechte hatte daher zwei Optionen: entweder die Rückkehr der PT an die Regierung mit einem Ersatz für Lula zu akzeptieren, der durchaus moderat war, oder jemanden zu akzeptieren, der unfähig war und dem Faschismus nahestand wie Bolsonaro. Ihre Option war Bolsonaro. Die traditionelle Rechte hätte lieber jemanden der Ihren gehabt. Aber da dieser sich als chancenlos erwies, zogen sie einen Rechtsextremen dem Kandidaten einer moderaten Linken vor. Der Grund war die Absicht, ein für alle Mal die soziale Absicherung, die Rechte der Arbeiterklasse und von Minderheiten zu zerstören, deren Umsetzung durch die Verfassung von 1988 möglich geworden und begonnen worden war.

Als in Honduras 2007 Mel Zelaya durch einen parlamentarischen Putsch gestürzt wurde, formierte sich umgehend eine breite Widerstandsbewegung. Sie konnte den Putsch zwar nicht rückgängig machen, hat aber die Parteienstruktur verändert und am Ende erreicht, dass Xiomara Castro im vergangenen Jahr die Wahlen gewinnen konnte. Warum hat die soziale Basis der PT, also die Menschen, deren soziale Lage sich während der Regierungszeit der PT verbessert hat, die Regierung von Dilma Rousseff 2016 nicht energischer verteidigt?

Keine andere Reaktionsart im politischen Werkzeugkasten als das Wählen

Da muss man sich kritisch ansehen, was die Erfahrung der Regierung der PT, also der Mitte-Links-Regierungen im Laufe von dreizehn Jahren in Brasilien war. Denn es waren Regierungen, die zu einer starken Demobilisierung ihrer sozialen Basis führten. Ich glaube, dass Lula und Dilma in ihren jeweiligen Präsidentschaften einen Tauschhandel versuchten. Sie setzten darauf, dass unsere herrschenden Klassen Fortschritte bei der Reduzierung extremer Vulnerabilität, von Elend, von einem Teil der Ungleichheit in Brasilien zulassen würden, wenn es dabei eine Garantie gäbe, dass dieser Prozess unter Kontrolle blieb. Um letzteres zu erreichen, durfte die soziale Basis nicht mobilisiert sein. Die Regierungen trugen aktiv zur Demobilisierung ihrer Basis bei. Ich finde beeindruckend, dass alle Umfragen 2018 zeigten, dass Lula als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervorgehen würde. Als er von den Wahlen ausgeschlossen wurde und in Haft ging, und das aufgrund eines absolut willkürlichen Verfahrens, gab es keine breite Reaktion. Das heißt, die Leute waren bereit, Lula zu wählen, aber sie hatten keine andere Reaktionsart in ihrem politischen Werkzeugkasten als das Wählen. Nur das hatte die PT ihre Basis gelehrt: Man macht Politik, indem man wählt.

Ein großer Teil der Wähler*innenbasis der PT besteht aus Leuten, die mit der Regierung der PT erstmals die Erfahrung machten, dass an ihre grundlegendsten Bedürfnisse gedacht wird, die also etwa Hunger litten und eine Regierung erlebten, die den Hunger in Brasilien abschaffen wollte. Aber dieselben Regierungen unternahmen überhaupt nichts, um die Leute zu politisieren. Diese Selbstkritik muss die brasilianische Linke machen. Sie hat zu sehr an die Unüberschreitbarkeit der liberalen Institutionalität geglaubt.

Sie sprachen über Fortschritte und Grenzen des Lula-Projekts. Zweifellos wurde die Armut während seiner beiden Amtszeiten in beeindruckender Weise reduziert. Die soziale Ungleichheit blieb aber deutlich größer als etwa in Ländern wie Argentinien und Uruguay, die Benachteiligung der ärmeren Gruppen im Bildungswesen blieb bestehen und die Demokratie wurde, wie Sie gerade sagten, nicht wirklich gestärkt.

Als Lula am 1. Januar 2003 sein Amt übernahm, dachten viele, ein neues Brasilien sei im Entstehen, ein Land mit weniger sozialer Ungleichheit, mehr demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten, größerer Chancengleichheit. Was ist in den Regierungszeiten der PT falsch gelaufen und welche Lehren zieht sie daraus – jenseits des von Ihnen genannten Komplexes der Demobilisierung?

Als Lula die Präsidentschaft antrat, fällte er meines Erachtens eine klare Entscheidung. Sie bestand darin, sein komplettes Programm aufzugeben und sich auf eine Sache zu konzentrieren: die Bekämpfung des Hungers. Das war die Priorität Nummer eins. Klar, es gab die eine oder andere Maßnahme in anderen Bereichen, und manche waren sicher wichtig. Aber Lulas großes Vermächtnis ist der Kampf gegen das Elend und die Beseitigung des Hungers.

Bekämpfung des Hungers – Armee von Elenden ist sehr funktional

Wenn Millionen endlich genug zu essen haben, ist das ohne jede Frage sehr wichtig. Aber wenn man sich etwa den GINI-Index 1 anschaut, oder die Verteilung des produzierten Reichtums, sieht man, dass die erreichten Veränderungen sehr gering sind. Die größten Veränderungen sind innerhalb der Arbeiterschaft selbst zu erkennen. Bei den Kapitalbesitzern änderte sich überhaupt nichts. Das war sozusagen Lulas Erfolgsrezept und die Formel dafür, dass er regieren konnte. Die Analyse war: In Brasilien können wir nicht mehr tun als das, die objektiven Bedingungen für mehr sind nicht gegeben. Aber selbst dieses bisschen hatte Auswirkungen. Und genau deswegen erfuhren die PT-Regierungen so viel Widerstand. Denn die Existenz einer Armee von Elenden ist sehr funktional in Brasilien. Die brasilianische Wirtschaft ist sehr wenig dynamisch. Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt von Arbeitskräften ab, die sehr wenig verdienen. Man hört in Brasilien oft Leute, die mit Latifundien zu tun haben, sich beklagen, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollten. Ist doch klar: Die Leute wollen nicht mehr arbeiten, weil sie Hungerlöhne kriegen, und wollen etwas mehr Geld. Oder nehmen wir die Mittelklasse. Brasilien ist das Land mit den weltweit meisten Hausangestellten. Sie arbeiten in der Regel für einen fürchterlich geringen Lohn und haben abscheuliche Arbeitsbedingungen. Während der PT-Regierungen fiel der Anteil der Hausangestellten an den Arbeitskräften insgesamt. Da die Armen etwas mehr Geld hatten, wuchs die einheimische Wirtschaft. Daher konnten die Hausangestellten ihre Arbeitsstelle aufgeben und sich anderswo eine besser bezahlte Arbeit suchen. Die Mittelklasse reagierte sauer. Denn sie hatte ihren Nutzen an der Verfügbarkeit von Hausangestellten, die praktisch nichts kosteten. Auch wenn der Hunger nicht völlig verschwand und die Ungleichheit fortexistierte, passte die einmal in Gang gesetzte soziale Dynamik den herrschenden Klassen nicht.

Die Mittelklasse reagierte sauer

Ich bin kein Parteimitglied und stand nicht in der politischen Verantwortung, betrachte den Prozess also von außen. Aus dieser Perspektive denke ich, dass es ein Fehler war, dass die PT-Regierungen zwar einige neue Räume öffneten, aber zu wenig an Machtverhältnissen rüttelten, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, die Rückkehr vormals herrschender Kräfte zu verhindern.

Was den Aspekt von weniger Ungleichheit und mehr Bildung in Argentinien und Uruguay betrifft, sind Vergleiche schwierig. Die historischen Erfahrungen sind unterschiedlich. Aus einer Reihe von Gründen entwickelte sich Brasilien immer sehr konservativ. Konfrontationen wurden vermieden. Sicher spielt die in Brasilien im Vergleich zu den umliegenden Ländern erst 1888, also sehr spät, abgeschaffte Sklaverei eine Rolle. Man spürt bis heute eine sehr hierarchische Sichtweise und eine Stigmatisierung der Arbeit in vielerlei Hinsicht. Der Rassismus ist eine zentrale Komponente für die Beibehaltung unserer Struktur von Ungleichheit. Gleichzeitig war die Arbeiterbewegung schwächer als in anderen Ländern Südamerikas. Es gab immer starke lokale Schwerpunkte dieser Bewegung. Aber wegen der Größe des Landes, der Diversität und der Schwäche unserer Institutionen wurde daraus nie eine große landesweite Massenbewegung.

Seltsame Bourgeoisie – unfähig, ihre eigenen Interessen zu verstehen

Ich würde gern etwas zu den unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Unternehmerschaft wissen. Ein nicht unbedeutender Teil der Bourgeoisie hat von der PT-Regierung profitiert. Einige Unternehmen wurden in der PT-Zeit erst richtig groß. Von Bolsonaro haben die Großagrarier, aber keineswegs alle Unternehmen profitiert. Welche Signale sehen Sie von Seiten der Unternehmerschaft?

Die große Mehrheit der brasilianischen Bourgeoisie, egal welcher Provenienz, hat sich früher oder später gegen die PT gestellt. Das ist in der Tat seltsam, weil die PT-Regierungen sehr gut für einen Teil dieser Sektoren waren. Aber da gibt es auch einen Klassenhass, den man nicht vergessen darf. Und es gibt die ideologische Anziehungskraft, die der Diskurs des Ultraliberalismus vom schlanken Staat auf diese Sektoren ausübt.

Doch die Regierung Bolsonaro zeigt sich auch in den Augen dieser Bourgeoisie als dysfunktional. Klar, die Großgrundbesitzer profitieren von ihm und seiner absolut kriminellen Umweltpolitik, die die Abholzung fördert, davon, dass ihm Umweltfragen komplett egal sind und er die Arbeitskraft abwertet. Gleichzeitig ist die Regierung Bolsonaro so unfähig, dass sie sogar international Befremden auslöst. Agrarische und tierische Produkte aus Brasilien sind ständig davon bedroht, Einfuhrstopps zu unterliegen, beispielsweise seitens der EU. Es gibt in vielen Ländern Widerstand, weil Konsument*innen kein Fleisch essen wollen, das in einem Umfeld der weltweit größten Desaster produziert wurde.

Deswegen beginnen die schlaueren Leute selbst im Sektor von Agrar- und Fleischproduzenten, sich gegen Bolsonaro zu stellen. Man muss aber sagen, dass die Bourgeoisie oft unfähig ist, ihre eigenen Interessen auf kurze Sicht zu verstehen. Beispielsweise die Reform der Arbeitsgesetzgebung. Die brutale Abschaffung vieler Arbeitsrechte nach der Absetzung Dilmas während der Interimsregierung Temers wie auch unter Bolsonaro hat als unvermeidliche Konsequenz die Zerstörung des Binnenmarktes in Brasilien. Daher machten viele Industrie- und Handelsbetriebe Konkurs, denn es fehlen Konsument*innen. Die Kaufkraft der durchschnittlichen Arbeiter*innen ist in den letzten Jahren massiv gesunken.

Einige Sektoren der Bourgeoisie verstehen inzwischen, dass es besser ist, wieder die politischen Seiten zu wechseln. Die großen Wirtschaftsgruppen sind zudem besorgt, was die Stellung Brasiliens auf dem Weltmarkt betrifft. Bei aller Heuchelei, die bei den üblichen Partnerländern durchaus im Spiel sein kann, ist es heute schwierig, bei ihnen Akzeptanz für ein offen autoritäres Regime zu finden.

Viele Unternehmer*innen haben inzwischen den Eindruck, dass sie Chancen verlieren. In der Pandemie war Bolsonaros Politik absolut chaotisch, katastrophal und kriminell. Seine Wirtschaftsmaßnahmen haben die brasilianische Ökonomie geschwächt.

Es gibt nicht die berühmte Sicherheit, die den Wirtschaftssektoren heilig ist. Bolsonaro liegt ständig im Streit mit den anderen Gewalten. Man weiß nie, wie lange ein Gesetz noch gilt, wie es auszulegen ist. Deswegen halten viele Wirtschaftsgruppen eine Stabilisierung für notwendig. Das kann aus ihrer Sicht durchaus in einer Demokratie niedriger Intensität vonstattengehen, mit nur wenigen Freiräumen, wo die Mehrheiten sich äußern können, aber wo die demokratische Fassade adäquat gewahrt ist. Wo nunmehr für viele das einzige Ziel ist, Bolsonaro loszuwerden, kann man von einer neuen Amtszeit Lulas erwarten, dass sie noch zaghafter, noch moderater wird als die ersten zwei.

Wollen Sie damit sagen, dass ein möglicher Wahlsieg Lulas mehr auf einem Anti-Bolsonaro-Reflex als auf einem Bekenntnis zum PT-Programm beruht, das Lehren aus den Fehlern der vorherigen Amtszeiten zieht?

Ich glaube, dass die PT die gleichen Fehler wie in der Vergangenheit begeht, oder sie vielleicht sogar noch schlimmer macht. Klar, Lula muss gewinnen. Die Leute haben die Lula-Zeit als die beste Regierung seit sehr langer Zeit in Erinnerung. Sie erinnern sich daran, dass er einer war, der Politik für sie machte, was ihr Leben veränderte.

Die Sorge Lulas ist, dass seine Regierung nicht genauso und von den gleichen Gruppen abgesetzt wird wie die Dilmas. Um das zu verhindern, macht er viele Konzessionen. Um sogenannte „Gobernabilität“ (Regierungsfähigkeit) zu beweisen, ist er bereit, einen Gutteil dessen aufzugeben, was natürlicherweise sein Programm wäre. Beispielsweise hat er sein Versprechen, den Abbau der Arbeitsrechtsgesetzgebung rückgängig zu machen, ersetzt durch die Ankündigung einer Neuverhandlung. Alles deutet darauf hin, dass er nur drei oder vier der absurdesten Maßnahmen abschafft, aber es wird keine Rückkehr zu den Arbeitsrechten geben, wie wir sie vorher hatten. Noch viel weniger werden diese Rechte ausgeweitet, was eigentlich sein Programm wäre. Ein weiteres Beispiel: Es stand das Versprechen im Raum, die absolut kriminelle Umweltpolitik Bolsonaros zurückzunehmen, es gab Druck, über die Agenda der früheren PT-Regierungen hinauszugehen und der Umweltpolitik stärkeres Gewicht zu verleihen. Aber um Vetos zu vermeiden, trifft sich Lula in mehreren Landesteilen mit Großagrariern. Oder die Notwendigkeit politischer Reformen: Wir haben einen völlig absurden, den Wähler*innen gegenüber unverantwortlichen Kongress. Was macht Lula? Er schmiedet jetzt schon Allianzen mit dieser Menge von absolut käuflichen, korrupten Parlamentarier*innen, um Mehrheiten zu sichern. Man könnte natürlich sagen, dass einige Konzessionen nötig sind, aber es wäre auch nötig, die Mobilisierung der Leute voranzutreiben, damit sie diese Ketten zerschlagen können.

Gäbe es nicht die Möglichkeit andersartiger Allianzen?

Die PT selbst ist schon eine große Partei, dann ist da die PSOL, und es gibt einige andere mögliche progressive Sektoren. Doch brasilianische Parteien haben wenig mit Programmatik zu tun. Sie sind eine Art Wackelpudding.

Lula verhandelt immer aus einer defensiven Position heraus. Aber genau wie Lula die Abgeordneten für seine Mehrheiten braucht, brauchen sie ihn. Denn sie wollen wiedergewählt werden und setzen dabei auf die Popularität Lulas. Wenn er einmal gewählt ist, haben sie Zugang zur Exekutive und deren Geldern. Daher könnte Lula aus meiner Sicht mehr im Gegenzug verlangen. Er könnte einige der Schlimmsten ausschließen, er könnte mehr Zusagen einfordern. Aber es sieht so aus, dass die brasilianische Linke sich einer Art Pädagogik der Niederlage unterzogen hat. Sie hat so viel in der letzten Zeit einstecken müssen, dass sie offenbar die Überzeugung verinnerlicht hat, dass sie keinerlei Kraft besitzt, dass der kleinste Erfolg schon alles ist, was man überhaupt erreichen kann.

Pädagogik der Niederlage – die hinter dem letzten Coup stehenden Sektoren können unbehelligt weitermachen

Nehmen wir Lulas Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Ein Politiker der Rechten, der den Staatsstreich unterstützt hat, der nicht gegen Bolsonaro war und der bis Mitte letzten Jahres nicht wusste, ob er diesen Oktober Lula oder Bolsonaro unterstützen würde. Lula macht in den Bundesstaaten Allianzen mit den opportunistischsten Politikern und übt Druck auf die PT aus, damit sie in verschiedenen Orten ihre eigenen Kandidat*innen fallen lassen, um Lula-Allianzen zuwege zu bringen und sogar Leute zu unterstützen, die sich in letzter Zeit gegen die Demokratie in Brasilien ausgesprochen haben.

Das ist schon in der Vergangenheit schiefgegangen, und das Rezept geht auch jetzt nicht auf. Ich hoffe, Lula wird gewinnen. Aber er wird nur sehr eingeschränkt sein in dem, was er im Hinblick auf sozialen Fortschritt anbieten kann. Wir werden zudem mit der Gefahr leben, dass der Schalter erneut umgelegt wird, dass es wieder zum Staatsstreich kommt. Denn die hinter dem letzten Coup stehenden Sektoren können vollkommen unbehelligt weitermachen. Es steht nicht zur Debatte, dass sich die Militärs nie mit der Demokratie abgefunden haben, dass sich unsere Bourgeoisie komplett jeder Umverteilungsmaßnahme widersetzt, dass es in unseren Massenmedien überhaupt keinen Pluralismus gibt, dass unsere politische Elite überhaupt keinen Bezug zu denjenigen hat, die sie vertreten sollten. Ich glaube, dass gerade der gleiche Weg eingeschlagen wird, der uns zum Staatsstreich von 2016 geführt hat.

Diese Räume sind eher geeignet für den Diskurs der Rechten

Düstere Aussichten. Noch eine abschließende Frage nicht zum Inhalt, sondern zum Instrumentarium des Wahlkampfs. Seit Trump und Bolsonaro heißt es, Wahlen werden künftig über die sozialen Medien bzw. Kurznachrichtendienste gewonnen, nicht mehr über Auftritte, Debatten, auch im TV, Plakate. Der Wahlkampf wäre somit unsichtbar geworden. Vor allem die Rechten und Evangelikalen bedienen sich dieser neuen Art des Wahlkampfs, nicht zuletzt mit Fake News. Kann es angesichts dessen eigentlich einen linken Wahlkampf über Twitter, WhatsApp etc. geben?

Der Wahlkampf hat sich tatsächlich in diese Richtung verändert, und die Linke hat das lange nicht bemerkt. Bolsonaros Wahlkampf 2018 bestand aus dem Einsatz dieser Medien, während die PT weiter das Fernsehen benutzte. Die PT hielt die neuen Medien für zweitrangig und hat sehr wenige Ressourcen dafür aufgewendet. Die Linke war bislang noch nicht fähig – und ich spreche nicht nur von Brasilien –, ihre eigene Stimme in diesen Räumen zu finden. Diese Räume sind meines Erachtens eher geeignet für den Diskurs der Rechten. Warum? Die Debatten sind sehr oberflächlich und die Leser*innen konzentrieren sich nicht auf ein bestimmtes Thema. Eine Aussage jagt die nächste, immer mit ganz wenigen Worten. Die Linke ist angetreten, Vorurteile auseinanderzunehmen und abzubauen. Ein Beispiel: Die Rechte sagt, jemand, der ein Verbrechen begeht, ist schlecht, sollte an die Wand gestellt werden. Das kann man in wenigen Worten sagen. Die Linke muss erklären, wie die soziale Lage Leute zu Verbrecher*innen macht. Das geht in einem Tweet nicht. Man muss also überlegen, wie man Mechanismen findet, die neuen Medien zu benutzen, um die Leute zur Debatte aufzurufen. Ich habe keine fertigen Rezepte, aber darüber muss man nachdenken, denn das Verkommen der öffentlichen Debatte hat immer den Konservativen genutzt.

1) Der Gini-Koeffizient ist eine Maßzahl zwischen 0 und 1 zur Beschreibung der Ungleichheit einer Verteilung. Je ungleicher die Verteilung ist, desto näher liegt der Wert bei 1. Bei Gleichverteilung hat der Gini-Koeffizient den Wert 0. – so das Statistische Bundesamt. Den höchsten Wert in Südamerika hat laut Weltbank Kolumbien (0,54), den niedrigsten Uruguay (0,40). Brasilien liegt bei 0,49, Deutschland bei 0,32, die Slowakei bei 0,24.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 458 Sep. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Gaby Küppers (Interview) / ILA:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.