Ist Entwicklungshilfe zweitrangig? Anfang Juli hat die Regierung den Entwurf des Bundes­haushalts 2023 verabschiedet. Mit Ausnahme der rüstungs-, energie- und inflationsbeding­ten Stei­gerungen finden wir nur einen auffälligen Punkt: Die Gelder für Entwicklungshilfe werden erheblich gekürzt. Statt 12,35 Mrd. € wie im Vorjahr gibt es diesmal nur 11,08 Mrd. €, das ist eine Kürzung um 1,27 Mrd. bzw. 10%. Auffallend ist dass die Zuschüsse an in­ternationale Organisationen fast halbiert werden (507 Mio. statt 1 Mrd. €).

Auch wenn der Vergleich hinken mag, könnte man der Entwicklungshilfekürzung einmal die 100 zusätzlichen Rüstungsmilliarden und die 95 Mrd. € für drei Entlastungspakete ge­genüberstellen. Wer der Bundesregierung nicht gerade wohlwollend gegenübersteht, wird jetzt sagen, dass die Dritte Welt zur Finanzierung der deutschen Rüstung(sindustrie und zur Besserstellung der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft beiträgt. Zwar haben die Entwicklungsländer in der Vergangenheit schon oft ungefragt die Vermögensbildung in den Industriestaaten gefördert, doch konnte man das nicht immer so genau in Mrd. € beziffern.

Im Koalitionsvertrag findet sich eine ganz andere Absicht: „Wir werden eine ODA-Quote von mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) einhalten. In diesem Rahmen setzen wir 0,2 Prozent des BNE für die ärmsten Länder des Globalen Südens (LDC) ein.“ ODA ist die Abkürzung für Official Development Aid (Öffentliche Entwicklungs­hilfe). In diese 0,7% werden nicht nur die Leistungen des Bundes (die rund die Hälfte be­tragen), sondern auch die der Länder und Kommunen eingerechnet.

Doch wie sieht es nun aus mit diesem oft erwähnten und angestrebten Ziel, mindestens 0,7 % des BNE (früher BSP) an öffentlicher Entwicklungshilfe zu gewähren? 2022 waren es nur 0,61% und 2023 wird es noch deutlich weniger sein. Das politische Versprechen ist rasch in Vergessenheit geraten.

Im Oktober 1970 wurde in einer Resolution der UN-Generalversammlung erstmals das Ziel festgeschrieben, dass die Geberländer mindestens 0,7% ihres Bruttoinlandsprodukts für offizielle Ausgaben an Entwicklungsländer (ODA) aufwenden sollen. Dabei stützten sich die UN auf die Empfehlungen der Pearson Commission of International Development, die im Auftrag der Weltbank die Effektivität der Entwicklungshilfe untersucht hatte. Bis 1975, spätestens 1980 sollte dieses Ziel erreicht werden. Tatsächlich haben dies bislang nur Großbritannien, Schweden, die Niederlande, Dänemark, Norwegen und Luxemburg geschafft.
Deutschland ist dies erst dreimal gelungen, allerdings nur aufgrund besonderer Umstände. Im Jahre 2016 erreichte man 0,70%, weil die (eigentlich nicht eingeplanten) Ausgaben für Flüchtlinge in Deutschland (umstrittenerweise) auf die ODA-Ausgaben ange­rechnet wurden. 2020 lag der Wert bei 0,73%. Hier sorgten die von Deutschland ans Aus­land gezahlten Coronahilfen für ein positives Ergebnis. 2021 wurden 0,74% erreicht, weil die globale Impfkampagne einbezogen wurde. Die Aufwendungen für Ge­flüchtete sind immer noch enthalten, ebenso übrigens die Kosten für Studierende aus der Dritten Welt.

Ansonsten lagen die deutschen Werte regelmäßig unter 0,7%, teilweise sehr deutlich. Deutschland hat es selbst nach 50 Jahren nicht geschafft, die UN-Resolution von 1970 in die Tat umzusetzen. In den Jahren 1971 bis 1993 schwankten die Zahlen mit leichtem Auf und Ab zwischen 0,31 und 0,47%. Dem folgte eine Zeit besonders niedriger Leistungen; zwischen 1997 und 2004 lagen sie bei 0,27%. Danach wurde es wieder besser: 2005 bis 2014 lag der Durchschnitt bei 0,37%. Dann ging es aufwärts, von 0,52% in 2015 bis 0,74 in 2021. Hätte Deutschland in all diesen Jahren mindestens 0,7% an öffentlicher Hilfe aufge­wendet, so wären zusätzlich 500 Mrd. US-$ in die Dritte Welt geflossen.

Die Ernüchterung folgte 2022 mit 0,61 und 2023 mit geschätzten 0,55%. Angesichts der drei Jahre, in denen Deutschland aufgrund besonderer externer Einflussfaktoren das 0,7%-Li­mit überschritten hatte, drängt sich die Frage auf, warum nicht der weltweite Hunger und die wachsende Armut in der Dritten Welt heute ebenso drängende Gründe darstellen, um Deutschland zu einer Steigerung seiner Entwicklungshilfeleistungen und zu einem deutli­chen und dauerhaften Überschreiten des 0,7%-Ziels zu veranlassen. Vom Koaliti­onsvertrag ganz zu schweigen.

Entwicklungsorganisationen und -verbände kritisieren den niedrigen Mittelansatz für 2023 und fordern eine deutlich Aufstockung, noch über das 0,7%-Ziel hinaus. Den aktuellen Kri­sen müsse global angemessen begegnet werden, heißt es da. Als Schwerpunkte für ein verstärktes Engagement werden die Ernährungssicherung, die Klimafinanzierung und die Unterstützung der am wenigsten entwickelten Länder genannt.

Angesichts der Tatsache, dass auch andere europäische Staaten ihre Entwicklungshilfe kürzen, schrieb die Frankfurter Rundschau: „Schädlich sind diese Kürzungspläne vor al­lem auf symbolischer Ebene. Sie signalisieren der Welt einmal mehr: Wenn es ungemüt­lich wird in Europa, zieht sich der Kontinent in die eigene Wagenburg zurück und interes­siert sich nicht mehr dafür, was jenseits seiner Grenzen passiert.“ 2)

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.