Wer sich gestern mit dem Ukrainekrieg in den Medien beschäftigt hat, konnte nur wenig erfreuliches wahrnehmen. Wladimir Putin kündigte eine Eskalation durch die Mobilmachung von 300.000 Reservisten der russischen Armee an. Wolodomir Selenskij kündigte von der UNO einen neuen “Friedensplan” an, der aus fünf Schritten bestehen soll, aber “Neutralität” der Ukraine neu definiert. Und die Diskussion im Westen, insbesondere bei Teilen der deutschen Grünen, scheint sich auch von der Realität immer weiter zu entfernen. Die Zeichen stehen allerseits auf Realitätsverlust und Eskalation.
Wladimir Putin hat gestern die Mobilisierung von 300.000 Reservisten angekündigt. Das ist zum einen ein Eingeständnis, dass seine bisherige Kriegsführung der angeblichen “Spezialoperation” gescheitert ist. Spätestens von heute an weiss die Bevölkerung Russlands, dass in der Ukraine ein verlustreicher Krieg geführt wird. Das bedeutet noch nicht, dass sein Rückhalt in der Bevölkerung schwindet, aber es bedeutet auch, dass er den Einzug von Reservisten rechtfertigen muss. Wie immer wird dieses Faktum heute überhöht als politische Niederlage des Kremldespoten dargestellt. Doch Vorsicht ist angeraten. Sicher, sollten untrainierte und seit Jahren vom Zivilleben verwöhnte Reservisten ausgehoben werden, könnten diese erst nach Monaten Ausbildung ernstzunehmende Verstärkung der russischen Truppen darstellen. Vorher wären sie nichts als Kanonenfutter. Aber vielleicht zielt Putin ja gerade damit auf eine Frühjahrsoffensive, die von den bisherigen schlauen nichtmilitärischen Kommentatoren keiner auf dem Schirm hat.
Mit den Rücken zur Wand unberechenbar
Wie ist seine wiederholte Ankündigung einzuschätzen, Atomwaffen einzusetzen, wenn “die territoriale Integrität Russlands” beeinträchtigt sein sollte? Was diese “territoriale Integrität” in der Interpretation Putins sein könnte, ist in der Tat offen. Völkerrechtlich gehören die besetzten Gebiete keinesfalls zu Russland. Aber angesichts der angekündigten Scheinabstimungen in den besetzten Gebieten in Donezk und Luhansk, sollte damit gerechnet werden, dass Putin eine Offensive der Ukraine nach den Scheinreferenden als Rechtfertigung für Angriffe mit Atomwaffen benutzen könnte. Diese Drohung eines offensichtlich von der Realität in vieler Hinsicht abgeschnittenen Aggressors sollte niemand unterschätzen.
Zwar gibt es begründeten Anlass zur Vermutung, dass Putin kein durchgeknallter Irrer ist, der auf die Alternative “Sieg oder Vernichtung” setzt. Objektiv würde ihm auch ein Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen in der Ukraine nichts bringen – außer sinnlose Zerstörung und tiefgreifender Hass der betroffenen Bevölkerung sowie radioaktiver Fallout auf eigenem Territorium. Der Angriff gegen einen NATO-Staat wie Lettland oder Polen würde einen Atomkrieg mit der NATO bedeuten – das kann er nicht wollen. Also bleibt als Alternative der Bluff, eine Einschüchterung des Gegners, oder die Eskalation eines Wahnsinnigen, der sich von der NATO eingekreist sieht. Die Rede Putins und seine Formulierung “dies sei kein Bluff” einfach als Bestätigung des Bluffs zu interpretieren, ist ein bisschen zu billig. Die Äußerungen von NATO-Generalsekretär Stoltenberg an Rande der UNO-Vollversammlung lassen befürchten, dass eine weitergehende Analyse nicht geschehen ist. Das ist beunruhigend.
Innenpolitischer Gegenwind?
Der vor einigen Tagen auch im Westen veröffentlichte Aufruf von 40, zuletzt 70 russischen Kommunalpolitiker*inne*n ist die erste Manifestation von innenpolitischem Widerspruch gegen Putins Krieg. Eine Einschätzung, welche Bedeutung dieser Aufruf in der breiten russischen Öffentlichkeit hat, ist schwer zu treffen. Noch schwieriger ist zu beurteilen, welche wirkliche Verbreitung diese Stellungnahme gefunden hat und auf welchen Zuspruch sie trifft. Angeblich hat die russische Polizei jeden öffentlichen Widerstand erstickt, bis zu 16.500 Personen sollen in den letzten 48 Stunden verhaftet worden sein. Trotzdem traten gestern erstmals wieder einige hundert Protestierende in der Öffentlichkeit auf und üben ersten Widerspruch gegen die Regierungsführung Putins.
Rede von Selenskij vor der UNO
Die Rede Wolodomir Selenskijs vor der UNO kann in der Sache nicht beruhigen. Denn die Ukraine scheint einen neuen Kurs zu fahren: War bisher ein wichtiger Bestandteil der ukrainischen Verhandlungsposition, dass sie einem entmilitarisiertem Korridor und einer militärischen Neutralität der Ukraine zuzustimmen bereit wären. Nun erklärte Selenskij, es gäbe keine Lösung mit Neutralität, und damit hat er eine unversöhnliche, auf militärischen Sieg gepolte Kehrtwendung unternommen. Er setzt auf militärische Stärke, auch in allen möglichen Verhandlungen. Was aus ukrainischer Sicht noch verständlich erscheint – schließlich befindet man sich im Krieg – kann aber nicht Maßstab europäischer oder gar deutscher Überlegungen sein. Und die Ukraine kann auch nicht die europäische und deutsche Strategie einseitig bestimmen. Deutschland ist nicht der Hauptkriegslieferant der Ukraine – das sind die USA – und kann es auch aus historischen und ökonomischen Gründen niemals sein.
Ukrainische Interessen sind nicht identisch mit europäischen
Allein aus geostrategischen, aber auch gesamteuropäischen Gründen müssen Deutschland und Frankreich, anders als die USA, Verhandlungsoptionen denken und entwickeln. Dass es nicht darum gehen kann, der Ukraine vorzuschreiben, wie lange sie den Krieg führen will, und wann sie zu verhandeln hat, versteht sich von selbst. Aber es gehört auch zur Realität, dass Szenarien der Friedenssicherung und des Weges dorthin mit dem Ziel eines langfristigen Interessenausgleichs und eines Sicherheitsgleichgewichts erwogen und entwickelt werden müssen. Dabei muss Russland – egal unter welcher Regierung – eine Rolle spielen und mitgedacht werden, sonst besteht die Gefahr, dass sich der “Westen” in eine ausweglose Strategie des No Return in die Eskalation selbst hineinmanövriert. Aber die EU-Verantwortlichen wie Kommissionspräsidentin von der Leyen agieren auf außenpolitischem Kreisliga-Niveau – etwa mit dem Angebot der EU-Mitgliedschaft gegenüber einer Ukraine, die keines der notwendigen Kriterien erfüllt. Der Wert des Versprechens ist nicht die elektronischen Bytes wert, die seine Videoaufzeichnung einnimmt.
Kleinkarierte Erbsenzählerei ersetzt strategisches Denken
Der wieder aufgeflammte Streit um deutsche Panzer ist ein idealtypisches Beispiel für die inzwischen vorherrschende intellektuelle Armut besonders bei FDP und Grünen, obwohl letztere das Außenministerium innehaben. Wieder sind es die drei Frustbolzen und Koalitionsverlierer Strack-Zimmermann, Hofreiter und Michael Roth, die so tun, als ob durch 100 deutsche Schrott-Leoparden 1, die Krauss-Maffei-Wegmann vom Hof haben möchte, der Ukrainekrieg entschieden würde. In der Tat haben die USA bisher weder M 60-Panzer noch andere Modelle geliefert, aber gleichzeitig Material in einem Umfang, zu dem niemand sonst auf diesem Planeten fähig wäre, wie Stefan Reinecke in der TAZ zutreffend kommentiert. Auf welch billigem Niveau gedacht wird, hat Anton Hofreiter gestern in einer “Phoenix”-Runde deutlich gemacht. Er verstieg sich angesichts der Frage nach Sicherheitsgarantien für eine Zeit nach dem Krieg zur Behauptung, es gebe nur die Möglichkeit des NATO-Beitritts der Ukraine oder deren Hochrüstung, dass Russland sich bei einem erneuten Angriff fürchten müsse, vernichtend geschlagen zu werden. Zwei Szenarien, die beide den Westen in einen Weltkrieg ziehen könnten und dem Versuch gleichkommen, mit einem brennenden Streichholz in den Benzintank zu leuchten, um den Füllstand zu ermitteln.
Baerbock und Lindner sind gefordert
Wenn die Ampelkoalition sich weiter die kleinkarierten Querschüsse ihrer Profilneurotiker leistet, ohne eine vernünftige Strategie der Friedenspolitik zumindest zu diskutieren, und damit ihre Verantwortung für Europa anzunehmen, droht ein politisches Vakuum und ein Desaster für die gesamte Koalition. Es ist kurzsichtig, dass sich manche Grüne und FDPler hinter vorgehaltener Hand freuen, dass die Eskapaden der drei Frustketiere vor allem dem Ansehen des Kanzlers schaden, dem eine zögerliche Haltung angedichtet wird. Denn letztendlich wird der Erfolg oder Misserfolg der Ampelregierung allen oder keiner der drei Parteien zugute kommen. Es wird Zeit, dass Grüne und FDP auf Häme und Schadenfreude verzichten und zu qualifizierten Diskussionen – die FDP zur Entspannungspolitik und die Grünen zur Friedenspolitik – zurückfinden, die zur DNA der beiden Parteien gehören. Der bevorstehende Grüne Parteitag in Bonn wäre ein guter Anlass dazu. Will die Koalition die Krise meistern, braucht sie Ideen und großes Kino politischer Lösungen, statt kleines Karo und Erbsenzählerei in Waffen und Munition.
Nicht ewig Zeit:
Und denjenigen, die von einem lang anhaltenden Krieg reden, seien daran erinnert, dass in Kürze die knappen Mehrheiten Joe Bidens völlig kippen können und spätestens 2024 uns und der Ukraine das drohen könnte, das dank Trumps Vereinbarungen mit den Taliban in Afghanistan stattfand – und Europa plötzlich alleine dastehen könnte.
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