Wie viel kostet Atomenergie wirklich? – Eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW soll den Zugang zu kostengünstiger Energie verbessern. Unser Autor meint: Die wahren Kosten werden nicht genannt.
In der Schweiz, nahe der deutschen Grenze zu Baden-Württemberg, soll ein Tiefenlager für sämtliche radioaktiven Abfälle gebaut werden, die im Land erzeugt wurden. So hat es die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) Mitte September 2022 bekannt gegeben. Bis das Lager gebaut sein wird, werden noch Jahrzehnte vergehen. Läuft alles nach Plan, soll die Einlagerung in Nördlich Lägern im Jahr 2050 beginnen; über 80 Jahre, nachdem das erste Atomkraftwerk (AKW) in der Schweiz Strom erzeugt hat. Im Jahr 2125 (!) soll es verschlossen werden. Für 100.000 Jahre soll das Tiefenlager dann, so sieht es der Plan vor, den strahlenden Atomabfall so sicher wie nur möglich vor den Menschen und der Umwelt abschirmen.
Ortswechsel: In der Nacht zum 04. März 2022 ist in der Ukraine im Atomkraftwerk in Saporischschja nach Kampfhandlungen erstmals ein Feuer in einem Gebäude für Ausbildungszwecke ausgebrochen. Seither ist das AKW, das mit einem russischen Druckwasserreaktor ausgestattet und Europas größtes AKW ist, zum strategischen Kampfplatz im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geworden. Die russische und die ukrainische Regierung beschuldigen sich gegenseitig, das AKW und die umliegende Infrastruktur angegriffen zu haben. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) warnte Anfang September davor, dass sich das Risiko einer Nuklearkatastrophe „signifikant erhöht“ hat.
Haben beide Ereignisse etwas mit der Debatte in Deutschland über den Streckbetrieb, die Einsatzreserve oder die Laufzeitverlängerung von AKW zu tun? Auf den ersten Blick nicht. Die Debatte ist vor allem davon geprägt, dass vieles ungesagt bleibt. Das hat System: Die jahrzehntelange und unerledigte Entsorgung des Mülls wird von der Atomlobby ebenso wenig thematisiert wie der Zusammenhang zwischen der vermeintlich zivilen und der militärischen Nutzung der Atomenergie.
Dagegen waren es doch fundierte Argumente, unvorhergesehene Katastrophen und immer wieder Zwischenfälle wie Leckagen, Brände oder Kurzschlüsse, die den Ausstieg aus der Atomkraft begründeten und nahelegten. Begleitet wurde dies stets von großem, gesellschaftlichem Engagement der Anti-Atom-Bewegung, die auf die Probleme und Gefahren immer wieder hingewiesen hat. Der Alterungsprozess von AKW schreitet weltweit voran und liegt im Durchschnitt bei über 30, in den USA sogar bei über 40 Jahren. Die Reaktoren der drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland, um die es geht, sind betagte 34 Jahre alt. Die letzten Sicherheitsüberprüfungen fanden dort 2009 statt. Zusammen genommen gab es in den drei verbleibenden Reaktoren 407 meldepflichtige Ereignisse.
Die wahren Kosten der Atomenergie werden verschwiegen
Letztlich besteht das Prädikat der Sicherheit nur so lange, wie kein Unfall eintritt. Frei von der Gefahr eines Super-GAUs werden AKW nie sein. Ob die Reaktorkatastrophe durch Baumängel und Bedienungsfehler (Tschernobyl 1986), einem heftigen Erdbeben und in der Folge eines riesigen Tsunamis (Fukushima 2011) oder durch Kriegshandlungen und Terrorismus verursacht wird (so die Gefahr am AKW Saporischschja); die Ereignisse haben eines gemeinsam: Sie machen uns die Unbeherrschbarkeit der Hochrisikotechnologie deutlich.
Zwar weisen die IAEO oder Sicherheitskommissionen darauf hin, dass solche Anlagen weder Ziel einer Drohung noch Ziel der Anwendung militärischer Gewalt werden dürfen. Wir erleben aber gerade, dass solche Warnungen im Kriegsfall null und nichtig sind. Auch von obertägigen Zwischenlagern für hochradioaktive Abfälle gehen vor diesem Hintergrund Risiken aus. Vorhaben für Tiefenlager in Finnland (Onkalo), Schweden (Östhammar), Frankreich (Bure) oder in der Schweiz (Nördlich Lägern) werden als Modellvorhaben angeführt. Sie sollen zeigen, dass die Entsorgungsfrage im Prinzip lösbar ist. Der Atommüll wird aber auch in diesen Ländern noch viele Jahrzehnte obertägig zwischengelagert werden.
Auch die Kosten werden im Zeitverlauf erheblich steigen – sie sind ebenfalls unberechenbar. Der Rückbau der AKW in Rheinsberg und Greifswald (Lubmin) sollte 2015 noch 4,2 Milliarden Euro kosten, danach wurden vom Rückbaubetreiber, den bundeseigenen Energiewerken Nord (EWN), 6,6 Milliarden veranschlagt. Aber auch diese Summe aus dem Jahr 2016 wird mit Sicherheit nicht ausreichen.
In der Schweiz lassen sich die Kosten auch nach Bekanntgabe des konkreten Standortes kaum beziffern. Nach einer Schätzung aus dem Jahr 2021 wird von 20 Milliarden Schweizer Franken ausgegangen. Für Kompensationszahlungen an die umliegenden Gemeinden in der Grenzregion sind 800 Millionen Franken im Gespräch. Niedrig ist der Preis für Atomstrom nur dann, wenn er nicht die ganze Wahrheit sagt – und auch andere Umweltkosten, wie sie etwa beim Uranabbau anfallen, verschwiegen werden.
Der Abbau geht außerdem mit der Vertreibung von indigenen Völkern, Brandrodungen oder der Verunreinigung von Grundwasser einher. Solche Ungerechtigkeiten gehören sowohl im globalen Süden (Brasilien oder Kasachstan) wie auch im globalen Norden (etwa Kanada) zur Atomenergie, kommen aber in den Bilanzen der Betreiberfirmen nicht vor.
Insgesamt 24,1 Milliarden Euro wurden von den deutschen AKW-Betreibern am 3. Juli 2017 auf die Konten einer öffentlich-rechtlichen Stiftung überwiesen. Die Stiftung verwaltet den „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ (KENFO). Ihr Ziel ist eine Vervielfachung der Rücklagen innerhalb dieses Jahrhunderts vor dem Hintergrund des für 2099 angenommenen Preisniveaus auf insgesamt 169,8 Milliarden Euro. Bei der Berechnung wurde von einem niedrigen Inflationsniveau von jährlich 1,6 Prozent (!) ausgegangen; derzeit liegt sie bei knapp 8 Prozent.
Jegliche finanziellen Risiken und Verantwortlichkeiten der zentralen Zwischen- und Endlagerung sind mit dem Fonds an die Gesellschaft übergangen; sie wurden vergemeinschaftet. Beim Neubauprojekt in Großbritannien, das immer teurer wird und dessen Fertigstellung dem Zeitplan weit hinterherhinkt, ist das nicht anders: Für Hinkley Point C hat die britische Regierung eine garantierte Einspeisevergütung für den erzeugten Strom über 35 Jahre und einen Inflationsausgleich zugesagt.
Ohne staatliche Subventionen würde auf der ganzen Welt kein einziges AKW mehr gebaut werden. Von Wirtschaftlichkeit und einer kostengünstigen Stromproduktion kann nicht die Rede sein. Schließlich lässt sich Atomstrom nicht CO2-frei erzeugen. Sicher, Atomstrom emittiert in der Erzeugung zwar im Vergleich zu Kohle- oder Gaskraftwerken weniger CO2, aber klimafreundlich ist er deshalb noch lange nicht. Die klimaschädlichen Emissionen entstehen besonders vor und nach der Stromerzeugung, etwa beim Kraftwerksbau sowie beim Rückbau, den umfangreichen Baumaßnahmen zur Zwischen- und Endlagerung sowie beim Transport der radioaktiven Abfälle.
Die Zukunft liegt in erneuerbarer Energie
Kommen wir zum Kernargument für den Streckbetrieb oder die Laufzeitverlängerung: Der Stromanteil aus den drei laufenden AKW betrug im 1. Quartal 2022 nur noch rund 6 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland. Für die Wärmeversorgung der Haushalte, die mit Gas oder Öl heizen, bringt das nicht viel. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW schätzte das Potenzial der AKW, Gaskraftwerke in der Stromproduktion zu ersetzen, auf rund drei TWh, das entspricht 0,6 Prozent des Gesamtverbrauchs im Jahr 2020/21. Nach dem sogenannten Zweiten Stresstest liegt die Einsparung bei Gas nur im Promillebereich.
Warum also dieser Hype pro Atomenergie, der sich gegen den Ausstiegsbeschluss wendet, der nach jahrzehntelangen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen 2011 gefasst wurde und die Transformation in eine sichere und nachhaltige Energieversorgung einleiten sollte? Es handelt sich um das letzte Aufbäumen einer alten Denkschule, in der zentralistische Versorgungssysteme und insbesondere die Atomenergie langfristig gerettet werden sollen. In der Krise wird die Chance dafür gesehen. Von den verbliebenen Atomkraftlobbyisten wird dazu aufgerufen, alte Grabenkämpfe zu überwinden und für einen größeren Realitätsbezug plädiert.
Dagegen haben die Atomkraftgegner jahrzehntelang auf die Gefahren der Hochrisikotechnologie in Friedens- (vermeintlich zivile Nutzung), wie in Kriegszeiten (Atombombe) hingewiesen. Wir wären, hätte die Vernunft in den 1970/80er-Jahren gesiegt, heute in einer völlig anderen Situation. Damals wurde der profitable, aber höchst riskante „harte“ Weg des Zentralismus in der Energieversorgung gewählt, während Zukunftsforscher wie Robert Jungk bereits damals eindringlich auf den „sanften Weg“ (1980) hinwiesen: die größtmögliche und dezentrale Nutzung unerschöpflicher Energiequellen wie Solarenergie, Wind- und Wasserkraft oder Geothermie.
Vor allem junge Menschen sehen heute, dass dies eine Fehlentscheidung war. Aufgrund der Erfahrungen des Krieges, der die europäische Energiewirtschaft vor immense Herausforderungen stellt, und der technischen Möglichkeiten, die heute bestehen, muss dagegen die Energiewende vorangebracht werden. Das Primat der Energieunabhängigkeit und der Zukunftsfähigkeit müssen neben allen Maßnahmen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Vordergrund stehen.
Für den Übergang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien sind AKW – gerade in Kriegszeiten und auch bei möglichen Versorgungsengpässen in Deutschland – im Wärmebereich völlig irrelevant. Je früher der Ausstieg erfolgt, desto weniger Aufgaben, Risiken und Kosten werden an nachfolgende Generationen überantwortet. Im Ausbau der erneuerbaren Energien liegt der Kern der Zeitenwende, nicht im Fortschreiben von Problemen, die ungesagt bleiben.
Achim Brunnengräber ist Privatdozent am Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften der FU Berlin und leitet am Forschungszentrum für Nachhaltigkeit ein Teilprojekt des Forschungsverbundes TRANSENS – Transdisziplinäre Forschung zur Entsorgung hochradioaktiver Abfälle in Deutschland.
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