Die Abgabe des Abgeordnetenmandats kann zu relevantem Zeitgewinn fürs Denken und Schreiben führen. Lebendes Beispiel Fabio de Masi/Berliner Zeitung: “Was ist eigentlich das politische Projekt des Bundeskanzlers? – Olaf Scholz hat immer noch keine Idee, wie er Deutschland sicher durch Krisen führen und Europa mehr Unabhängigkeit von den USA und China verschaffen kann.” Von meiner Seite keine Einwände. Gerade rechtzeitig hat de Masi vor diesem Elend Distanz gesucht, mutmasslich mehr alltagskulturelle persönliche als politische.
Etwas umständlich gerät meine persönliche Positionierung zu diesem Text von Kai Kleinwächter/telepolis: “Die Ukraine, der Krieg und die Interessen der Oligarchen – Sowohl in der Ukraine als auch in Russland sind linke Kräfte ausgeschaltet. Oligarchen erhalten Lohn für nationale Unterstützung. Der neoliberale Staatsumbau ist insbesondere in der Ukraine in vollem Gange.” Der Autor hat aufopferungsvoll viel Zeit auf einer Tagung einer Sekte links der Linkspartei zugebracht, und filtert in seinem Text freundlicherweise streng heraus, was er dabei für bemerkenswert hielt. Das tut seinem Text und mir als seinem Leser sehr gut, und spart mehrere Tage Zeit.
Bei Kleinwächter hat die Bonnerin Renate Koppe einen Auftritt, die ich einst als Mitglied des MSB Spartakus an der Uni Bonn kannte. Seinerzeit rangierte die Arme in der hierarchischen Organisation ganz unten. Nun, wo von der Organisation fast nichts mehr übrig ist, politisch relevantes jedenfalls nicht, rangiert sie “ganz oben”, im “Sekretariat des Parteivorstandes”, das es scheinbar immer noch gibt. Tragisch deutscher geht es nicht.
Zur inhaltlichen Substanz von Kleinwächters Bericht. Die von ihm zusammengefasste Analyse ist weit weniger abwegig, als die strategische Sackgasse, in der sich ihre Vortragenden befinden. So mancher*m mir Nahestehenden könnte sie sogar der Weiterbildung dienen. Aber bloss nicht so verzweifelt werden.
Iranischer Stimmungstöter
Dieser Blog ist zu unwesentlich und unbekannt, um iranische Aufständische demotivieren zu können. Nichts läge mir ferner. Politische Kunst wäre es, gefühlvoll aufwallenden Mut und Zivilcourage mit realistischer Analyse und Erarbeitung erreichbarer Ziele zu verbinden. In einer bürgerlichen Demokratie leben wir unter privilegierten Bedingungen, die das möglich machen. Die sind im Mullahregime weit riskanter und (lebens)gefährlicher. Hier beginnt dann die Verantwortlichkeit der millionenstarken weltweit verteilten iranischen Exilgemeinde – so weit sie sich überhaupt noch auf den Iran beziehen wollen; sehr viele tun es.
Diese Menschen leben in einem Spannungsfeld. Sie haben für sich persönlich das Klügste gemacht, was sie tun konnten: abhauen. Und sie haben Menschen zurückgelassen, die sie lieben, und die sich in Gefahr befinden. Das macht “schlechtes Gewissen”. Bietet aber auch die Chance, die Welt wissen zu lassen, wie es unter dem Mullahregime zugeht. Viele ausserordentlich gut gebildete Exilant*inn*en wissen, wie das geht.
Unter diesen Vorzeichen ist ein FAZ-Interview mit dem iranischen Wissenschaftler Mohammadbagher Forough zu lesen, der ähnlich, wie hier im Extradienst kürzlich Charlotte Wiedemann, nicht wenig analytisches Wasser in die revolutionäre Begeisterung giesst.
Da der Zeitungsverlag in der Bankenstadt das Interview blöderweise digital eingmauert hat, wage ich einige Zitat-Auszüge:
“Alles in allem gibt es in der Diaspora viel Zankerei, die aber keinen Einfluss darauf hat, was in Iran wirklich vor sich geht. Letztlich liegt die wahre Hoffnung in Iran und bei den iranischen Frauen und Männern, die mutig ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Lebensbedingungen und das politische Leben in Iran zu verbessern.
…
Die Führungslosigkeit macht die Proteste von Natur aus demokratisch. Das ist ein Segen, aber auch ein Fluch: Die Proteste sind philosophisch organisiert, nicht politisch. Abgesehen von ‘Frau, Leben, Freiheit’, das ein großes humanistisch-feministisches philosophisches Ideal zum Ausdruck bringt, verfolgen die Proteste keine kohärente politische Agenda.
…
Das ganze System in Iran ruft im Volk ein Gefühl des Erstickens hervor. Man stelle sich einen Raum voller Gas vor: Ein winziger Funke kann eine neue Runde der Proteste auslösen. Es gibt einfach nicht genug Sauerstoff im System. Es ist zu viel Korruption, zu viel Unterdrückung. Jetzt war der Funke der Hidschab, 2019 war es der Anstieg der Benzinpreise. Das nächste Mal wird es etwas anderes sein.”
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