Heute erwartet uns in Norddeutschland eine partielle Sonnenfinsternis. Die heißt zwar so, doch die Sonne wird überhaupt nicht finster. Gemeint ist der Schatten, den der Mond aufgrund seiner Position zwischen Erde und Sonne auf der Erde erzeugt. Die Sonne ist zwar 400 mal so groß wie der Mond, aber auch 400 mal so weit entfernt. Daher kann es passieren, dass der Mond die Sonne völlig verdeckt. Verdeckt der Mond nur einen Teil der Sonne, so kommt es zur partiellen Sonnenfinsternis.

Eigentlich ist der Schatten nur eine Helligkeitsstufe. Er ist kein Ding und kein Wesen. Er ist nicht zu fassen und nicht zu fixieren. Er hat keine Materie und keine eigene Gestalt, keine eigene Dimension und keine eigene Farbe. Ohne Licht kann er nicht existieren. Deshalb hat er auch nur eine begrenzte Lebensdauer. Sofern man von Leben sprechen kann. Zu­sammen mit dem Licht verschwindet er wieder. Schatten sind Löcher im Licht, könnte man sagen.

Schatten werden selten bewusst wahrgenommen und bleiben auch nicht in Erinnerung. Die Aufmerksamkeit richtet sich stets auf den Gegenstand, der den Schatten erzeugt. Da­bei ist der Schatten keineswegs unwichtig. Er erlaubt Rückschlüsse auf die Form der Sa­chen und Personen, die ihn hervorrufen. Er bildet deren Konturen ab und erzeugt einen Doppelgänger. Allerdings gibt er seine Werke oft verzerrt und entstellt wieder. Deshalb hat der Schatten manchmal einen schlechten Ruf. Man spricht vom Schattenreich der Unter­welt, vom Schattenhaushalt, vom Schattenkabinett und vom Schattendasein, das jemand führt.

Vielen ist nicht bewusst, dass der Schatten über eine besondere Eigenschaft verfügt. Er wird mal größer und mal kleiner, je nachdem, wie sich seine Position zur Lichtquelle verän­dert. Nicht nur die Größe, auch die Länge und die Richtung des Schattens werden von der Entfernung und dem Standort der Lichtquelle bestimmt. Da kann es schon vorkommen, dass extrem lange Schatten entstehen. Manchmal sind sie so lang und so krumm, dass sich Menschen davor gruseln.

Der Schatten spielte daher in den mythologischen Vorstellungen mancher antiker Völker eine besondere Rolle. So galt er als Spiegelbild des Menschen, als sein zweites Ich, als seine Seele außerhalb des Körpers, als lebenswichtiger Bestandteil. Sein Verlust war gleichbedeutend mit dem Tod. So vermieden es Völker in Äquatornähe, in der Mittagszeit ins Freie zu gehen, weil die senkrecht stehende Sonne dann keinen Schatten erzeugte.

Nur bei besonderen Anlässen findet der Schatten gebührende Aufmerksamkeit. So kann man quasi um die Ecke gucken, wenn man den eigentlichen Gegenstand nicht sehen kann, aber seinen Schatten. Und natürlich bei der Sonnenfinsternis. Dann zeigt der Schat­ten, wozu er in der Lage ist. Dass die Erde nur weiterleben kann, weil er sich wieder zu­rückzieht. Da ist es schon beruhigend zu wissen, dass der Schatten sich nicht weigern kann, beim Verlöschen des Lichts zu verschwinden.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.