Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten
Unter dem Titel »Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten« legen wir zum elften Mal unsere Studie zu politischen und antidemokratischen Einstellungen in Deutschland vor. Seit nunmehr 20 Jahren untersuchen wir die Unterstützung der Demokratie sowie die Verbreitung von Neo-NS-Ideologien und Ethnozentrismus, also der rechtsextremen Einstellung. Bekannt wurde unsere Studienreihe als Leipziger »Mitte«-Studien, seit 2018 trägt sie den Namen Leipziger Autoritarismus Studien. Im Zwei-jahresrhythmus erheben wir die politischen Einstellungen, dokumentieren Trends und Themen, erfassen die Verbreitung von Antisemitismus und Diktaturbefürwortung sowie der Abwertung von Migrantinnen und Migranten. Mit den nun vorliegenden Daten des Jahres 2022 können neue Herausforderungen und vor allem die Reaktionen auf sie benannt werden.
Im Folgenden fassen wir zunächst zentrale Ergebnisse zusammen und werfen anschließend einen kurzen Blick auf die Studienreihe selbst.
Zentrale Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2022 – autoritäre Aggressionen auch an unerwarteter Stelle
Ein Ergebnis unserer Erhebung 2022 sticht hervor: Die manifeste Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen nimmt nicht nur im Bundesgebiet ab, sondern insbesondere und deutlich in Ostdeutschland – bei gleichzeitiger Zunahme der Demokratiezufriedenheit. Gerade die Dimensionen einer Neo-NS-Ideologie (Diktaturbefürwortung, tradierter Antisemitismus, Sozialdarwinismus und NS-Verharmlosung) finden nicht mehr die Zustimmung wie noch vor zwei Jahren. Das ist eine gute Nachricht, aber nur das halbe Bild. Denn der Rückgang der manifesten Zustimmung in der Neo-NS-Ideologie wird begleitet von einer relativ hohen latenten Zustimmung, die als Mobilisierungspotenzial gewertet werden kann. Und schon die Zustimmung zu Dimensionen des Ethnozentrismus ist nicht im selben Maße zurückgegangen, im Gegenteil: Bei der Ausländerfeindlichkeit kam es zu einem leichten Anstieg in Ostdeutschland, und der Chauvinismus findet immer noch viele Anhänger. Das gibt erste Hinweise auf die tatsächliche gesellschaftliche Dynamik in Zeiten von Pandemie und Krieg in Europa. Vor dem Hintergrund der Pandemie, welche von den Individuen eine große Anpassungsleistung abverlangte, beobachten wir eine Rückkehr zu traditionelleren Rollenvorstellungen. Dies kann ein Gefühl von Kontinuität und Konstanz in unsicheren Zeiten erzeugen. Da gleichzeitig ein Anstieg des Antifeminismus und von Schuldabwehrantisemitismus zu verzeichnen ist und auch der Hass auf Muslime, Sinti und Roma konstant hoch bleibt, ist vielmehr von einer Objektverschiebung der antidemokratischen Einstellung zu sprechen als von einem Rückgang. Die Neo-NS-Ideologie hat an Bedeutung verloren, während andere Motive zur Legitimation der Ressentiments herangezogen werden. Dass diese Ressentiments weiterhin vorliegen, darüber geben die autoritäre Aggression, der Wunsch nach einer Autorität, und der Konventionalismus Auskunft. Dieser Interpretation zum Verständnis der Ressentiments liegt die sozialpsychologische Annahme zugrunde, dass die Abwertung anderer, die Aggressionen auf sie, gleichermaßen ein Ergebnis gesellschaftlicher Dynamiken sind, wie sie eine individuelle Funktion haben. Die beständige Anpassungsforderung in der Gesellschaft bringt eine Ambivalenz gegen sie hervor. Da es aber nicht möglich ist, aus der Gesellschaft gänzlich auszusteigen, ist sie als Totalität für die Einzelnen in der Regel hinzunehmen. Gleichzeitig bietet sie auch jenen Schutz, den es zum Leben braucht. Daher äußert sich die Aggression an anderer Stelle und richtet sich gegen die, deren (fantasierte) Abweichung oder (vermeintliche) Schwäche als Legitimationsgrundlage für die Wut auf sie herhalten. Auch die hohen Zustimmungswerte zum gewaltbezogenen Männlichkeitsideal sowie die Veränderungen in Gewaltbereitschaft und -akzeptanz passen dazu.
Der Rückgang in den Dimensionen der rechtsextremen Einstellung zeigt also einen Wandel der antidemokratischen Motive an, nicht deren verschwinden. Die Neo-NS-Ideologie hat als integrierende Ideologie unter den gegenwärtigen Krisen vorerst an Bedeutung verloren, die autoritären Bedürfnisse finden andere und zum Teil gesellschaftlich weniger sanktionierte Motive zu ihrer Rationalisierung.
Dieser Befund lässt sich durch die vertiefte Analyse untermauern. Wir finden autoritäre Reaktionen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie nicht allein an erwartbarer Stelle – den Milieus mit Verschwörungsglauben –, sondern auch weit darüber hinaus. Durch die Proteste gegen die Präventionsmaßnahmen der Bundesregierung sind die Verschwörungserzählungen zur Grundlage einer breiten Mobilisierung geworden. Sie wurden von organisierten Rechtsextremen genutzt, fanden aber auch in anderen politischen Milieus Anklang. Wie Ausländerfeindlichkeit, Antifeminismus und Antisemitismus sind diese Verschwörungserzählungen eine Brückenideologie, welche verschiedene antidemokratische Milieus miteinander verbindet. Wer Verschwörungserzählungen glaubt, hat auch eine grundsätzlich hohe Abwertungsbereitschaft. Vorherrschend ist bei jenen Personen eine projektiv-autoritäre Reaktion, die den Schutz nicht in der Autorität, sondern in der Gruppe findet, die die Bedrohung verleugnet. Aufgrund des Fehlens »echter« Autorität sucht dieser Typus des autoritären Rebellen (Fromm, 1941, S. 316) das Heil in der Gruppenfiktion (Chasseguet-Smirgel, 1975).
Aber die gesellschaftliche Dynamik der letzten zwei Jahre wurde gleichermaßen durch ein weiteres autoritäres Syndrom geprägt. Dass dieses bisher wenig beachtet wurde, hat mit dessen konformem Charakter zu tun – ein erster Fingerzeig auf den klassischen Typus des Autoritären. So finden sich auch unter den Befürwortern der Präventionsmaßnahmen, hier insbesondere der Impfungen, autoritäre Reaktionen. Mit der autoritären Aggression, Unterwürfigkeit und der Betonung der Konventionen sehen wir einen sadomasochistischen Typus. Ihn zeichnet nicht die projektive Verleugnung der Bedrohung, sondern die Anerkennung einer wissenschaftlichen und staatlichen Autorität als »Prothesensicherheit« aus. Durch die Anerkennung dieser Autorität konnte die Bedrohung durch die Pandemie ausgehalten werden. Allerdings zeigt sich in unserer Analyse, dass die Ohnmachtsgefühle und die Einschränkungen des eigenen Lebens nach Maßgabe der Autorität zu einer Steigerung der autoritären Aggression führten. Die Wut zogen jene auf sich, die gegen diese Konventionen verstießen, und nicht zuletzt die »Ungeimpften«. Eine ähnliche Reaktion können wir zum Teil auch in den Reaktionen auf den Ukraine-Krieg beobachten. Ausdrückliche Bellizisten finden sich nicht, aber Unterstützung findet der Krieg in der Ukraine bei jenen, die eine generell höhere Neigung zu autoritären Aggressionen haben. Das autoritäre Mobilisierungspotenzial besteht weiterhin, kann aber derzeit mit gesellschaftlich konformen Zielen befriedigt werden.
An dieser Stelle ist die im Vergleich zu den letzten Jahren höhere Demokratiezufriedenheit in Erinnerung zu rufen. Interessanterweise ist gleichzeitig das Gefühl politischer Deprivation weitverbreitet. Die Diskrepanz zwischen Demokratiezufriedenheit einerseits (insbesondere in Ostdeutschland) und sehr hoher politischer Deprivation andererseits hängt mit der beschriebenen Entwicklung zusammen: So stärkt die Demokratie unter Krisenbedingungen einerseits die Exekutive, schwächt aber andererseits die Teilhabemöglichkeit. Dies führt zwar zu politischer Deprivation, erleichtert aber gleichzeitig auch die Unterwerfung und ermöglicht somit die Befriedigung autoritär-submissiver Wünsche.
Die bisherigen Ausführungen machten auch deutlich, dass Ost-West-Unterschiede nach wie vor bedeutsam sind. Im Laufe der vergangenen Jahre stellte sich für jede Studie die Frage, ob in der jeweiligen Ergebnisdarstellung durch die Differenzierung zwischen ost- und westdeutschen Ergebnissen ein so hervorhebender Fokus gesetzt werden soll. Wir haben uns auch 2022 wieder für diese Präsentation entschieden, weil die Zahlen auch über dreißig Jahre nach dem Mauerfall eine unterschiedliche politische Einstellung in Ost- und Westdeutschland ausweisen. Diese Befunde haben jedoch wenig mit Ostdeutschen, sondern vor allem mit den Lebensbedingungen in Ostdeutschland zu tun. So gehen hohe Autoritarismuswerte beispielsweise mit einer hohen Arbeitslosenquote, einem niedrigen Frauenanteil, einem geringeren Anteil an Schutzsuchenden einher. All diese Strukturmerkmale sind in ostdeutschen Kreisen eher anzutreffen als im Westen.
Alte Reaktionsformen? Autoritäre Reaktionen und der Rechtsextremismus
Aus der Wissenschaft wurde die Gegenüberstellung von Links- und Rechtsextremismus als unzulänglich kritisiert und immer wieder darauf hingewiesen, dass sie den Blick auf die tatsächliche Dynamik in der Gesellschaft verstellt. Denn die Idee einer sozialen »Mitte« als Schutzraum der Demokratie ist Wunschdenken und Ideologie gleichermaßen. Einerseits kommt in ihr die individuelle Hoffnung auf einen Ort der Sicherheit und Respektabilität zum Ausdruck; andererseits dient sie als gesellschaftliche Ideologie einer »Mitte« zur Legitimation der bestehenden Ordnung, in der jeder nach eigenen Leistungen auf- oder absteigen könne. Die Verschränkung beider macht den Mythos der Mitte so wirkmächtig. Dass im Hintergrund der Appell steht, dass nur Maß und Mäßigung moralisch zu rechtfertigen sind, verweist zudem auf noch ältere Motive der europäischen Ideengeschichte. Dennoch oder gerade deshalb haben die Verfassungsschutzämter seit Jahrzehnten an einer vereinfachten und die gesellschaftlichen Konflikte vereinfachenden Extremismustheorie ihre Arbeit ausgerichtet. Während der Pandemie merkte jedoch selbst der Inlandsgeheimdienst, dass er an seine Grenze stieß, und reagierte: In einem Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz zur Protestlage in der Bundesrepublik am Jahresende 2020 wählte der Autor mit Blick auf die COVID-19-Leugnung die Worte von einem »Extremismus sui generis«, also einem Extremismus »eigener Art« (Flade et al., 2020). Vielleicht wollte der Verfassungsschützer mit dem Rückgriff auf diese lateinische Redensart zeigen, dass er das Latinum hat. Tatsächlich zeigte er aber, dass der Verfassungsschutz mit seinem Latein am Ende war.
Zwar stammt der Begriff Verfassungsschutz aus dem Grundgesetz (§87, Abs. 1) und räumt dort der Regierung das Recht ein, eine »Zentralstelle zur Sammlung von Unterlagen zum Zwecke des Verfassungsschutzes« einzurichten. Aber geprägt ist er dadurch, dass der Verfassungsschutz heute als Amt ein Organ des Staates ist. Seit seiner Gründung als Inlandsgeheimdienst in den 1950er Jahren ist er ein deutscher Sonderweg: Er hat entlang eines Extremismusbegriffs unkontrollierte und einzigartige Eingriffsmöglichkeiten in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Horst Meier und Claus Leggewie schreiben hierzu 2012: »Im vorbeugenden Kampf gegen die ›Feinde der Demokratie‹ glaubte man, wirkliche Gefahren gar nicht erst abwarten zu dürfen – also machte man den politischen Verdacht zur allgemeinen Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes.« (Meier & Leggewie, 2012, S. 66) Seine Aufgabe war und ist die Überwachung von extremistischen Bestrebungen mit den Mitteln des Geheimdienstes. Dabei bildet nicht der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel den deutschen Sonderfall, vielmehr ist es der Umstand, dass sie sich nicht gegen Aktivitäten, sondern gegen eine Gesinnung richten. Meier und Leggewie schreiben dazu: »Verfassungsschutz bekämpft seit eh und je verdächtige Ziele und anstößiges ›Gedankengut‹, also schon die Gesinnung vermeintlicher Verfassungsfeinde.« (Meier & Leggewie, 2012, S. 72) Durch den Extremismusbegriff werden spezifische, unerwünschte Gesinnungen externalisiert.
Unterschiedliche Gesinnungen sind jedoch ein inhärentes Phänomen der Gesellschaft selbst, und damit ist es die Aufgabe der Demokratie, sich mit diesen auseinanderzusetzen – in den demokratischen Arenen, die dafür eingerichtet werden, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. Diese Foren müssen gestärkt werden, nicht die geheimdienstliche Arbeit. Immer wieder aufs Neue muss die Arbeit geleistet werden, nicht nur die Motive des Hasses zu erfassen, sondern auch ihre psychosozialen Hintergründe freizulegen und diese zu kritisieren, also Gesellschaftskritik zu betreiben.
Es geht um autoritäre Dynamiken in der Gesellschaft, gesellschaftliche Widersprüche und ihre Wirkung auf die Individuen. Diese Aufgabe kann und will der Verfassungsschutz nicht übernehmen. Er ist ein Inlandsgeheimdienst, und die Gesellschaftskritik, gar kritische Wissenschaft, ist seine Sache nicht. Er vermag in der scheinbaren Abweichung, dem »Extrem«, nicht den regelhaften Gesellschaftsbetrieb zu erkennen. Wohlgemerkt: Staatliches Handeln ist notwendig, aber doch vor allem dann, wenn es um die Abwehr von Terror und Gewalt geht. Der NSU, Hanau, Halle und Idar-Oberstein haben gezeigt, wie wenig diese Aufgabe wiederum den dafür zuständigen Institutionen gelingt.
Entlang der Geschichte der AfD kann verdeutlicht werden, worum es geht. Parteien der extremen Rechten haben es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, in der Gesellschaft bestehende Ressentiments zu mobilisieren (Celik et al., 2020). War die AfD unter ihrem ersten Vorsitzenden Bernd Lucke vor allem eine eurokritische Partei mit antisozialem Programm und wies als solche noch im Sommer 2015 deutliche Verluste auf, wurde sie gerade wegen der Zuwanderung, die sie offen ablehnte, zu einem Krisengewinner und zu der national-völkischen Partei, die sie heute ist. Das Ressentiment gegen Migrantinnen und Migranten half ihr ebenso wie ihre gewaltbereite Rhetorik. War in der damaligen Zeit oft abwertend von einer »Flüchtlingswelle« die Rede, so war es eher eine »Ressentimentwelle«, die der AfD zwei Jahre später den Einzug in den Bundestag sicherte.
Festzuhalten ist aber: Diese oder andere rechtsextreme Parteien können Ressentiments in Dienst nehmen, manipulieren und instrumentalisieren – hervorbringen können sie diese nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Agitatoren genauso von ihrem Ressentiment beherrscht wie ihre Anhänger. Und auch die Frage, wann und unter welchen Umständen dieser Hass in Handlung umschlägt, hängt mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammen.
Und noch etwas fällt bei der Betrachtung der AfD-Geschichte auf: Die Gründe, man könnte auch sagen, die Rationalisierung dieser Aggressionen kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. Für die Begründung der eigenen Wut müssen mal Migrantinnen und Migranten, mal die Politik im Rahmen der Pandemie herhalten. In der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen ist es die zentrale Herausforderung, immer wieder aufs Neue nicht allein die Motive des Hasses zu erfassen und ihre Veränderungen zu dokumentieren, sondern auch ihre psychosozialen Hintergründe freizulegen und diese zu kritisieren. Es geht um autoritäre Dynamiken in der Gesellschaft, gesellschaftliche Widersprüche und ihre Wirkung auf die Individuen. In der Irrationalität des Einzelnen kommt die Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen zum Vorschein.
Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2022 untermauern diese Analyse mit empirischen Daten. Die rechtsextreme Einstellung ist eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die autoritäre Aggressionen legitimieren kann – nicht die einzige. Ihr Rückgang im Jahr 2022 zeigt somit nicht an, dass die Bedrohung der Demokratie gesunken ist, sondern dass der Fokus auf die Extremismen schon immer in die Irre ging. Sie sind der Sonderfall einer allgemeinen gesellschaftlichen Herausforderung, die so alt ist wie die gegenwärtige gesellschaftliche Konstellation. Mit Beginn der modernen Gesellschaften schlug »der Kampf gegen die Abhängigkeit von Autoritäten in der neueren Zeit unvermittelt in die Verhimmelung der Autorität als solche um« (Horkheimer, 1936, S. 366). Diese alte Reaktion stellen wir immer wieder aufs Neue fest – trotz aller »Innovationskapriolen« (Türcke, 1998, S. 8), welche die Gesellschaft beständig schlägt. Aber wenn seit dem Aufkommen des Faschismus in den 1920er Jahren die Autoritarismusforschung diese Reaktion zum Gegenstand einer kritischen Gesellschaftstheorie gemacht hat (Horkheimer et al., 1936; Adorno et al., 1950), ist neben dem Identischen im Wechsel auch das Neue zu beachten. Und welche Position die Wissenschaft in dieser gesellschaftlichen Dynamik hat.
Empirische Sozialforschung und autoritäre Dynamik – Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung
Die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen haben sich ohne Zweifel in den letzten 20 Jahren verändert. Nach der Finanz- und Weltwirtschaftskrise folgten die Migrationsbewegung im Rahmen des Syrien-Krieges, die COVID-19-Pandemie und der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Man kann durchaus zu Recht feststellen, dass das Leben in Deutschland und der Welt unter dem Vorzeichen einer »permanenten Krise« steht (Offe, 1972, S. 17). Allerdings stammt dieser Befund des Sozialwissenschaftlers Claus Offe vom Anfang der 1970er Jahre; als er ihn formulierte, war von den gegenwärtigen Entwicklungen nichts zu ahnen. Offe dachte allerdings auch nicht an eine lange Kette von Krisen, obwohl er durchaus zahlreiche Krisen vor Augen hatte. Denn nach der wirtschaftlichen Rezession 1967, der Hongkong-Grippe 1968 mit weltweit Millionen von Toten, den Wahlerfolgen der NPD zwischen 1966 und 1972 folgte dann 1973 – nach der Veröffentlichung seines Buches – der Ölpreisschock, die massive Verteuerung der Energie. So sehr uns als Zeitgenossen die dichte Folge von Krisen imponiert, müssen wir doch zugestehen, dass sie ganz ohne Beispiel nicht ist. Deshalb wollte auch Offe nicht nur das Phänomen beschreiben, sondern eine Ursache benennen: die der kapitalistischen Wirtschaftsweise innewohnende Krisenverhaftheit. Gerade wegen des Zwangs zur schieren Größe und zum auf dem Konkurrenzprinzip basierenden, dauerhaften Wachstum würden sich Krisen, so sein Befund, immer wieder neu äußern. Die Krise ist angelegt, denn die »Leitvariable des wirtschaftlichen Wachstums« limitiere die »Potentiale zur Verarbeitung ökonomischer, sozialer und politischer Probleme« (ebd.). Damit hatte Offe eine objektive Seite der Gesellschaft benannt und einen wichtigen Hinweis auch zum Verständnis unserer Gegenwartgeliefert.
Um die Krisendynamik zu verstehen, reicht aber diese Erkenntnis nicht aus, worauf der Sozialphilosoph Jürgen Habermas etwa zur selben Zeit hinwies: »Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als bestandskritisch erfahren und ihre soziale Identität bedroht fühlen, können wir von Krise sprechen« (Habermas, 1973, S. 12). Selbst objektive Krisen vermitteln sich nur durch Subjekte. Wo eine Krise wahrgenommen wird, ist nicht vorausbestimmt. Sie kann an ganz anderer Stelle in Erscheinung treten oder auch gar nicht bemerkt werden (ausführlich dazu: Decker & Kiess, 2013). Umso dringender sind daher die Fragen, auf welche Bedingungen die Krisen treffen, was ihre Wahrnehmung bestimmt und an welcher Stelle ihre Folgen sichtbar werden.
Die Initiative zu den Leipziger Autoritarismus Studien ging von den Eindrücken der 1990er Jahre aus, die heute Baseballschlägerjahre genannt werden (so auch der Titel einer ARD-Dokumentation über diese Zeit aus dem Jahr 2020). In Ost-wie Westdeutschland kam es zu massiven Gewalttaten und Morden an Migrantinnen und Migranten, Neonazis errichteten selbsternannte »national befreite Zonen«. Bis 2000, dem Jahr des Anschlags auf die Düsseldorfer Synagoge, machte die Reaktion aus der Politik vor allem deren Hilflosigkeit sichtbar, auf diese Herausforderungen der Demokratie eine Antwort zu finden. Indem sie versuchte zu reagieren, ohne aber die politische Motivation hinter der grassierenden Gewalt zu benennen, legitimierte sie diese Gewalt geradezu. Nachhaltige Reaktionen kamen dagegen aus der Zivilgesellschaft: In lokalen Initiativen vor Ort, Bürgerbündnissen und Antifa-Initiativen wurden die Vorfälle erfasst und der Widerstand gegen die extreme Rechte in unterschiedlicher Form organisiert. Für uns war es daher nur konsequent, diese Bemühungen zu unterstützen. Darüber hinaus wollten wir den Blick weiten, musste doch eine Brandmauer nicht allein gegen die extreme Rechte aufgebaut werden.
Denn ohne zumindest stillschweigendes Einverständnis in relevanten Teilen der Bevölkerung wären die Gewalttaten nicht umsetzbar, und es wurde regelmäßig sichtbar, dass es diese Unterstützung gab. Beispielhaft in den Berichten über die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 und in den Dokumentationen aus Anlass des ebenfalls dreißigsten Jahrestages wurde deutlich, dass ganz »normale« Bürgerinnen und Bürger den Gewalttätern applaudierten. War man bereit, die Realität anzuerkennen, so war die Rede von einer gesellschaftlichen »Mitte«, die einen Schutzraum der Demokratie gegen die »Extreme« darstellt, nicht mehr tragbar. Und so wollten wir mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung eben diese Realität erfassen und bereiteten daher Anfang der 2000er Jahre eine Erhebung zur rechtsextremen Einstellung vor. Die Ausgangsfrage war, wie weit die politischen Motive einer Neo-NS-Ideologie und des Ethnozentrismus in der Bevölkerung verbreitet waren.
Die Zahlen fielen eindeutig aus: Diese Ideologie der Ungleichwertigkeit wurde in der »Mitte« der Gesellschaft geteilt. Insbesondere Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus waren Einstiegsdrogen in den Rechtsextremismus, wie wir damals formulierten. Aber auch offener Antisemitismus war bei mehr als jedem zehnten Deutschen anzutreffen – in Westdeutschland zunächst häufiger als in Ostdeutschland. Zu ähnlichen Befunden kam etwa auch die Studienreihe »Deutsche Zustände«, die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit seit Anfang des Jahrtausends dokumentiert. Erfassen wir mit dem Ethnozentrismus die Abwertung anderer und die Aufwertung des Eigenen, so wies die Arbeitsgruppe um Wilhelm Heitmeyer nach, dass diese Aggressionen sich gegen fast jede Bevölkerungsgruppe richten kann (zuletzt Heitmeyer, 2012). Im Laufe der Jahre haben wir unsere Untersuchungsreihe fortgeschrieben, immer wieder um neue Motive der antidemokratischen Einstellung ergänzt und aktuelle Entwicklungen auf unserer Datengrundlage analysiert.
Von Anfang an war diese Studienreihe die Wortmeldung einer kritischen Wissenschaft: Kritische Wissenschaft, dieses Wortpaar bezeichnet einerseits die Kritik von Wissenschaft; andererseits hat eine solche Wissenschaft auch die Kritik der Gesellschaft zur Aufgabe, die das, was sie bedroht, immer wieder selbst hervorbringt. Es geht uns um Selbstaufklärung der Gesellschaft, getragen vom »Interesse an vernünftigen Zuständen« (Horkheimer, 1937, S. 172). Wir wollen also nicht allein die politische Debatte mit Zahlen versorgen, sondern insbesondere eine empirisch gesättigte Analyse vorlegen, um das von Klaus Heinrich formulierte Ideal einer Wissenschaft zu erfüllen und der »Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben« (Heinrich, 1998). Unsere Beobachtungen können in ihrer Bedeutung erst erkannt werden, wenn sie in eine Gesellschaftstheorie eingebettet werden, denn erst durch diese kann die Dynamik der antidemokratischen Mobilisierung verstanden werden.
Kritische Wissenschaft steht im Ruf zu kommen, ohne dass sie jemand gerufen hat, Fragen zu beforschen, die keiner gestellt hat, und Antworten zu geben, die keiner hören will (Decker, 2022, S. 15). Auf die Leipziger Autoritarismus Studien trifft das aber nur bedingt zu. Seit 2002 gehören die Ergebnisse unserer Studien zu den breit rezipierten und diskutierten wissenschaftlichen Befunden. Das Ziel, den gesellschaftlichen Debatten die wissenschaftliche Expertise an die Seite zu stellen, konnten wir oft erreichen. Das ist ein Erfolg. Aber auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus heute aktiv geführt wird, so bleiben doch die Bedingungen seiner Möglichkeit unberührt. Was sich nicht zuletzt durch den immer noch verwendeten Begriff »Rechtsextremismus« selbst zu erkennen gibt. Seine Reichweite erhält er aus einer wissenschaftlichen Debatte und einer Sicherheitspolitik, die das Problem auf eine paradoxe Weise entpolitisiert. Sie vermag es eben nicht, in der scheinbaren Abweichung von der »Mitte«, dem Extrem, den regelhaften Betrieb der Gesellschaft zu erkennen. Um auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen, sprachen wir von Anfang an vom »Rechtsextremismus der Mitte«.
Durch die breite Rezeption der Ergebnisse unserer Forschung wird einerseits offenbar, dass unsere und auch die Forschung anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dringend gebraucht werden. Andererseits zeigt sich daran gleichzeitig die Limitierung der Forschung: Die Gesellschaft hat ihre Bedingungen in der Zwischenzeit nicht verändert, sie bringt weiterhin die Phänomene hervor, die ihren demokratischen Bestand bedrohen. Und nicht nur diese. Dass sie, anstatt den allgemeinen Wohlstand zu sichern (und zwar nicht auf Kosten der eigenen Lebensgrundlagen und der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten), immer wieder destruktive Dynamiken in Gang setzt, gilt noch heute – und ein Ende ist nicht absehbar. Das wiederum stellt der Wissenschaft die schwierige Aufgabe, ihre Begriffe und Ergebnisse beständig zu reflektieren.
Gleichsam ist diese Aufgabe aufs Engste mit unserem Anliegen verbunden, denn eines der vornehmen Ziele kritischer Theorie ist das »Nachsitzen«, wie es der Sozialphilosoph Christoph Türcke formulierte (Türcke, 1998, S. 8). Es gilt, immer wieder aufs Neue den Kontext zu rekonstruieren, in dem unsere Forschung steht, unsere Ergebnisse zustande kommen und rezipiert werden. Wissenschaft steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist selbst Teil des Prozesses, in dem wir als Menschen unsere Lebensbedingungen schaffen und verändern. Unsere Forschungsergebnisse dokumentieren gleichzeitig die politische Einstellung, wie sie als Langzeituntersuchung mit den Veränderungen in der Einstellung auch Hinweise auf gesellschaftliche Veränderungen und die aus ihnen folgenden Anforderungen an die Gesellschaftsmitglieder liefern.
Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum – Verschwörungsmentalität und Autoritarismus
Um den Zusammenhang von individuellen autoritären Reaktionen und gesellschaftlichen autoritären Dynamiken aus kritisch-theoretischer Perspektive zu illustrieren, soll hier mit der Verschwörungsmentalität einem Element des autoritären Syndroms exemplarisch Aufmerksamkeit gewidmet werden. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie sind Verschwörungserzählungen ein wichtiges Bindeglied zwischen verschiedenen antimodernen Milieus. Und wie wir hier schon sehen, finden in den Sozialwissenschaften verschiedene Begriffe Verwendung, wenn es um das Phänomen geht, welches wir hier betrachten. Das gilt auch für den Glauben an Verschwörungserzählungen, der durch die Pandemie und die Reaktion auf diese in den Fokus eines breiten Interesses rückte. Zu den Begriffen Verschwörungsmythos, Verschwörungsideologie, Verschwörungsnarrativ und Verschwörungsmentalität (Pfahl-Traughber, 2002) gesellen sich die Begriffe Verschwörungsglaube und Verschwörungstheorie (Butter, 2018). Das ist aber weniger eine babylonische Sprachverwirrung in der Wissenschaft, als vielmehr dem Gegenstand selbst geschuldet. Weil in der Forschung allerdings in der Regel nicht von Verschwörungstheorien gesprochen wird, gehen wir auf diesen Begriff hier nicht weiter ein (vgl. Pfahl-Traughber, 2002). Die anderen aber finden breite Verwendung. Auch bietet die Vielzahl an Begriffen einen Ansatzpunkt, um die Verschränkung von autoritärer Dynamik in der Gesellschaft und der autoritären Reaktion der Individuen aus kritisch-theoretischer Perspektive darzustellen. Denn einerseits fächert sich das Phänomen in verschiedene Teilbereiche auf, und andererseits erfassen die unterschiedlichen theoretischen Konzepte zu seiner Erklärung andere Facetten. Was jeweils mit den Begriffen bezeichnet wird, überlappt sich, wie auch die theoretischen Konzeptionen nicht völlig gegensätzlich sind. Ihnen liegen allerdings unterschiedliche Gesellschaftstheorien und psychologische Annahmen zugrunde. Deshalb sind die begriffliche und theoretische Differenzierung wichtig, kann doch mit ihnen die enge Verbindung von Verschwörungsmythen mit der Gesellschaft, in der sie entstehen, analysiert werden.
Mit der Gesellschaft und der Psyche sind bereits zwei Ebenen genannt, denen sich die Begriffe zuordnen lassen: Auf einer Makroebene liegen die Begriffe Verschwörungsmythos und Verschwörungsideologie, denn mit ihnen werden gesellschaftstheoretische Annahmen zur sozialen und historischen Funktion des Phänomens auf einen Nenner gebracht. Bei der Forschung auf der Mikroebene, also mit Blick auf die individuell-psychische Funktion und Bedeutung, finden der Begriff Verschwörungsmentalität und der Begriff Verschwörungsglaube Verwendung. Glauben bezeichnet umgangssprachlich aber nicht nur eine subjektive Bedeutung, sondern auch geteilte Glaubensinhalte, etwa in Form von zentralen Glaubenssätzen einer Religion. Deshalb werden Phänomene auf der dritten, der Mesoebene ebenfalls als Verschwörungsglaube bezeichnet, aber auch als Verschwörungsnarrativ bzw. synonym Verschwörungserzählung. Es geht dann nicht mehr um die Funktion, sondern um konkrete Glaubensinhalte. Die Mesoebene wird im Kapitel 7 in diesem Buch mehr Aufmerksamkeit bekommen, hier sollen die Makro- und die Mikroebene kurz erläutert werden.
Der Begriff des Verschwörungsmythos geht auf den Sozialphilosophen Ernst Cassirer zurück. In seinem Grundlagenwerk Theorie der symbolischen Formen (Cassirer, 1923, 1925, 1929, 1946) widmete er sich zunächst der Funktion von Mythen in der europäischen Zivilisationsentwicklung. Die Geschichte der Aufklärung sei ein Prozess, der ursprünglich als Kampf gegen Mythen begonnen wurde, schließlich aber in eine Transformation von Mythen mündete, keinesfalls in ihr Verschwinden. Dadurch geriet wiederum der Prozess der Aufklärung selbst in den Blick. Gemeint ist hier die gesamte »Entzauberung der Welt« (Weber, 1919, S. 488), nicht die Epoche der Aufklärung. Zwar zeichnet Aufklärung das Bemühen um ein rationales Verständnis der in der Natur wirkenden Gesetze aus, während mythisches Denken höhere Kräfte am Wirken sieht. Allerdings kam auch in Mythen selbst ein Moment der Aufklärung zum Tragen. Im britischen Exil wendete Cassirer sich mit diesem theoretischen Verständnis der Rassenideologie und dem Antisemitismus des NS-Staates zu und stellte eine fundamentale Veränderung fest. Es seien nunmehr »politische Mythen«, und diese wiesen eine Besonderheit auf: Sie bereiten nicht Aufklärung vor, sondern schaffen diese ab. Man könnte sagen, dass zu ihrem wesentlichen Kennzeichen ihr instrumenteller Charakter als Ideologie wurde. Dadurch unterscheiden sie sich von jenen Mythen, welche die Menschheitsgeschichte begleitet haben: Waren Mythen schon immer auch der Versuch, Undurchschaubares durchschaubar zu machen, die Angst vor der Übermacht der Umwelt zu nehmen, indem sie erklärt wird, entfalten die »politischen Mythen« ein großes Zerstörungspotenzial. Der Vergleich zur individuellen Entwicklungsgeschichte mag das illustrieren:
Die Allmachtsfantasie der eigenen Gedanken beim Kind ist ein notwendiger Entwicklungsschritt. Er ermöglicht die Erfahrung der eigenen Abgegrenztheit – er ist gleichzeitig kränkend und die Voraussetzung für die Autonomie des Individuums. Gibt der Erwachsene dem Wunsch nach, durch seine enge Verbindung mit allem alles beherrschen zu können, gewinnt er nicht Autonomie, sondern zerstört die Bedingung ihrer Möglichkeit.
Als die Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Schrift Dialektik der Aufklärung (Horkheimer & Adorno, 1944) den Zivilisationsbruch untersuchten, den die Shoah darstellte, konnten sie sich bereits auf Cassirer beziehen. Sie nutzten den Begriff allerdings als Wissenschaftler in einer kritisch-wissenschaftlichen Tradition. Vor der Machtübergabe an die NSDAP und vor der Shoah galten ihre Forschung und auch die von ihnen durchgeführten Autoritarismus-Studien der Ideologiekritik. Nun wendeten sie sich mit dem Mythos-Begriff der Vernunftkritik zu. War schon die Ideologie eine »Religion des Alltagslebens« (Marx, 1894, S. 838), diente sie doch zunächst der Durchsetzung von gesellschaftlicher Herrschaft und hatte einen, wenn auch instrumentellen Bezug zur Realität. Diese Kritik war nicht vollständig obsolet, aber mit Ernst Cassirer, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud versuchten sie nun, die enge Verbindung von Aufklärung und Subjektivität mit ihrem glatten Gegenteil – Herrschaft, Irrationalität und Mythos – zu verstehen.
Erkennbar schließt der Begriff des Verschwörungsmythos an den Mythos-Begriff an, der Begriff der Verschwörungsideologie an den Impuls einer kritischen Gesellschaftstheorie. Ist der individuelle Verschwörungsglaube, die Verschwörungsmentalität, scheinbar ein individueller Irrsinn, so verweist er doch auf die »Irrationalität des Ganzen«, unter dessen Bedingungen er entsteht. In beiden Fällen sollen der gesellschaftliche Funktionszusammenhang und die gesellschaftliche Synthese des Phänomens benannt werden. Die enge Verbindung der zwar von vielen geteilten, aber dennoch individuellen psychischen Funktion mit der sozialen Funktion wird hervorgehoben; Verschwörungsmythen sind weiterhin pure »Alltagsreligion« (Claussen, 1992).
Damit kann zu den beiden anderen Begriffen übergeleitet werden, mit denen das Geschehen auf der Mikroebene gebündelt wird. Was als Verschwörungsmythos bezeichnet wird, lässt sich als individueller Verschwörungsglaube und Verschwörungsmentalität beforschen. Diese analytische Trennung macht es möglich, die soziale Funktion von antimodernen, gegenaufklärerischen Ideologien (soziale Funktion) getrennt von dem Bedürfnis der Befragten (psychische Funktion) nach diesen »politischen Mythen« zu beforschen. Der Zusammenhang zwischen beobachteten gesellschaftlichen Prozessen und den fantasierten, hinter ihnen stehenden und verdeckt arbeitenden dunklen Mächten wird individuell durch eine Verschwörungsmentalität begünstigt. Es geht um die psychische Funktion, die diese Erzählung beim Individuum erfüllt: die Abfuhr von autoritären Aggressionen, das Erleben von Handlungsfähigkeit und die Kontrollrestitution (Chasseguet-Smirgel, 1975; Bohleber, 1998). Letztere Funktion mag auf den ersten Blick überraschen, klingt doch die Verbindung von fantasierten, anonymen Mächten und einer daraus resultierenden eigenen Handlungsmächtigkeit zunächst paradox. Aber: Wer an Verschwörungserzählungen glaubt, glaubt gleichzeitig, ein exklusives Wissen über Zusammenhänge zu haben, die dann auch von ihm beeinflusst werden können. Ähnlich wie im religiösen Glauben gelingen eine Sinnstiftung und Welterklärung, die Angst und Unsicherheit nicht unbedingt nehmen, aber zu reduzieren helfen. Verschwörungserzählungen wie etwa jene vom »mächtigen Juden« werden geglaubt, weil der Wunsch zu glauben bereits da ist. Der Begriff der Verschwörungsmentalität ist in diesem Sinne von Graumann und Moscovici (1987) eingeführt worden und heute in der sozialpsychologischen Forschung verbreitet. Verschwörungsglaube kann in diesem Sinn ebenso verwendet werden.
Dieser Beitrag ist die (leicht gekürzte) Einleitung von Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.): “Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten – Neue Herausforderungen – alte Reaktionen?” Leipziger Autoritarismus Studie 2022, hrsg. u.a. von der Otto Brenner Stiftung und hier mit deren freundlicher Genehmigung. Alle 13 Einzelbeiträge, Anmerkungen, Quellenverzeichnisse und Autor*inn*eninformationen finden Sie hier vollständig und frei zugänglich online.
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