Beueler-Extradienst

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Mit dem Rücken zum Meer

Argentinien und sein ambivalentes Verhältnis zum Atlantischen Ozean

Die Sicht der Bevölkerungen Lateinamerikas und der Karibikstaaten auf das Meer ist sehr unterschiedlich. In Chile mit seinen 4000 Kilometern Küste spielen der Pazifische Ozean, die Seefahrt und die Fischerei eine zentrale Rolle im nationalen Selbstverständnis. In Peru stehen die Küstenregionen im deutlichen Gegensatz zum andinen Hochland, weshalb manche Leute behaupten, auf seinem Territorium existierten zwei kulturell, politisch und ökonomisch grundverschiedene Nationen. Ähnliches gilt für Ecuador. In allen drei Ländern spielen die Erzeugnisse des Meeres auf dem Speiseplan eine wichtige Rolle. Ganz anders auf der komplett von Wasser umgebenen Insel Cuba. Dort isst man kaum Fisch und Meeresfrüchte. Beides sind auf den meisten übrigen Karibikinseln Grundnahrungsmittel. Sehr unterschiedlich ist der Blick aufs Meer auch in den Binnenländern Paraguay und Bolivien. Während sich Paraguay als ein vor allem von der Pampa geprägtes Land sieht, ist das Meer in Bolivien ein nationaler Mythos. Seit 1883, als es nach der Niederlage im Salpeterkrieg seinen Küstenabschnitt am Pazifik an Chile verlor, kämpften die unterschiedlichsten bolivianischen Regierungen juristisch und politisch um einen Zugang zum Meer. Das Thema hat auch politisches Mobilisierungspotenzial, was Regierende immer wieder nutzen, besonders in Krisenzeiten. Argentinien wiederum hat eine riesige Küste, aber seine Bevölkerung interessiert sich außerhalb der Sommerferien wenig für das Meer. Für Emotionen sorgen nur einige kleine Inseln im Südatlantik, die Malvinen, ein anachronistisches Überbleibsel des britischen Kolonialismus. Obwohl sie eindeutig sehr viel näher an Argentinien als an Großbritannien liegen, halten die Regierenden in London an ihren kolonialen Ansprüchen auf die Inseln – sie nennen sie Falklands – fest und verteidigen sie mit allen Mitteln.

Die Wurzeln des spanische Kolonialismus

Viele der heutigen Merkmale und Probleme Lateinamerikas haben ihre Wurzeln im spanischen Kolonialismus. Das gilt auch für das relative Desinteresse der Argentinier*innen am Meer und seinen Küsten. Als der spanische Konquistador Pedro de Mendoza im Februar 1536 am Ufer des Río de la Plata eine Siedlung mit den Namen „Puerto de Nuestra Señora Santa María del Buen Aire“ aufbaute, brachte er nicht nur spanische Soldaten und Geistliche, sondern auch den deutschen Chronisten Ulrich Schmidl mit, der für die Nachwelt die Ereignisse schriftlich festhielt. Mit den Schiffen kam auch eine kleine Anzahl Pferde und Rinder in die neue Niederlassung des spanischen Imperiums. Die einheimischen Querandí-Indígenas merkten nach einer ersten friedlichen Phase des Zusammenlebens, dass die Spanier auf Eroberungskurs waren, und nach Angaben von Herrn Schmidl belagerten irgendwann mehr als 23000 Querandíes die neu gegründete Siedlung. Gepeinigt durch eine Geschlechtskrankheit, die er sich sicherlich nicht bei der Naturbeobachtung zugezogen hatte, beschloss Pedro de Mendoza, den Stützpunkt am Río de la Plata aufzugeben, und kehrte Ende Juni 1536 nach Spanien zurück. Zu seiner Hinterlassenschaft gehörten die oben erwähnten Tiere.

Als 1580 Juan de Garay aus Asunción del Paraguay kommend den zweiten und endgültigen Anlauf nahm, um die spanische Stadt am Ufer des Río de la Plata zu etablieren, stellte er erstaunt fest, dass Rinder und Pferde sich rasant vermehrt hatten und die Böden um Buenos Aires die ideale Basis für die Rinder- und Pferdezucht bildeten. Ein Überangebot an tierischen Proteinen bestimmte von nun an die Speisekarte der in und um Buenos Aires Lebenden – bis zum heutigen Tag.

Auf die Idee zu fischen kam fast niemand

Auf die Idee, am Ufer des Río de la Plata oder an der südlichen Atlantikküste zu fischen, kam fast niemand. Mehrere Jahrhunderte lang war alles, was mit dem Meer und dem Südatlantik zu tun hatte, allerhöchstens eine Angelegenheit von Ausländern, die in den Diensten der argentinischen Behörden standen. So gründete der aus Irland stammende Guillermo Brown die argentinische Marine (um 1814), und der erste argentinische Gouverneur der Malvinen-Inseln wurde 1883 der in Hamburg als Sprössling einer Hugenottenfamilie geborene Luis Elias Vernet.

Erst 1924 wurde in Mar del Plata, 400 km südlich der argentinischen Bundeshauptstadt Buenos Aires, der erste richtige Fischereihafen gebaut. Tonangebend im Fischfang waren hier lange Zeit Familien italienischer Einwanderer. Mar del Plata ist immer noch der wichtigste Fischereihafen des Landes und vielleicht die einzige argentinische Großstadt mit einer relativ hohen Anzahl an Fischrestaurants. Necochea-Quequen und Ingeniero White-Bahia Blanca, weiter südlich in der Provinz Buenos Aires und ursprünglich als Getreide- und Fleischhäfen gebaut, beherbergen den Rest der argentinischen Fischfangflotte. An den übrigen 2000 km Atlantikküste bis Feuerland gibt es nur kleinere Häfen. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO arbeiteten 2018 etwa 25000 Argentinier*innen in der Fischereiwirtschaft, mehr als die Hälfte davon direkt im Fang, der Rest in der Verarbeitung der Fische und Meeresfrüchte. Rund 5000 Schiffe verschiedener Größe fingen nach diesen Angaben in besagtem Jahr 840000 Tonnen Fisch. Fast der gesamte Fischfang wird exportiert. Die Einwohner*innen des südatlantischen Landes konsumieren im Jahr nur knapp sieben Kilogramm Fisch pro Kopf, deutlich weniger als der weltweite Durchschnitt. Pro Jahr erzielen argentinische Unternehmen im Schnitt zwei Milliarden US-Dollar durch den Export von Fischereierzeugnissen, die allerdings gegenüber den 50 Milliarden, die durch den Getreideexport erreicht werden, als relativ wenig erscheinen.

Niedergang nach dem antiperonistischen Staatsstreich 1955

Die argentinische Frachtschifffahrt entstand auch als Reaktion auf die Auseinandersetzungen in Europa. Besonders während des Zweiten Weltkrieges hatten die argentinischen Exporteure, die die Neutralität des Landes nutzten, um an beide kriegführende Allianzen zu liefern, zunehmende Schwierigkeiten, Frachtraum zu finden, um ihre Produkte nach Europa zu bringen. Im September 1941 wurde die Flota Mercante del Estado (Staatliche Frachtschiffflotte) gegründet. 1942 zählte die Flotte bereits 42 Schiffe und 15000 Matrosen. Zwischen 1940 und 1951 stieg die Zahl der Bruttoregistertonnen der Flotte um 287%. Die Flotte war nicht nur groß, sondern zum damaligen Zeitpunkt auch sehr modern. 1955, nach dem Staatsstreich gegen Peron, begann der Niedergang. Zwölf Frachtschiffe aus einer Flotte mit 47 Einheiten wurden verkauft. 1997, während der Präsidentschaft von Carlos Menem und im Rahmen seiner Privatisierungsorgie, wurde die gesamte Flotte veräußert, was dazu führte, dass keine argentinischen Schiffe mehr nationale Produkte ins Ausland bringen können.

Argentinien beansprucht als eigene Wirtschaftszone einen Küstenabschnitt von 200 Meilen ab der argentinischen Küste. Faktisch aber hat das Land weder die Mittel noch die Möglichkeiten, diesen Anspruch durchzusetzen. Der größte Anteil der Fische im Südatlantik wird von den spanischen und chinesischen Hochseeflotten gefangen. Diese entrichten zwar eine Fanggebühr an den argentinischen Staat, aber es gibt keinerlei Kontrolle darüber, wieviel und was tatsächlich von den spanischen und chinesischen Trawlern gefischt wird.

Die lokalen Behörden der von Großbritannien besetzten Malvinen-Inseln vergeben auch in einem geringen Maße Fischereilizenzen, die das Budget der knapp besiedelten, aber hochgerüsteten Inseln verbessern.

Export nur über Uruguay

Der entscheidende Faktor jedoch, um den argentinischen Blick aufs Meer zu ändern, liegt bei der Bevölkerung der argentinischen Bundeshauptstadt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten die Bewohner*innen von Buenos Aires im Sommer an den Ufern des Río de la Plata baden (wie es heute noch die Nachbar*innen in Montevideo, Uruguay, tun). Die zunehmende Industrialisierung im Verlauf der 1930er- und 40er-Jahre in der Umgebung der Hauptstadt führte zu einer Verschmutzung dieser Ufer und zur Vernachlässigung der Küsten. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Verwandlung des Riachuelo, einem 64 Kilometer langen Fluss, der im Innern der Provinz Buenos Aires entspringt und in den Río de la Plata mündet, in eine wahre Kloake mit allerlei Chemikalien, Schiffswracks, Müllbergen usw. Der Riachuelo bildet die südliche Grenze der argentinischen Bundeshauptstadt. Und es gilt aus gesundheitlichen Gründen ein Badeverbot an dessen Ufer.

Das fehlende Bewusstsein oder die Gleichgültigkeit zum Meer als Wirtschaftselement haben dazu geführt, dass die argentinische Produktion von Getreide, die in den Häfen der Provinz Santa Fe und Buenos Aires geladen werden, den Südatlantik nur erreichen können, wenn sie durch den in uruguayischen Gewässern befindlichen Kanal Punta Indio fahren. Der Río de la Plata ist für große Containerschiffe oder Frachter nämlich nur durch Kanäle befahrbar, weil sich auf dem Flussgrund regelmäßig die Sedimente der großen lateinamerikanischen Flüsse Paraguay, Paraná und Uruguay (1) sammeln.

(1) Uruguay ist der Name eines Flusses. Das Land, das gemeinhin Uruguay genannt wird, heißt korrekt „República Oriental del Uruguay“ (Republik östlich des Uruguay).

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 460 Nov. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Roberto Frankenthal / ILA:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    „Furat chie venit da’e su mare“ – sardisches Sprichwort.
    Wer vom Meer kommt, wird uns bestehlen.

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