Uruguay: Die „Barras Bravas“ als Ausdruck eines martialischen Männer(selbst)bildes
Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Fußballfans sind in ganz Lateinamerika traurige Realität und stehen oftmals in Zusammenhang mit den „Barras Bravas“ – der organisierten Ultra- beziehungsweise Hooliganszene. Auf den ersten Blick mutet es überraschend an, dass einige der berüchtigtsten „Barras“ der gesamten Region ausgerechnet aus Uruguay kommen. Tatsächlich scheint es in der „Fußballnation“ Uruguay einen besonderen Nährboden für diese Strukturen zu geben, ein Umstand, der sich auch negativ auf Versuche auswirkt, gegen homophobe und frauenfeindliche Stereotypen innerhalb der Fußballkultur des Landes vorzugehen.
Uruguay ist ein fußballverrücktes Land. Laut einer von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der staatlichen Universität durchgeführten Umfrage bezeichnen sich etwa 80 Prozent der Befragten selbst als „Hinchas“ (Fans) eines lokalen Fußballclubs. In der überwältigenden Mehrheit gilt dabei die Sympathie einem der beiden „Großen“: Club Atlético Peñarol und Club Nacional de Football. Zusätzlich gab fast die Hälfte der Personen an, dass der Ballsport in ihrem Leben eine wichtigere Rolle spiele als politische Fragen. Diese Zahlen bestätigen auch die alltägliche, widersprüchliche Wahrnehmung, dass die Fußballaffinität in Uruguay beileibe keine „Männersache“ ist, obgleich der Frauenfußball immer noch ein absolutes Schattendasein fristet.
Leere Stadien
Allerdings drückt sich diese Begeisterung längst nicht mehr in vollen Stadien aus. Selbst die beliebtesten Vereine spielen, jenseits von wenigen Partien, in der Regel nur vor spärlich besetzten Rängen. Der Besuch eines Fußballspiels ist kein populäres Freizeitvergnügen mehr. Strömten früher ganze Familien am Wochenende in die Spielstätten, so ist deren Anteil in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive gesunken. Einer der Gründe dafür ist zweifelsfrei die Tatsache, dass es am Rande von Fußballspielen wiederkehrend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter rivalisierenden Fangruppen kommt, die in der Vergangenheit auch immer wieder Menschenleben gekostet haben.
Im Gegensatz zur Heterogenität der „Hinchas“ befinden sich in den gewalttätigen Teilen der Fanstrukturen praktisch ausnahmslos Männer, die sich in beziehungsweise um die sogenannten „Barras Bravas“ organisieren. Diese „Barras Bravas“ (frei übersetzt: Wilde Banden) gibt es im Umfeld der meisten der rund 20 Profifußballvereine, die in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo beheimatet sind. Über die Gesamtzahl der Mitglieder und Anhänger der verschiedenen „Barras“ gibt es keine verlässlichen Angaben. Schätzungen legen jedoch nahe, dass es sich allein bei den beiden großen Montevideaner Clubs um jeweils mehrere tausend Personen handeln dürfte.
Drogenhandel und Mord
Trotz der öffentlich geäußerten Kritik an deren aggressivem Verhalten besitzen die „Barras“ mitunter in den Vereinen eine gefestigte Machtposition, die ihnen nicht nur unmittelbar materielle Vorteile sichert, wie der Zugang zu kostenlosen Eintrittskarten oder bezahlte Jobs innerhalb der Sicherheitsstrukturen der Clubs, sondern vor allem einen geschützten Raum, um ihre Aktivitäten zu organisieren. Dabei beschränken sich manche „Barras“ längst nicht mehr nur auf martialische Aktionen bei Fußballspielen. So sind beispielsweise Mitglieder der „Barra Amsterdam“ (Peñarol) tief in den Drogenhandel verstrickt und schrecken auch nicht vor Morden an vermeintlichen Rivalen zurück.
Trotzdem – oder vielleicht auch: gerade deswegen – scheinen die „Barras Bravas“ auf viele männliche Jugendliche eine gewisse Faszination auszuüben. Nicht nur in dem Sinne, dass körperliche Auseinandersetzungen als soziales Ventil verstanden werden, sondern auch dahingehend, dass über eine Organisierung in einer „Barra“ ein Prestigegewinn erhofft wird. Anders als in der kapitalistisch geprägten uruguayischen Leistungsgesellschaft sind in diesen Strukturen Bildungsstand, Einkommen und Herkunft nicht von Bedeutung. Was zählt, sind Loyalität und die Bereitschaft, die eigene Gesundheit, im Extremfall auch das eigene Leben, aufs Spiel zu setzen, wenn es gilt, „die Farben des Vereins zu verteidigen“. In Analogie zum Fußballspiel selbst bilden der Einsatz des eigenen Körpers, die Standhaftigkeit gegenüber den Rivalen und der Wille zur bedingungslosen Verteidigung des eigenen Territoriums, sei es im Stadion oder in den Stadtvierteln, die als dem eigenen Verein zugehörig empfunden werden, die wichtigsten Grundlagen des Kodexes.
„Die eigenen Jungs“
Dabei können die „Barras“ durchaus an tradierte Zuschreibungen andocken. Peñarol gilt klischeehaft als proletarisch, Nacional als bürgerlich, und viele kleinere Vereine rekurrieren auf den Zusammenhalt in dem Stadtviertel, aus dem der Club stammt. Gleichzeitig gibt es in Uruguay keinen anderen populären Kulturausdruck, der, nach außen gerichtet, so stark zur Bildung einer nationalen Identität und zur internationalen Sichtbarkeit des Landes beiträgt wie der Fußball. In diesem Kontext entsteht eine Gemengelage, die das Handeln der „Barras“ zwar nicht grundsätzlich legitimiert, zumindest jedoch relativiert, da es sich schließlich um „die eigenen Jungs“ handele, die in ihrer Leidenschaft für den Sport leider manchmal über die Stränge schlügen beziehungsweise: deren Leidenschaft von Kriminellen ausgenutzt würde, denen es im Kern nicht um den geliebten Fußball ginge.
Kaum hinterfragt wird dabei das gewaltverherrlichende, sexistische, homophobe und chauvinistische Gedankengut, das sich in den Sprechchören, Fangesängen und Graffiti widerspiegelt und den Zusammenhalt innerhalb der Gruppen manifestiert. Für Fernando Cáceres, ehemaliger Staatssekretär für Sport, wäre dies jedoch der zentrale Punkt, um jenseits von repressiven Maßnahmen das Problem in den Griff zu bekommen: „Die größere Herausforderung ist die Delegitimierung der eigenen Kultur der ‚Barras Bravas‘, die Entwertung ihrer soziokulturellen, individuellen und kollektiven Annahmen und Werte.“
Welche Werte dies unter anderem sind, konnte man deutlich beim „Clásico“ (Peñarol gegen Nacional) Anfang des Jahres wahrnehmen. Während des Spiels feierte die „Barra Amsterdam“ die kurz zurückliegende Ermordung eines Anhängers von Nacional, indem sie ein Lied anstimmte, dessen Refrain lautete: „Wie kann ich vergessen, als wir ein Huhn töteten / wie kann ich vergessen, es war das Beste, was mir je passiert ist.“ Jenseits der Verherrlichung eines Mordes drückte der Gesang auch ein zentrales Moment des Selbstverständnisses der „Barra“ aus. Gerade weil sich deren Mitglieder und Anhänger über das Selbstbild einer martialischen Männlichkeit definieren, gehört es auch zu dem Ritual, dem Rivalen im Stadion – sei es die gegnerische Mannschaft oder deren Fans – genau diese abzusprechen. Dabei spielen Zuschreibungen wie Feigheit, Schwäche und mutmaßlich fehlende Männlichkeit eine zentrale Rolle, gepaart mit Ausdrücken wie „Puto“ oder „Maricón“ (beides ließe sich in dem Kontext mit „Schwuchtel“ übersetzen). Oder eben „Gallina“ (Huhn) als verbreitetes Schimpfwort für eine als feige, schüchtern und ängstlich wahrgenommene Person.
Rechter Druck gegen LGTB-Solidarität
Im Gegensatz zu manchen Ultrastrukturen in Europa, die mittlerweile explizit solche Äußerungen in ihren Fanblöcken unterbunden haben, gibt es in Uruguay dahingehend kaum ein Umdenken, obgleich es hier eine ungleich stärkere, politische Frauen- beziehungsweise LGBT-Bewegung als beispielsweise in Deutschland gibt. Zwar zeigen sich einige Clubs zu bestimmten Anlässen explizit solidarisch mit diesen Bewegungen, das stößt mitunter jedoch auf den erbitterten Widerstand aus Teilen der Fangemeinde. Diese Erfahrung musste unter anderem die Vereinsführung des FC Danubio machen, eines Traditionsvereins aus dem Nordosten Montevideos. Im September (offiziell der Monat der Diversität) 2019 sorgte dieser Verein für ein Novum im uruguayischen Fußball, indem er über Twitter ankündigte, dass „die Fußballteams der Männer und Frauen von Danubio ihr erstes Spiel im September mit einer regenbogenfarbenen Armbinde bestreiten. Der Club feiert und verteidigt die Rechte der LGBT-Gemeinschaft.“ Allerdings konnte das Versprechen beim Männerteam nicht eingelöst werden. Der Widerstand aus den Reihen der eigenen Anhänger war zu groß. Einen Monat später wurde der Präsident des Clubs, Jorge Lorenzo, unter Androhung von Gewalt sogar zum Rücktritt gezwungen. Unbekannte hatten ihn in der Nähe seiner Wohnung mit einer Waffe bedroht und ihm klargemacht, dass er, um sein Leben und das seiner Familie zu schützen, den Verein zu verlassen habe. Selbst wenn die Hintergründe der Bedrohung nie aufgeklärt wurden – und entsprechend auch andere Motive eine Rolle gespielt haben könnten –, vermuten nicht wenige einen Zusammenhang mit der politischen Positionierung des Clubs. Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, aus welchen Strukturen die Täter stammten: aus der „Barra Brava“ des Vereins.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 461 Dez. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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