Vor wenigen Tagen warnte das Bündnis „Soziales Wohnen“ vor einem Kollaps auf dem so­zialen Wohnungsmarkt. Um diesen abzuwenden müsse der Bund ein Sonder­vermögen auflegen. Dafür seien mindestens 50 Milliarden Euro notwendig – zumindest für den An­fang. In diesem Bündnis haben sich der Mieterbund, die Baugewerkschaft sowie mehrere Sozial- und Branchenverbände zusammengeschlossen.

Erst durch die Schaffung der beiden Sondervermögen von 100 Mrd. € für die Bundeswehr und 200 Mrd. € als Abwehrschirm gegen die steigenden Energiekosten und die schweren Folgen für Verbraucher/innen und Unternehmen ist wahrscheinlich vielen Men­schen bewusst geworden, dass der Staat Vermögen aus dem Nichts schaffen kann. Es wird nicht aus dem Bundeshaushalt finanziert und taucht daher dort nicht als Kredit auf. Es ist eigentlich auch gar kein Vermögen, sondern eine Verschuldungsermächtigung.

Die beiden kreditfinanzierten Fonds werden als Sondervermögen deklariert, sind also Ne­benhaushalte, gelegentlich auch „Schattenhaushalte“ genannt. Für die Errichtung der Mili­tärfinanzierung wurde sogar die Verfassung geändert. Mit Zustimmung der Opposition ha­ben wir nunmehr einen „Waffenfonds“ im Grundgesetz. Auf die Kreditermächtigung von 100 Mrd. bzw. 200 Mrd. ist die Schuldenbremse nicht anzuwenden. Nur die jeweiligen jährlichen Einnahmen und Ausgaben aus den Sondervermögen müssen im Haushalt er­scheinen. Die Tilgung soll von 2028 bis 2058 erfolgen. Sie muss dann – ebenso wie die Verzinsung – aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.

Finanzminister Lindner will um jeden Preis dafür sorgen, dass die Schuldenbremse 2023 wieder eingehalten wird. Da diese Absicht mit den aktuellen finanzpolitischen Rahmen­bedingungen kollidiert, lässt er sich einen Trick nach dem anderen einfallen. So verwen­det er Kreditermächtigungen von 60 Mrd. €, die zur Linderung von Folgen der Corona-Pan­demie bewilligt wurden, nunmehr für einen Energie- und Klimafonds. Inhaltlich ist das durchaus positiv, rechtlich aber fragwürdig.

So bezweifelte der Bundesrechnungshof Anfang des Jahres die Verfassungsmäßigkeit dieser Umschichtung. Auch den 200 Mrd. € schweren Rettungsschirm stufte der BRH im Oktober 2022 als nicht verfassungsgemäß ein. Er sieht darin einen Verstoß gegen das Jährlichkeitsprinzip und den Grundsatz der Fälligkeit. Die Ausgaben dieser Sondervermö­gen gehörten daher in den Kernhaushalt des Bundes und nicht in ein Sondervermögen.

Im November des Vorjahres kritisierte der Bundesrechnungshof pauschal die aktuelle Haushaltspolitik der Ampelregierung und die Berechnungsverfahren des Finanzministers: Nebenhaushalte und eine immer kreativere Buchführung hätten Intransparenz zur Folge. Wörtlich hieß es: „Die Am­pel verschleiert die Haushaltslage. Der Fi­nanzminister verletzt doch die Schuldenbremse.“ Fürwahr ein starkes Wort.

Ein weiterer Schleichweg an der Schuldenbremse vorbei ist der Rückgriff auf die soge­nannte Asylrücklage von 48 Mrd. €. Die Schulden aus dieser Rücklage wurde in früheren guten Jahren weitgehend getilgt. Lindner füllt diese Rücklage jetzt durch neue Kreditauf­nahmen wieder auf und will die Gelder stärker zur Finanzierung des Haushalts nutzen als geplant. 2023 will er rund 40 Milliarden Euro entnehmen. Laut Bundesrechnungshof ist der Aufbau einer solchen Reserve nicht durch die Bundeshaushaltsordnung gedeckt und nur vorübergehend vertretbar, da dies nicht dem Jährlichkeitsgrundsatz des Bundeshaushalt entspricht.

Hilfreich für die Problembewältigung des Finanzminister ist gewiss auch eine aktuelle Ent­scheidung des Bundes­verfassungsgerichts. Es hat entschieden, dass die Europäische Union zur Bewältigung der coronabedingten Belastungen einen Wiederaufbaufonds von 750 Mrd. € bilden darf, ob­wohl solche Kreditaufnahmen in den EU-Verträgen nicht vorge­sehen sind. Deutschland soll davon 28 Mrd. € erhalten.

Zudem darf die Bundesregierung zur Erleichterung des Finanzministers 2023 doppelt so viel neue Kredite aufnehmen als bisher geplant, ohne gegen die Schuldenbremse oder die Verfassung zu verstoßen (35,4 statt 17,2 Mrd. €). Rechtfertigung ist die nachlassende Konjunktur. Die zulässige Kreditaufnahme laut Schuldenbremse richtet sich nämlich nach der Konjunkturlage. In einer Rezession darf die Regierung mehr Schulden machen, im Aufschwung dann weniger.

Was regelt eigentlich die Schuldenbremse, die Lindner offenbar 20223 um jeden Preis einhalten will? Seit 2011 gibt es verbindliche Vorgaben zur Reduzierung der Haushaltsde­fizite. In der damaligen Phase von Wachstum, Wohlstand und hohen Steuereinnahmen meinte die Politik, sich nur mit einer Verfassungsergänzung dazu zwingen zu können, die Steigerung der Staatsschulden zu beenden oder begrenzen.

Art. 109 des Grundgesetzes schreibt seitdem Bund und Ländern einen Haushalt vor, der ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen ist. Für den Bund ist dies in Artikel 115 Grundgesetz präzisiert. In diesem Rahmen gibt es nur einen eng begrenzten strukturellen, also unabhängig von der konjunkturellen Lage bestehenden maximalen Verschuldungs­spielraum von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In konjunkturell schlechten Zei­ten dürfen die Kredite allerdings höher liegen, in konjunkturell guten Phasen soll im Gegenzug die Verschuldung reduziert werden.

Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notfällen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, kann die Kreditobergrenze durch Bundestagsbeschluss überschritten werden. Dabei ist ein Til­gungsplan festzulegen. 2020 und 2021 hat der Bundestag unter Hinweis auf die Coro­na-Pandemie solche Ausnahmebeschlüsse gefasst. Im Juni 2022 wurde „aufgrund der fort­wirkenden Folgen der Corona-Pandemie sowie der weitreichenden Auswirkungen des rus­sischen Angriffskrieges gegen die Ukraine“ die Fortdauer der „außergewöhnlichen Notsitua­tion“ festgestellt.

Auffällig ist die außergewöhnliche Fülle an Details, die zum Thema Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben wurden. Üblich sind dort knappe prägnante Sätze. Ohnehin ist die Verankerung einer solchen Regelung im Grundgesetz kritisch zu sehen. Eine Ände­rung ist nur mit verfassungsändernder Mehrheit möglich. Das Parlament steckt insofern in einer Art Zwangsjacke, aus der es allerdings einen Ausweg gibt: Den Eintritt des Ausnah­mefalls kann der Bundestag mit einfacher Mehrheit beschließen. Zwar gelten dabei die er­wähnten Voraussetzungen, doch lassen sich diese gewiss mit Einfallsreichtum und Gestal­tungskraft erfüllen.

Die Schuldenbremse ist auch aus anderen Gründen umstritten. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne haben ihrer Einführung zugestimmt (trotz starkem internen Widerstand bei SPD und Grünen). Die Linke und viele Verbände lehnten sie ab, der DGB bezeichnete sie als „ökonomisch unsinnig und sozial ungerecht“. Befürchtet wird, dass bei Engpässen vor al­lem In­vestitionen im Bildungs- und Sozialwesen gekürzt werden. Viele Wissenschaftler/in­nen tei­len diese Kritik, im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli­chen Ent­wicklung („Wirtschaftsweise“) fand sich nur eine Mehrheit von 3:2 Stimmen.

Warum und wie werden Sondervermögen geschaffen? Bei solchen Konstruktio­nen han­delt es sich um abgesonderte Teile des Bundesvermögens, die durch Gesetz er­richtet und zur Erfüllung einzelner Aufgaben des Bundes bestimmt sind. Sondervermögen sind nicht im Bundeshaushalt auszuweisen und werden wirtschaftlich getrennt vom übri­gen Bundes­vermögen verwaltet und abgerechnet. Sondervermögen werden beispielswei­se eingerich­tet, um umfangreiche und mehrjährige Maßnahmen für einen ganz bestimm­ten Zweck zu fi­nanzieren. Sie bedürfen eines Gesetzes und müssen die gleichen rechtlichen Anforde­rungen erfüllen wie der Bundeshaushalt.

Manche Sondervermögen sind zu einer eigenen Kreditaufnahme berechtigt, so die bei­den neuen Fonds und aus früheren Zeiten der Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) aus 2008 mit 90 Mrd. €, der Investitions- und Tilgungsfonds (ITF), der Restrukturierungsfonds (RFS) und der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (2020 bis 2022 mit knapp 10 Mrd. €). Ande­re Sondervermögen (Energie und Klimafonds, Aufbauhilfefonds, Sondervermögen für Digi­tale Infrastruktur, Rücklage für Asylbewerber und Flüchtlinge) werden über Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt oder andere Quellen finanziert. Der Bundesrechnungshof hat in sei­nem letzten Bericht insgesamt 24 Sonder-, Zweck- und Treuhandvermögen des Bundes aufgelistet. Die Kreditaufnahme durch oder zugunsten von Sondervermögen wird in die Staatsverschuldung eingerechnet.

Halten wir fest: Für die Ausstattung der Bundeswehr, zur Bekämpfung coronabedingter Belastungen und zur Abwehr der steigenden Energiekosten haben Bundesregierung und Bundestag drei Sondervermögen gebildet und die Schuldenbremse insofern außer Kraft gesetzt. Tatsächlich gibt es jedoch zumindest noch ein weiteres Problem, das die Voraus­setzungen für solche Maßnahmen erfüllt: Gewiss ist gerade die Klimakrise „eine Natur­katastrophe …., die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanz­lage erheblich beeinträchtigt.“ Insofern ist die Voraussetzung für eine Überschreitung der Kre­ditobergrenze erfüllt. Es geht darum, umfangreiche und mehrjährige Maßnahmen für einen ganz bestimmten Zweck zu finanzieren, ein typisches Kennzeichen für ein Sondervermö­gen. Offenbar mangelt es am politischen Willen. Auch das aktuell geforderte Sonderver­mögen für den Wohnungsbau lehnte die Regierung umgehend ab.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.