Immer wieder wird die Frage gestellt, ob sich der Westen bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen auf so etwas wie einer Rutschbahn hinein in eine schleichende Kriegsteilnahme befindet oder gar Kriegspartei werden könnte. Die Frage ist schwerer zu beantworten, als es auf den ersten Blick erscheint. Zumal es wie auch im richtigen Leben immer verschiedene Blickwinkel und Interessen der Beteiligten gibt. Versuch einer Annäherung:

Orientierung an  nicht unumstrittenen Prinzipien

Dass die militärische Unterstützung einer Kriegspartei mit Waffenlieferung beginnt und in die Kriegsteilnahme der Unterstützerstaaten vom ersten Tag des Ukrainekrieges diskutiert wurde, ist bekannt. Allgemeine Meinung ist, dass Waffenlieferungen noch keine Kriegsteilnahme bedeuten. Dagegen wären die Verletzung des Luftraumes der Ukraine durch die Einrichtung einer “Flugverbotszone”, wie sie verschiedene Protagonisten wie Ralf Fücks und Marieluise Beck gefordert haben, eine eindeutige Einmischung der NATO in Kriegshandlungen – auch wenn die Ukraine das fordern würde. Ein früher Grenzfall war die 2022 zunächst geplante Lieferung von MIG-29 Kampfflugzeugen, die die Bundeswehr in den 90er Jahren an Polen abgegeben hatte. Polen selbst traute sich nicht, die Maschinen von Polen aus in die Ukraine zu fliegen, denn polnische Piloten wären mit Eintritt in den Luftraum der Ukraine zu Kriegsbeteiligten geworden. Deshalb schlug die polnische Führung bauernschlau vor, die MIG-29 sollten doch von Ramstein aus von deutschen Piloten in die Ukraine geflogen werden. Die USA legten ihr Veto ein, weil dies den Kriegseintritt der NATO mit Russland bedeutet hätte.

Kritiker sehen das weniger eindeutig

So schreibt etwa Karl W. Koch, Sprecher der “Grünen Linken” in einem Positionspapier: “Mit der Lieferung (vor allem von „schweren Offensiv-Waffen wird einen „Grauzone“ erreicht, die von Russland/Putin ggfls. auch in seinem Sinn interpretiert werden kann und mit dieser Interpretation weitere Schritte Putins begründbar würden.”

Noch kritischer ist nach Aussage des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Bundestages die nötige, unumgängliche Einweisung ukrainischer Soldaten an diesen Waffensystemen. Diese ist im Fall der BW-Haubitzen in Deutschland (Idar-Oberstein) erfolgt und wird beim Leopard 2 in Norddeutschland (Munsterlager), beim Abrams in Polen stattfinden.  Dazu zitiert der Wissenschaftliche Dienst den Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger:Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“”

Das Völkerrecht kennt keine übergeordnete Instanz

Die wichtigste Erkenntnis im Völkerrecht ist aber, dass es zum einen keine übergeordnete Gerichtsinstanz gibt. Deshalb erkennen weder die USA noch Russland den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an. Noch gravierender ist aber, dass Putin solche Grenzen sowieso nicht anerkennt, sondern nach Opportunität entscheidet, welchen Teil des Völkerrechts er bricht. Bisher hat er zwar nukleare Schläge angedroht, die er nicht unternommen hat, aber das bedeutet auch, dass er keinesfalls berechenbar ist. Denn im Gegensatz zu dem, was uns Außenministerin  Baerbock zu vermitteln versucht, dass Putin isoliert sei, zeigt z.B. das für den 24.2.2023 (!) gemeinsam von Russland und Südafrika geplante Marinemanöver, dass dem nicht so ist. Es gibt viele mögliche Szenarien, die eine Ausdehnung des Krieges in Mitteleuropa denkbar machen, hier sollen zwei erörtert werden.

Zwei mögliche Eskalationsszenarien

Szenario 1: Im Hinblick auf eine Eskalation ist zum einen die Steigerung des Risikos, Kriegspartei zu werden, durch immer neue Waffen denkbar. Unter dem Beschluss, der Ukraine westliche Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen, war die Tinte noch nicht trocken,  da tönte bereits die Forderung nach Kampfflugzeugen der amerikanischen Mehrzweckkampfbomber F16, dem Atomwaffenträger F 35 oder gar des Eurofighter Typhoon, ja sogar Langstreckenraketen (!!) und Kampfschiffen aus der Richtung des ukrainischen Vize-Außenministers Andryj Melnyk nach Berlin. Je komplizierter ein Waffensystem wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass Wartung, Reparatur und Schulung nicht von der Ukraine selbst, sondern von unterstützenden Ländern geleistet werden müssen. Die Wartung und Reparatur z.B. eines Eurofighter kann nur in einem NATO-Land erfolgen, das über die entsprechende Infrastruktur verfügt, eine F-35 bisher nur auf der US-Basis Ramstein. Das erhöht die Gefahr immens, dass diese Unterstützungsleistungen als Kampfbeteiligung interpretiert werden können.

Szenario 2: Mangelnde Klarheit der Kriegsziele und ihre Kommunikation kann die Kriegsgefahr signifikant erhöhen. Die NATO ist bisher in der öffentlichen Kommunikation ihres Engagements in der Ukraine recht zurückhaltend. Aus den Äußerungen Joe Bidens und anderer Unterstützer der Ukraine ist meistens der Eindruck zu entnehmen, als werde der Ukraine die Bestimmung der Kriegsziele überlassen. Das stimmt aber nicht wirklich, denn nicht ohne Grund wurden seitens der NATO der Ukraine vornehmlich Verteidigungswaffen und Raketen mit begrenzter Reichweite geliefert. Keine Langstreckendrohnen, keine Mittelstreckenraketen, keine Kampfjets. Denn dahinter treten die bisher oft diffus erklärten Kriegsziele in Erscheinung, die in etwa folgendermaßen einzugrenzen wären:

Klarheit über die Ziele der Waffenlieferung besteht in der Öffentlichkeit nicht

Eine weitere Eskalationsgefahr resultiert aus der Tatsache, dass nach wie vor keine verbindliche Klarheit über die Verteidigungsziele der Ukraine und der Grenze des Unterstützungswillens oder -bereitschaft der NATO besteht. Erklärtermaßen ist die selbstgewählte “Rote Linie”, dass die NATO es ablehnt, Kriegspartei zu werden. Aber unterhalb dieser Schwelle werden zum Teil fahrlässig Ziele genannt, die sehr wohl einen Kriegseintritt der NATO bedeuten würden. Die Krux, die auch Offiziere wie die ehemaligen Generäle Vad oder Kujat beklagen, ist, dass nicht über die politischen Ziele debattiert und daraufhin Waffen geliefert werden, sondern umgekehrt. Folgende Zwecke werden von unterschiedlichen Akteur*inn*en in der Öffentlichkeit genannt:

Man liefere Waffen, um
a) die Ukraine in der Verhandlungsposition verbessern, und vor dem Überranntwerden durch Russland ertüchtigen?
b) der Ukraine die nach dem 24.2. eroberten Gebiete zurückerobern zu ermöglichen,
c) die russische Armee aus den gesamten umstrittenen Gebieten der Ostukraine zu vertreiben? – Was geschieht dann mit der dortigen russischstämmigen Bevölkerung?,
d) den Krieg auszuweiten und auch die Krim zurückerobern?
e) Russland durch Angriffe auf sein Territorium militärisch so zu schwächen, dass es international keine Rolle mehr spielt?
f) was von alldem meint unsere Chefdiplomatin und Außenministerin Baerbock, wenn sie sagt “Die Ukraine muss siegen”?

Die politischen Ziele sind nach wie vor nicht klar!

Gehen wir vom Status Quo aus: Sicher sind die NATO-Staaten und die Ukraine im Punkt a) einig.

Beim Kriegsziel b) sind sich NATO und Ukraine offiziell auch einig, es ist aber spürbar und nachzufühlen, dass die Alliierten Zweifel haben, ob es die Ukraine langfristig schaffen kann, mehr als eine Pattsituation eines langen Abnutzungskrieges auf dem Schlachtfeld zu erreichen. Aber das rechtfertigt nicht, die Ukraine alleine zu lassen, ohne Schutz gegen den eindeutigen Aggressor Putin.

Schon für das politische Szenario c) gibt es weder einen Plan und es ist auch vor dem Hintergrund, dass in diesen Gebieten russische Bevölkerungen leben, mehr als fraglich, ob eine gewaltsame Rückeroberung völkerrechtlich zu rechtfertigen wäre. Denn es geht um die vom Minsker Abkommen festgelegten Grenzen. Sollten diese eine militärische Revision erfahren? Gibt es glaubwürdige Szenarien, sind sie überhaupt denkbar und diplomatisch begründbar? Militärisch durchsetzbar erscheinen sie jedenfalls realpolitisch nicht. In der Perzeption Russlands wäre vermutlich bereits die Schwelle erreicht, in der die Einsatzdoktrin nuklearer Schläge greift. Mit allen politischen Folgen.

Die Option d) würde von Russland als Angriff auf seine ureigenste Souveränität und zweifellos als Angriff auf sein Territorium und ihre militärischen Interessen wahrgenommen, der mit allen militärischen Mitteln zurückgeschlagen würde. Die Krim hat zweifellos Symbolkraft, nicht nur, weil dort die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, sondern auch, weil die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich für zu Russland gehörend definiert. Das schließt einen Einsatz von nuklearen Waffen ein, lässt ihn sehr wahrscheinlich erscheinen und würde von Russland als Akt der politischen Notwehr empfunden, dargestellt und mglw. weltweit auch so verstanden.

Das Szenario e) bedeutet: Krieg der NATO gegen Russland. Russland derart in die Defensive zu bringen, bedeutet einen vorhersehbar sicheren Einsatz von Atomwaffen und die Auslösung des Dritten Weltkrieges. Wir haben es mit einer Atommacht zu tun und wenn die droht, zu verlieren, ist eben nicht einschätzbar, was sie tut – und damit ist nicht Putins diffuses Geschwätz vom Frühjahr 2022 über möglichen Nukleareinsatz gemeint.

Die Folgen der politischen Unklarheit über die Kriegsziele

Was bedeutet es, 90 Leoparden, 31 Abrams und 14  Leclerc in die Ukraine zu schicken? Hierfür  müssen in Deutschland 400-1.000 ukrainische Soldaten und Mechaniker am Leo2 ausgebildet werden. Dazu 100 Transport-LKW Tieflader, denn die Panzer können ja nicht in der Ukraine hunderte km selber fahren usw. Logistik, Ersatzteile etc. Und nach 2-3 Monaten wären die Soldaten so weit. Für Abrams und Leclerc gilt das analog. Das ist eine gewaltige Aufgabe, vor allem im angekündigten Zeitraum.

Ein (hoffentlich nicht) denkbares Kriegsereignis und die Reaktion

Da schlägt im Leopard-Ausbildungszentrum wo auch immer auf NATO-Gebiet eine russische Rakete ein – mit konventionellem Sprengkopf, 200 Menschen sind tot, darunter 10 deutsche Ausbilder – drei Gebäude und 20 Panzer zerstört.
Und dann?
Putin lässt Shoigu sagen: “Entschuldigung, die Rakete war auf Charkiw  gezielt und ist leider vom Kurs abgekommen” … oder … “Wir haben gesehen, dass ein Überfall auf russisches Staatsgebiet im Donbas geplant war und mussten handeln” …
Und dann?
Schicken wir dann deutsche Eurofighter auf die Krim?
Oder die NATO eine Mittelstreckenrakete auf eine südrussische Kaserne?
Wie geht es dann weiter? Nukleare Eskalation mit Mittelstreckenraketen in Europa?

Was bedeutet dann die Formulierung “die Ukraine muss siegen!”

Die Welt stand zwei mal am nuklearen Abgrund – 1962, als ein russischer U-Boot-Kommandant in der Kubakrise und Blockade durch John F. Kennedy sich weigerte, von seinem aufgebrachten U-Boot aus Atomraketen auf die USA  abzuschießen – sein Vertreter und der Politikokmmissar hatten ihre beiden Schlüssel schon eingesteckt – zum Glück brauchte es damals drei. Wer nicht weiss, was gemeint ist, dem sei der Spielfilm “Thirteen Days” über die Kuba-Krise empfohlen.

Und 1983, als ein automatisches System im Weltraum eine amerikanische Atomrakete im Anflug auf die UdSSR meldete und  Oberstleutnant Petrow sich weigerte, die Meldung zum atomaren Gegenschlag weiterzugeben, weil er nach den Einsatzvorschriften den 3. Weltkrieg befürchtete. Er wurde nicht ausgezeichnet, sondern bestraft. Aber er hat vermutlich die Welt gerettet.

Wir stehen nahe am Abgrund

Heute gibt es viel mehr automatische Abwehrsysteme und nach der Kündigung des INF-Vertrages durch Trump gilt wieder die gleiche verkürzte Vorwarnzeit von wenigen Minuten für nukleare Mittelstreckenraketen in Europa wie nach 1984 durch Pershing II und SS 20. Das bedeutet, bevor der russische Offizier in der Leitzentrale irgendwo hinter Moskau seinen amerikanischen Kollegen im nuklearen HeadquARTEr nahe Stuttgart anrufen kann,  ist die Rakete schon auf dem Weg und eingeschlagen. Das alles ist keine Basis, um sich darauf auszuruhen, dass Putin schon nichts Falsches machen wird. Keine diplomatischen Bemühungen zu unternehmen, um immer wieder in Richtung von Verhandlungen zu drängen, oder zu behaupten, mit Putin wäre ja nicht zu verhandeln, ist unverantwortlich, fahrlässig und brandgefährlich. Es ist erstaunlich, wie innerhalb eines einzigen Jahres die Krisenerfahrungen von über 75 Jahren Atombewaffnung und Vernichtungsgefahr des Planeten ausgeblendet oder verdrängt worden sind.

Wer diffamiert, hat keine Argumente

Wer solche Überlegungen nicht anstellt oder als “Propaganda im Interesse Putins” vom Tisch wischen möchte, ignoriert, dass wir uns langsam auf eine “Rutschbahn” zu bewegen, ohne zu wissen, ab wo genau es kein Halten mehr gibt. Das ist kein Plädoyer, die Waffenlieferungen, vor allem Flugabwehrsysteme und auch Panzerlieferungen sofort einzustellen. Aber es ist eine Warnung vor einer immer weiter gehenden Ausdehnung auf immer neue Waffensysteme wie Raketen und Kampfflugzeuge und der Aufruf, der Diplomatie den Vorzug zu geben. Wer Bundeskanzler Scholz als Zögerer und Zauderer darstellt, diffamiert in Wirklichkeit dessen Bemühungen, uns alle vor dieser Rutschbahn zu bewahren.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net