oder: Was der Kapitalismus verändert – wenn er es in die Finger bekommt.

Manche Dinge sind auf den ersten Blick triviale Objekte. Aber sie machen durch ihren Wandel anschaulich, wie sich die Welt des Kapitalismus zu ihrem Nachteil verändert. Ich habe ein solches Beispiel an zwei Oldtimern selbst miterlebt und ich bin im Rückblick der Jahre gelinde fasziniert bis erschrocken. Im zarten Pubertätsalter von 17 beschloss ich, wie viele Schüler*innen in den Sommerferien etwas eigenes Geld zu verdienen. Mein Vater und mein Bruder arbeiteten damals bei Daimler-Benz in Stuttgart-Untertürkheim. Ich bekam vor 52 Jahren einen langweiligen Ferienjob in der Debitoren-Buchhaltung.

In einer von vier Wochen durfte ich eine echte Mitarbeiterin vertreten und deren Konten führen, d.h. Lochkarten der damaligen Computer richtig ablegen. Für einen Elftklässler kein Problem. Die restliche Zeit durfte ich Durchschläge von Neuwagenrechnungen in 6 farbigem Transparentpapier zu hunderten in Ordner der entsprechenden Werke des “Daimler” nach Auftragsnummer geordnet ablegen. Superspannend. Ich reagierte auf die intellektuelle Unterforderung mit  der Arroganz eines Gymnasiasten und machte täglich zwei Mittagspausen hintereinander, trieb mich auf dem Werksgelände um das alte Museum herum – heute residiert hier der Vorstand unter Ola Källenius, weil das alte Hochhaus mit dem Stern wegen Asbest gesperrt ist – und erkundete so manchen Schlupfwinkel. In einem Keller fand ich zwei  sensationelle Autos, die ich als 300 SLR Baujahr 1955 – ein Jahr jünger als ich – erkannte – aber die beiden waren völlig anders, als die bekannten SLR, wie die Öffentlichkeit sie kannte. Sie waren nämlich geschlossene Coupés mit Flügeltüren. Beide silbern, der eine innen mit rot und der andere mit blau kariertem Stoff und Leder ausgestattet.

Komische Anzeigen und Pedale

Die Armaturen waren irritierend, es gab neben dem Drehzahlmesser einen Tacho, der bis 300  reichte. Ich setzte mich rein und fand alles faszinierend unbequem. Das Getriebe lag links vom üblichen Kardantunnel zwischen den Beinen. Links davon eine Kupplung, die unendlich schwer zu betätigen war und rechts davon Gas und Bremse. Weil die Flügeltüren zu öffnen waren, kletterte ich in beide Fahrzeuge und schaltete ein bisschen am Getriebe herum, stellte mir vor, wie Stirling Moss, Jochen Rindt oder Rolf Stommelen damit schnelle Runden um den Nürburgring zu drehen. Erst etwa drei Jahrzehnte später erfuhr ich,  womit ich damals gespielt habe. Die beiden einzigen Exemplare des 300 SLR – Uhlenhaut-Coupé, benannt nach dem genialen Chefkonstukteur und Hobbyrennfahrer von Daimler-Benz, Rudolf Uhlenhaut. Er hat – verrückterweise zur “Selbstnutzung” am Vorstand vorbei – diese beiden Boliden aufbauen lassen. Den blauen 300 SLR fuhr er, wie wir heute wissen, als Dienstwagen täglich nach Hause. Das war nicht unproblematisch, weil dieser Prototyp über praktisch keinen Schalldämpfer verfügte und Uhlenhauts Nachbarn folglich morgens aus dem Bett fielen, wenn er in die Firma fuhr. Müßig zu fragen, wie dieses Fahrzeug eine Straßenzulassung bekommen konnte.

Offene Auspuffkrümmer, mit Zwangssteuerung der Ventile

Der 300 SLR durchbrach 1955 sämtliche Maßstäbe. 302 PS aus 2996 cm³ Hubraum, 290 km/h Spitzengeschwindigkeit und ein Lärm, der Fenster zum Scheppern brachte – und eine traumhaft schöne Karosserie, die bis heute als Stilikone der 50er Jahre gilt. Auch technisch waren diese Autos Juwelen. Der Reihenachtzylinder mit vielen Aluminiumteilen verfügte über obenliegende Nockenwellen und desmodromische Zwangssteuerung der Ventile, um höhere Drehzahlen erreichen zu können. Der vom Formel 1-Fahrzeug W 196 abgeleitete Motor gab seine Kraft nicht am Ende, sondern in der Mitte zwischen jeweils vier Zylindern ab – zur Gewichtsersparnis – und so kam es zur exotischen Lage des Getriebes. Der 300 SLR war eine Bestie von Auto. Nicht nur, dass Uhlenhaut es fertigbrachte, 1955 die Strecke zwischen Stuttgart und München in einer Stunde hinter sich zu bringen – er brüllte, rüttelte und schüttelte, wie eine Runde auf der DB-Teststrecke mit dem 300 SLR Ungetüm mit Hans Herrmann, Formal 1 Fahrer und 1955 jüngstes Mitglied des Formel 1 Werksteams von Mercedes-Benz, beweist.

Gehypte und entfremdete  Prestigeobjekte

Viele Jahrzehnte spielten die beiden Boliden kaum eine öffentliche Rolle, waren nur wenigen Insidern bekannt. Der “rote” und der “blaue” standen abwechselnd im Daimler-Benz Museum oder wurden – zuletzt von Mika Häkkinnen und David Coulthard, Stirling Moss und Karl Kling oder Lewis Hamilton und Michael Schumacher auf britischen Events wie den Goodwood Race Days gefahren. Damit könnte die Geschichte ein versöhnliches Ende nehmen,wie bei Frodo Beutlin im “Herrn der Ringe”: “Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage”. Aber der Kapitalismus war anderer Meinung. Noch zur Jahrtausendwende war es möglich, dass der Redakteur einer Motorsportzeitschrift das Fahrzeug 2002 noch selbst fahren durfte. All dieses änderte sich durch den Neoliberalismus, der in den 2000er Jahren eine neue Schicht von Autokäufern hervorbrachte: Oligarchen und Yuppies, die mit ihren locker sitzenden Millionen eine ganze Generation von neuen Supersport-Fahrzeugen verlangten und quasi aus der Portokasse bezahlten.

Andere Kunden, andere Bedürfnisse

Dem kamen DaimlerChrysler und andere ab 2000 mit der Entwicklung von semi-historischen Boliden entgegen. Der McLaren SLR war der Ausgangspunkt einer öffentlichen Darstellung der Verbindung zwischen einer Legende und einem neuen Produkt, das völlig ungezügelt und scheinbar ohne Grenzen Maßstäbe setzte. Weit über 626 PS, 334 km/h Spitze und 0-100 in 3,8 sec. übertrafen die Konkurrenz ähnlich wie damals der 300 SLR. Seitdem stand der historische SLR mit roter Innenausstattung in der Mclaren-Zentrale in Woking in U.K. als Ausstellungsstück. Nachdem die Kooperation von McLaren und Mercedes-Benz in Formel 1 und dem SLR endete, war sein Schicksal zunächst offen. Schon damals waren die beiden 300 SLR mit jeweils 30 Mio. € versichert.

Wertewandel der teuren Automobilbranche

Nach 2000 brach die Zeit der automobilen Gernegroße und Oligarchen an. Porsche, Ferrari, Maserati, Jaguar, Aston Martin, Bugatti (VW) und Lamborghini etc. entwickelten ähnliche Fahrzeuge zu ähnlichen sechs- oder siebenstelligen Preisen. Die Käufer dieser Fahrzeuge sind kapitalkräftige Autoposer, fahren illegale Rennen durch Europa, brechen Geschwindigkeitsrekorde von über 400 km/h auf deutschen Autobahnen, und bewegen sich oft nicht nur damit im kriminellen Milieu. Neben den alten Oldtimer-Freaks und -Liebhabern, die mit viel Hingabe und natürlich auch viel Geld bis dahin “alte Schätzchen” restauriert und gepflegt hatten, stieg nicht nur eine neue, zum Teil unangenehm an der Technik desinteressierte Klasse superreicher Autobesitzer auf. Oldtimer wurden insbesondere nach der ersten kapitalistischen Krise am “Neuen Markt 2002/2003” als auch nach Platzen der Immobilienblase und in der Niedrigzinsphase seit 2008/2009 zu Anlage- Spekulations- und Geldwäscheobjekten. So mancher alte Ferrari, Jaguar oder Benz verschwand zu Phantasiepreisen nach Auktionen in irgendwelchen Depots von Steuerflüchtlingen oder Spekulanten.

Spekulatius giganticus

Wie sehr sich die Marktlage verändert hat, zeigt sich an der “Serienlegende” Mercedes 300 SL, von dem als Flügeltürer mit 58 kg leichtem Metallrohrrahmen und 215 PS-Sechszylinder zwischen 1954 und 1958 etwa 1.200 Exemplare zum Preis von 29.000 DM am Werk gebaut wurden. Der Preis für diesen Oldtimer lag in den 70er Jahren restauriert bei 200.000 DM, stieg bis zur Jahrtausendwende auf etwa eine halbe Million Euro oder Dollar. Heute ist ein restaurierter und originaler 300 SL nicht unter € 1,2 – 1,5 Millionen zu bekommen. Selbst nicht-originale Replikas, die mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre auf Basis von Fahrgestellen des Mercedes W 124 oder nach 2002 des R 170  – SLK 32 AMG nachgebaut oder nachempfunden wurden, erreichen heute Mondpreise von  200.000 € und mehr. Nicht anders ging es mit Fahrzeugen der Marken Porsche, Ferrari, Lamborghini, Jaguar, Cobra oder Rolls Royce.

Das hatte auch Auswirkungen auf die beiden “Spielzeuge” meiner Jugend

Ich war schon geplättet, dass die beiden SLR für jeweils dreissig Millionen € versichert waren. 2022 war ich nicht der einzige Fan, der mit Entsetzen las, dass der “rote” 300 SLR, verkauft wurde. Bei Sutheby’s für die Rekordsumme von 135 Mio. Euro. “Hat ‘der Daimler’ mit seinen Milliardengewinnen trotz Corona und Umstieg auf Elektromobilität nötig?” fragten sich viele Oldtimer-Enthusiasten. Der Empörung von vielen Mercedes-Fans begegnete Mercedes mit dem Argument, der Käufer in Großbritannien habe harte Auflagen bekommen – Mercedes-Benz führt ihn deshalb weiter auf ihrer Homepage. Außerdem, so heisst es zur Erklärung, sei ja der “blaue” das “echte” Exemplar, das Uhlenhaut wirklich selbst gefahren habe. Der “rote” sei immer nur rumgestanden und nach einem Unfall wieder restauriert worden. Wie ich finde, aber schöner, gelungener. Aber das ist halt Geschmackssache. Lassen Sie sich den roten 300 SLR erklären – ich bin froh, dass ich damals drin sitzen durfte, ohne von der kompetenten Dame bequatscht – und ohne von Alfred Neubauer im Keller erwischt zu werden. Und noch etwas erfüllt mich mit Freude und Genugtuung: Elon Musk und Tesla werden so eine emotionale, analoge Maschine niemals erschaffen können.

P.S.: Für die Freaks eine Zugabe.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net