Seymour Hersh zur US-Kriegshandlung gegen Deutschland (NordStream): War es so? – Über Glauben und Wissen und die Pflicht, immer wieder zu fragen.

Eins muss man dem alten Granden des investigativen Journalismus, Hersh, lassen: Wenn er zur Feder greift, kann das kaum einer ignorieren.
How America Took Out The Nord Stream Pipeline
The U.S. Navy’s Diving and Salvage Center can be found in a location as obscure as its name—down what was once a country lane in rural Panama City, a now-booming resort city in the southwestern panhandle of Florida, 70 miles south of the Alabama border. The center’s complex is as nondescript as its location—a drab concrete post-World War II structure th…

Read more 5 days ago · 8,605 likes · Seymour Hersh

Der Bundestag widmete ihm sogar eine „Aktuelle Stunde“ (ab 6:14 h), aber nur wegen der AfD, die dieses „Nicht-Thema“ (laut GRÜNE) unbedingt diskutieren wollte, um sich angeblich zu profilieren. Und damit war die Frontlinie dieser Diskussion auch klar umrissen. Herr Kornelius von der Süddeutschen Zeitung übte sich wegen Hersh einmal mehr im Sport der Charakterhinrichtung. Früher sei der Mann ein brillianter Enthüllungsjournalist gewesen, bis er ins Reich des Phantastischen bzw. Konspirativen abdriftete. Kornelius ist nach wie vor der Auffassung, hinter dem Terroranschlag auf NordStream steckten die Russen, ganz so, wie das zunächst mit großer Verve kommuniziert wurde.

Vögelchen zwitscherten polnisch

Der polnische Ministerpräsident war einer der Ersten, der damals die Russen verdächtigte („sehr wahrscheinlich“). Er stützte seine Äußerungen auf „Informationen der westlichen Alliierten.“ Dem hatten angeblich ein paar Vögelchen mehr zugezwitschert als dem deutschen Kanzler, während sich Sikorski (unter anderem ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister) von der Opposition umgehend bei den USA bedankte (was er später löschte).

Der „Faktenfinder“ der Tagesschau „Was ist dran am Hersh-Bericht über US-Sabotage?“ beendet seine Präsentation ähnlich wie Cornelius – Hersh sei inzwischen fragwürdig und verbreite ein pro-russisches Narrativ:

„Zuletzt war der 85-Jährige jedoch mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen. So behauptete er unter anderem mehrfach, dass die Giftgasangriffe in Syrien inszeniert worden seien. Kritiker werfen ihm vor, Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Auch in seinem neusten Bericht verbreitet er das prorussische Narrativ, die aggressive Außenpolitik der Biden-Regierung sei Schuld an der Eskalation zwischen Russland und der NATO.”

Wichtiger ist im Moment etwas anderes.

“Ein Angriff auf Deutschland”

Im „Faktenfinder“ kommt ausführlich Julian Pawlak, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeswehruniversität in Hamburg, zu Wort. Der wird wie folgt zitiert:

„Und dann stelle ich mich mir die Frage, wie dann zwei Bündnismitglieder in Form der USA und Norwegens das Bündnis mit so einer Aktion aufs Spiel setzen würden. Ein Angriff auf Deutschland, einen anderen Bündnispartner, würde ja den ganzen Zusammenhalt torpedieren.”

Für diesen Klartext verdienen der „Faktenfinder“ und Pawlak größtes Lob. Der Anschlag auf Nord Stream war auch ein Angriff auf Deutschland. Den die deutsche Regierung und die Mehrheit des Bundestages eisern verleugnet. Auch die allermeisten deutschen Medien wollen diese Dimension nicht bemerken. Drei westliche Länder untersuchen den Vorfall. Keines will öffentlich etwas gefunden haben, was auf eine Täterschaft hinweist. Eine russische, so der Generalbundesanwalt, sei „derzeit“ nicht belegbar.

Selbstverständlich lässt uns auch der „Faktenfinder“ wissen, dass Hershs Bericht nur dazu führt, dass „der Kreml sich in seiner Sichtweise bestätigt fühlt“. Tatsächlich besteht ein erklärtes russisches Interesse an einer soliden Untersuchung. Aber welche Sichtweise des Kremls bestätigt Hersh? Moskauer Sicht ist, dass die Briten hinter dem Anschlag stecken. Hersh behauptet, es wären die USA und Norwegen gewesen. Sei es, wie es sei, Hershs Vorhaltungen wurden umgehend von allen Seiten offiziell und mit großer Entschiedenheit zurückgewiesen.

Hershs Artikel wendet sich den Fragen zu, die zur Aufklärung der Sabotage an NordStream 1 und 2 relevant sind. Längst ist unstrittig, dass es ein staatlicher Akteur gewesen sein muss. Die Frage ist also: Wer hatte das Motiv, wer die Mittel und Gelegenheit, wer die Entschlossenheit und wie lief es ab? Das Problem des Hersh-Artikels besteht darin, dass er all diejenigen, die eine Täterschaft/ Billigung der USA im Fall des Anschlags auf NordStream annehmen, scheinbar bestätigt, aber es umgekehrt auch leicht macht, seine Ausführungen ins Reich des Fabulierens zu verweisen.

Ein “Kriegsakt”

Unzweifelhaft gab der Altmeister gerne wieder, was ihm zugeflüstert wurde. Im Hersh-Artikel sind sich die Anschlagsplaner einig: Es wäre kein „Kinderkram“ – ein „Kriegsakt“. Aber gegen wen? Laut Hersh richtete er sich nicht gegen Russland, wie man vermuten könnte (Beseitigung von Einkommensquellen), sondern gegen Deutschland, diesen unsicheren Kantonisten, der – so Hersh – womöglich der Ukraine keine Waffen liefert, solange er russisches Gas bekommt.

Das ist eine sehr dünne Motivationslage. NordStream 2 war schon auf Eis gelegt, die Deutschen waren mit großem Engagement an den Wirtschaftssanktionen beteiligt. Waffen wurden auch geliefert. Nordstream 1 war fast versiegt. Der Bundeskanzler wurde -laut Hersh – bereits am 7. Februar fest „Team USA“ zugeschrieben. Warum musste NordStream dann noch kaputtgeschlagen werden? Nach dem erfolgten Attentat hieß es, regelrecht entschuldigend, NordStream sei 2022 ohnehin „ein gescheitertes Projekt“ gewesen.

Wer so argumentiert, übersieht (wie Hersh) den alles entscheidenden Punkt dieses Anschlags: Die Attentäter hatten es nicht nur auf Nordstream 2 abgesehen, sondern auch auf Nordstream 1. In dieser Totalität beraubten sie Deutschland seiner Souveränität über seine Energiepolitik. Es wurde der deutschen Entscheidung entrissen, russische Gas-Lieferungen entweder endgültig ad acta zu legen oder an der Überwindung der bestehenden Lieferschwierigkeiten bei NordStream 1 mit Russland zu arbeiten, an der Zukunft russischer Gaslieferungen festzuhalten oder möglicherweise Nord Stream 2 freizugeben. Deutschland wurde langfristig zu hohen Gaskosten verdammt, wirtschaftlich grundsätzlich geschwächt.

Anmerkung: Theoretisch besteht auch heute die Option für die Bundesrepublik, sich mit der russischen Seite über eine Reparatur bzw. Nutzung der einzigen unbeschädigten Pipeline zu verständigen. Politisch ist das absolut illusorisch. Es wurden die Zähne zusammengebissen, von düsteren Zeiten geschwafelt und nicht einmal miaut. Wer sich politisch so verhält, steht nicht empört auf und nimmt sein Schicksal in die eigene Hand, sondern fügt sich ergeben. Russische Überlegungen einer Reparatur stoßen auf bleiernes Schweigen bzw. – wie die Aktuelle Stunde im Bundestag bewies – auf anhaltende Denkverweigerung vieler.

Die meisten Kommentatoren kritisieren, dass Hersh nur eine Quelle hatte. Das scheint mir das am wenigsten überzeugende Argument. Beim Einschlag einer angeblichen russischen Rakete in Polen gab es auch nur eine Quelle, und schon funktionierten die anti-russischen Schnappreflexe wie von selbst. Ich kann mich ebenfalls an Pressemeldungen erinnern, die angeblich mehr als nur eine Quelle hatten und dennoch größten Blödsinn verbreiteten, wie etwa die 2021 enttarnte Lüge, die Russen würden den Taliban Kopfgeld zahlen, damit sie US-Soldaten töten (2020).

Sie erfüllte gleichwohl ihren Zweck, denn sie wurde geglaubt. Alle fühlten sich in der Überzeugung bestätigt, dass die Russen nicht der Freund der USA sind. Im Kongress fand dazu umgehend eine Anhörung statt.

Aufklärung pressiert nicht

Wenn man das mit der deutschen Reaktion auf einen tatsächlichen Anschlag auf drei von vier Pipelines vergleicht, in der auch deutsches Geld und deutsche Zukunft steckte, dann bekommt man eine sehr klare Vorstellung davon, dass eine seriöse Aufklärung nicht pressiert. Eine solche Vermeidungsstrategie macht nur Sinn, wenn auch in Berlin niemand ernsthaft glaubt, die Russen hätten Nord Stream auf dem Gewissen.

Laut Hersh vergingen zwischen Planung und Durchführung 10 Monate. Hersh beschreibt die tiefe Ablehnung der USA bezüglich der energiepolitischen Entscheidungen Deutschlands und der EU zugunsten russischer Gasimporten korrekt. Sie ist kein Geheimnis. Hersh fragte nicht, warum ihm gerade jetzt diese Geschichte von einer US-Schuld zugeflüstert wurde. Darin liegt seine Tragik. Er glaubte seiner Quelle und vermutete offenbar überhaupt nicht, dass diese böswillig handeln könnte.

Man könnte fast annehmen, bei der ganzen Geschichte ging um eine Rufschädigung von Hersh, die gleichzeitig dazu benutzt werden sollte, die schwärenden Verdächtigungen einer US-Täterschaft loszuwerden. (Und diejenigen, die jetzt ungeprüft Hershs Erzählung stützen, laufen meines Erachtens in die gleiche Falle. Auch ein Titan wie Hersh kann am Nasenring durch die Manege gezogen werden, wenn man es schlau genug anstellt. Es ist ihm bei seiner Kennedy-Biographie schon einmal passiert.)

Giftgas in Syrien

Ein sich wiederholendes Argument der heutigen Disqualifizierung von Hersh im sogenannten Mainstream ist dessen Berichterstattung zu den syrischen Giftgasanschlägen. Da hätte er schon konspirativen Ideen nachgehangen. Tatsächlich war dessen Artikel 2013 „Wessen Sarin“ sein letzter großer journalistischer Coup. Mit dem stellte er sich gegen das Narrativ vom Chemiewaffenmörder Assad. In gewisser Weise bestätigten die gemeinsamen russisch-amerikanischen Bemühungen um die Abschaffung der syrischen Chemiewaffen und auch Obamas Aussagen 2016 im Atlantic, dass die Grundzüge der Hersh-Recherchen zu Ghouta 2013 stimmten.

Zwar reichte der damalige Hersh-Artikel nicht aus, um das Narrativ zu Fall zu bringen, aber dass Hershs Enthüllungen sehr ärgerlich waren für jene, die mit soviel Elan an der Legende vom syrischen Chemiewaffenmörder Assad strickten und auf einen US-Krieg gegen Syrien spekulierten, ist sicher. Dass die sich das merken würden, auch. Denn die verbreitete Annahme, Frauen hätten ein viel „zu langes“ Gedächtnis, wird in der Realität weit übertroffen vom Elefantengedächtnis der Völker und Staaten. Da ist noch nach Jahrhunderten alles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Ein paar kurze Jahre sind gar nichts.

Das bewies beispielsweise Boris Johnson als Außenminister (und Zuständiger für den MI 6) bei der ersten Debatte um den sogenannten Skripal-Fall am 6. März 2018 im britischen Unterhaus. Statt des beliebten Mittels der Ausweisung forderte er umgehend den Boykott der von Russland ausgerichteten Fußball-WM. Wenige Monate später, im Juni 2018, titelte dann der Guardian:

„Russland sonnt sich in einer Weltmeisterschaft, die selbst der MI 6 Wladimir Putin nicht verwehren konnte“ (eigene Übersetzung).

Der Schmerz war also offenbar noch sehr präsent, dass London 2010 (Bürgermeister: Boris Johnson) im WM-Auswahlverfahren Moskau unterlegen war. Da man das in London kaum glauben konnte, wurde extra Christopher Steele, damals schon ex-MI 6, angeheuert, um russische Korruption zu beweisen. Aber Steele fand den faulen Apfel, den er suchen sollte nicht, jedenfalls nicht in Moskau. (2017 wurde der gleiche Steele sehr viel bekannter durch sein infames „Dossier“.)

Wofür wurde Norwegen gebraucht?

Aber zurück zum Hersh-Artikel zur Vorbereitung und Durchführung des Anschlags. Hersh zeichnet ein Bild einer äußerst komplexen Planung, die nicht von Raffinesse, sondern von aberwitzigen Elementen nur so strotzt, einen großen Personenkreis einschließt und mit einem plausiblen Anschlagsverlauf wenig zu tun hat. Nach Hersh wollen die Akteure die Sabotage so durchführen, dass sie sie glaubhaft abstreiten können. Dazu passt weder der große Kreis der „Verschwörer“ noch die martialische Durchführung der Tat. War der Spiegel-Bericht, dass die CIA vor einem Anschlag gewarnt hatte, nun Teil der Irreführung, hatte ein Komplotteur geschwatzt oder hatte die CIA was läuten hören?

Aber der Reihe nach: Wozu brauchte die CIA, die -so Hersh -das operative Kommando hatte, die Norweger?

Laut Hersh als geographisches Planungszentrum, als Erinnerer an ein jährliches NATO-Manöver in der Ostsee, als Hinweisgeber für die jeweiligen Wassertiefen der Ostsee (um den besten Anschlagsort zu bestimmen) und als Herkunftsland eines Flugzeugs, um die Zündung technisch in Gang zu setzen.

Das ist regelrecht bescheuert. Washington plant, unter Einschluss von Navy und Air Force, aber weiß nichts von jährlichen NATO-Manövern in der Ostsee, hat keine Ahnung von den Ostseetiefen und muss auf norwegisches knowhow und ein norwegisches Flugzeug ausweichen? Die Norweger machten natürlich gerne mit, weil sie die Russen „hassen“, Stoltenberg ein „überzeugter Antikommunist“ und „supreme NATO-commander“ ist?

Sorry. Stoltenberg ist nur NATO-Generalsekretär. Die USA stellen den Supreme Allied Commander. Und was hat „Antikommunismus“ damit zu tun, wenn die Deutschen laut Hersh zur Raison gebracht werden sollten?

Wie die Sache im Einzelnen abgelaufen sein soll, beschreibt Hersh nicht ganz genau. Er verweist darauf, dass das Anbringen der Sprengsätze Teil einer Übung mit Spezial-Tauchern im Rahmen des NATO-Manövers gewesen wäre. Von einem Schiff aus. Da er im Artikel auf eine geheime Tauchmission aus den 70er Jahren verweist, drängt sich der Verdacht auf, dass Hersh sich ein ähnliches Vorgehen vorstellte, bzw. ihm plausibel gemacht wurde. Im Hersh-Artikel heißt es, dass die Minen vor den Russen versteckt werden mussten. Schließlich hätten “die Russen eine höchste Überwachung der Ostsee“.

Wieder lieferten die Norweger den Amerikanern die Lösung. Was hätten die wohl ohne die Norweger gemacht? Dann musste noch das zeitversetzte Zündungsproblem gelöst werden. Schließlich flog eine norwegische „Poseidon“ ein und „nach einigen Stunden“ (Hersh) folgten die Explosionen. Laut schwedischen seismischen Aufzeichnungen erfolgten die Explosionen zeitversetzt: Die erste am 26.9.22 um zwei Uhr morgens, eine weitere am Abend, um 19.04 Uhr.

Pörschmann-Interview

Selbstverständlich habe ich keine Ahnung von professionellen militärischen Sprengungen in großer Tiefe. Aber ein ehemaliger Experte der Bundeswehr, Torsten Pörschmann, versteht etwas davon. Der wurde interviewt, kommentierte die veröffentlichten Bilder vom Schaden an einer Pipeline, die Stärke der seismischen Messungen in Schweden und erklärte physikalische Wirkmechanismen. Eine Sprengung der Pipeline von innen oder unten schloss er mit großer Sicherheit und mit sehr eindrücklichen Argumenten aus. 1,4 Millionen Menschen sahen das Video. (Anmerkung: Zahl korrigiert). Pörschmanns Einschätzungen schienen sonst niemanden zu interessieren. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, ihn in eine Runde mit anderen Experten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder Fernsehen (oder im Deutschen Bundestag) zu platzieren, um ihm auf den Zahn zu fühlen.

Aus dem Pörschmann-Interview ergaben sich jede Menge interessanter Fragen:

Stimmt es, dass eine Pipeline, die ausweislich der Bilder auf einer Länge von 50 Metern in den Boden gedrückt wurde in Verbindung mit den Messungen der Explosionsstärke in Schweden, von oben gesprengt worden sein muss, mit einer Menge an Sprengstoff von 500 kg TNT-Äquivalent). Ein solche Sprengstoffmenge hätte ein Volumen von 2,7 Kubikmeter. Ein solches Volumen muss man erst einmal in eine Tiefe von ca. 70 Metern transportieren.

Laut Pörschmann ist die Vorstellung, man brauche ein Boot, ein paar Taucher und schon wäre die Lage geritzt, die auch im Hersh-Artikel mitschwingt, aber ebenfalls von einem dänischen Experten geäußert wurde, unrealistisch.

Stimmt es, dass die Art der Sprengung auf größtmögliche Öffentlichkeit aus war und es intelligentere Möglichkeiten (state of the art Technologie) gegeben hätte, die Pipelines sprengtechnisch zu ruinieren?

Warum waren die Attentäter darauf aus, dass das Attentat spektakulär ablief? (Quasi eine Art „Schock und Furcht“-Strategie.)

Stimmt es, dass bei militärischen Sprengungen immer eine Versagensquote einkalkuliert und daher nach dem das Prinzip „Doppelt hält besser“ verfahren wird?

Pörschmann verwies historisch etwa auf die Brücke von Remagen. Dort war nur ein Sprengsatz angebracht worden, der versagte.

Dass eine Pipeline unbeschädigt blieb, ist kein Argument für oder gegen eine Tatbeteiligung der USA.

Hat jemand die Frage gestellt/beantwortet, ob am unbeschädigten Strang Sprengstoff gefunden wurde oder es Hinweise darauf gab, dass Ladungen möglicherweise wieder abgebaut worden wären?

Stimmt es, dass moderne U-Boote technisch in der Lage sind, so leise zu agieren, dass sie Sprengladungen und Taucher mittels ihrer Torpedorohre unbemerkt zu den Anschlagsorten bringen könnten?

Könnten unbemannte Unterseefahrzeuge die Aufgabe des Transports des Sprengstoffs übernommen haben oder gar zum Anschlag verwendet worden sein? 2015 war schließlich so etwas (ungeklärter Herkunft) von den Schweden in der Nähe der Pipeline entdeckt worden.

Welche militärischen Sprengmittel passen zu den Anschlagsdaten? Passt der Hergang zu einem Einsatz von Grundminen?

Wer nicht fragt, will auch nichts wissen.

Kurzum, das Tathergangsszenario, das Hersh entwirft, bleibt im Vagen.

Glaubt man Pörschmann, gibt es Grundminen, die extra dafür entwickelt wurden, in größeren Tiefen zu detonieren. Die Tiefe ist die eigentliche professionelle Herausforderung. Die Hauptsorge der Planer nach Hersh war, dass der US-Kongress bzw. dessen Führungsspitzen nicht informiert werden sollten. Nach Hersh ging die Initiative vom Präsidenten aus. (Anm.: Dessen Missachtung von Rechten des Kongresses ist laut US-Verfassung ein Grund für ein Impeachment.) Laut Hersh waren die Planer sehr erleichtert, dass Biden bei der Pressekonferenz mit Scholz am 7.2. 22 „zu viel“ sagte und so angeblich die parlamentarische Unterrichtungspflicht entfiel. (Wieso? Biden hatte zu NordStream 1 nichts gesagt.)

Aber, und an dieser Stelle zitierte Hersh seine Quelle und merkte nicht, dass diese Humbug redete:

“There was no longer a legal requirement to report the operation to Congress. All they had to do now is just do it — but it still had to be secret.”

Übersetzung: “Es gab keine gesetzliche Verpflichtung mehr, die Operation dem Kongress zu melden. Alles, was sie jetzt tun mussten, war, es einfach zu tun – aber es musste immer noch geheim sein.” Ja, was denn sonst?

Davon abgesehen plaudert Biden unentwegt und unentwegt folgenlos etwas aus. Er ist der greise Anführer der freien Welt und der freien Presse, der sagen kann, was er will. Was man hören will, wird gedruckt und mit Megaphonen in die Welt gebrüllt. Widerspricht er sich (oder schwindelt), wird das ignoriert, politisch Heikles umgehend glattgebügelt. (So hat er das nicht gemeint).

Am 7.2.22 hatte niemand das Gefühl, Bidens Äußerungen wären in irgendeiner Weise heikel gewesen. Er verhielt sich wie jeder US-Präsident, der etwas auf sich hält: Er verband eine klare Drohung mit unerschütterlicher Zuversicht. (Heikel war allenfalls der lächelnd-verschlagene Ausdruck von Biden, der zum Ende seiner Worte auf seinem Gesicht aufstrahlte.) Allerdings, wäre ich damals in Bidens Lage gewesen, hätte auch ich wie ein Honigkuchenpferd gestrahlt, wenn der deutsche Bundeskanzler, den die Sache auch etwas anging, bei alledem nur danebensteht und freundlich schweigt.

Bei den redseligen CIA-Mitarbeitern, die Planspiele eines Kidnappings und der Ermordung von Julian Assange betrieben und darüber mit drei Journalisten plauderten (veröffentlicht durch yahoo) spielte zwar auch die präsidiale Genehmigung solcher Operationen und die gleichzeitige Unterrichtung von Teilen des Kongresses eine Rolle, aber der Artikel enthüllte auch, dass die CIA offenbar sehr erfinderisch ist, wenn es darum geht, sich Aufsicht und Kontrolle zu entziehen.

Zudem existieren in den USA Erfahrungen, was passiert, wenn man wenigstens die sogenannte „Gang der Acht“ informiert. Die wusste beispielsweise über die Folter in US-Geheimgefängnissen Bescheid und hat keinen Mucks von sich gegeben. Nord Stream dagegen war im US-Kongress äußerst unbeliebt. Warum hätte also jemand deren geplante Zerstörung durchstechen oder auf parlamentarische Rechte pochen sollen? Zudem hat der ganze Verschwörungsplan, den Hersh zeichnet, eine so erkleckliche Anzahl von nationalen und ausländischen Mitverschwören, dass es auf 8 mehr oder weniger auch nicht mehr angekommen wäre.

Die politische Planung schreibt Hersh dem Nationalen Sicherheitsberater im Auftrag des Präsidenten zu, die operative der CIA. US-Navy und Air Force waren auch dabei. Aber die Navy war lediglich Arbeitstier und noch nicht mal in der Lage, sich an ihre jährlichen Manöver zu erinnern oder Ostseetiefen in petto zu haben, obwohl sie dort regelmäßig rumkurvt. Die US-Air Force wiederum gab ritterlich Norwegen den Vortritt. Das ist eine sehr interessante Vorstellung von der Zusammenarbeit zwischen CIA und Pentagon, die in Hershs Version faktisch nicht existiert. Tatsächlich kommt der aktuelle Leiter der Verbindung CIA-Pentagon („assoziierter Direktor für militärische Fragen“) von der Air Force.

Kotau vor Burns und Biden

Hersh Text enthält einen Kotau vor dem CIA-Chef Burns und einen vor dem US-Präsidenten. Burns, der der Ausführung vorgestanden haben soll, beschreibt er als einen freundlichen, umgänglichen Mann („mild-mannered“).

Anm. Das ist die lustigste Stelle im ganzen Text, denn ich kenne Burns Buch und mir wären andere Adjektive eingefallen.

Zu Biden zitiert Hersh seine Quelle fast zum Ende des Textes wie folgt:

“I gotta admit the guy has a pair of balls. He said he was going to do it, and he did.”

(Ich muss zugeben, der Mann hat Eier. Er sagt, er würde es tun und er tat es.)

Ein paar Bomben auf Syrien, die „Mutter aller Bomben“ auf Afghanistan und in den USA wird gejubelt: Endlich präsidiales Verhalten. Denn das ist es, was viele Amis unter Führungsmacht verstehen und von ihrem Präsidenten erwarten: Militärische Stärke zu demonstrieren. (siehe auch jüngste Ballon-Vorfälle: Nicht reden, abschießen ist der Instinkt.)

Natürlich bedauerte Hershs Quelle im konkreten NordStream-Fall, dass die Entscheidung so fiel, wie sie fiel. Hersh nutzt es als Schuldeingeständnis. Aber auf die Frage, warum die Russen nicht reagiert hätten, antwortete offenbar die Quelle zynisch: „Vielleicht wollen sie die Fähigkeit haben, das Gleiche zu tun, was die USA machten.“

Das ist das typische Denken von Geheimdienstlern, die alles, was sie selber in ihrem Kopf haben, eins zu eins auf den Gegner projizieren. Es zeigt aber auch, dass weder die Quelle noch Hersh eine Ahnung davon hatten, wie Russland auf diesen Anschlag konkret reagierte. Oder es interessierte sie nicht. Bei Hersh findet sich nichts zur russischen Verdächtigung der Briten. Hersh missbilligt nach meiner Wahrnehmung noch nicht mal die ganze Aktion, die er zu enthüllen glaubt.

“Faktenfinder” – nicht gelesen, nicht nachgedacht

Wenn also die „Faktenfinder“ und sonstige transatlantisch eingefärbte Journalisten plötzlich entdecken, dass Hersh mit seiner Story russischer Propaganda in die Hände spiele, dann haben sie diese entweder nicht gelesen oder nicht darüber nachgedacht. Wie die Pawlowschen Hunde wird alles reflexhaft pauschal in Grund und Boden gestampft, was dem eigenen Glauben zuwiderläuft. Damit machen sie den gleichen Fehler, nur umgekehrt, den Hersh sehr wahrscheinlich auch machte.

Er glaubte, die USA wären schuldig geworden und vertraute einer Erzählung, die hinten und vorne mit größten Fragezeichen versehen werden muss. Damit ist er überhaupt nicht allein. Die an eine russische Täterschaft glauben, sind nicht besser. Je blödsinniger ein Plot, um so williger scheinen viele bereit, ihn zu schlucken. Das alles heißt nicht, dass die Amerikaner beim Anschlag nicht ihre Finger im Spiel gehabt hätten. Auch Jeffrey Sachs geht von einer mutmaßlichen US-Schuld aus.

Reuters fragte wegen eines US-Flugzeugs (Typ „Poseidon“) nach, das in der Nacht der ersten Explosion über Westeuropa einflog, über Polen auftankte, dann Schleifen in der Nähe von Bornholm flog, bevor es sich wieder gen Westen entfernte. Weitere (verdächtige) Flugzeuge, darunter aus Norwegen – wie Hersh nahelegt – gab es in dieser Nacht nicht. Gegenüber Reuters bestätigte die Navy die US-Herkunft. Daher irrt auch Johnson (Sonar21), wenn er die Radaraufzeichnung dieses Flugs als Beweis für die Richtigkeit des Berichtes von Hersh nimmt. Bei Hersh war ein norwegisches Flugzeug des gleichen Typs der Signalgeber. Der Flugverlauf der US-„Poseidon“-Maschine ist zeitlich genau dokumentiert (ab ca. Minute 4, Flugzeiten rechts unten). Sie flog vor der ersten Explosion ein und lange vor der zweiten Explosion wieder aus. Offenbar nach Island.

Größtmögliche öffentliche Wirkung

Nachdenklich machen sollte unbedingt, dass dieser Terrorakt auf größtmögliche öffentliche Wirkung aus war. Der laut polternde und unzweifelhaft professionelle Anschlag war auch die Botschaft. Nichts konnte übersehen oder überhört werden. Profiler würden wahrscheinlich darin einen triumphalen Akt großer Wut und großer Zerstörungslust erkennen, einen wütenden, boshaften Bestrafer, der es den Russen und den Deutschen so richtig reinreibt. Wer passt in ein solches Profil? Diejenigen, die den Nord Stream-Anschlag verantworteten, müssen sich sehr sicher gewesen sein, dass sich immer noch hinreichend viele Leute finden, die mit Inbrunst behaupten würden, Russland unbedingt, aber nein, NATO-Verbündete würden so etwas NIE tun.

So wie der CDU-Abgeordnete Hardt in der Aktuellen Stunde des Bundestages mit Verweis auf sich und seine Familie erklärte, sich nicht erinnern zu können, dass die Amerikaner ihm je etwas Schlimmes angetan hätten. Damit gab er übrigens implizit zu, dass der Anschlag auf NordStream auch ihm etwas Schlimmes angetan hatte. Wer, wenn es nicht Russland war und nicht ein (oder mehrere) Verbündete gewesen sein dürfen, wer war es dann?

Afrikaner, Asiaten, Lateinamerikaner? Hatten die ein Motiv, die Gelegenheit, die technischen Mittel und die Ruchlosigkeit?

Also bleibt logisch nur übrig, sich im Kreis der Partner und Freunde umzusehen, statt sich in die eigene Lieblingsvorstellung einzukuscheln, dass es (wie immer) die bösen und im konkreten Fall völlig irrationalen Russen gewesen sein müssen. Die zweitliebste Vorstellung dieser Leute allerdings ist, Nord Stream (1 und 2) würde ins Grab des Vergessens sinken. Diesen Gefallen sollte man ihnen nicht tun.

Der Artikel von Hersh zwingt zu präzisen Antworten: Wer hatte das Motiv, die Mittel, die Gelegenheit und die Kaltblütigkeit, die Tat zu begehen?

Wer Hersh widerlegen will, muss volle Aufklärung suchen, statt lauthals „Verschwörungstheorie“ zu schreien. In diesem Sinn hat der Altmeister für einen Weckruf gesorgt.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.