Sklaverei und Apartheid-Demokratie in Brasilien

Als die portugiesischen Invasoren ab dem Jahr 1500 nach und nach entdeckten, welche gigantische Landmasse und was für Reichtümer sich hinter der Küstenlinie Brasiliens verbargen, standen sie vor der Frage, woher die Arbeitskräfte nehmen, um diese Reichtümer zu plündern. Als die Kolonisierung begann, lebten auf dem heutigen Territorium Brasiliens schätzungsweise elf Millionen Indigene. Nach dem ersten Jahrhundert europäischer Besatzung waren 90 Prozent von ihnen durch Brutalität, Zwangsarbeit auf Kautschuk- und Zuckerrohrplantagen, eingeschleppte Krankheiten und Gewalt ausgerottet. Um ihren Hunger nach Arbeitskräften zu stillen, importierten auch die portugiesischen Kolonialisten Sklav*innen aus Afrika, die sie auf den Feldern und in den Bergwerken schuften ließen. Als letztes Land Amerikas hob Brasilien Sklaverei 1888 auf, was als „abolição“ (Abschaffung) bezeichnet wird. Doch sie prägt seine Gesellschaft bis heute.

Am 23. August 2022 berichteten Brasiliens Medien, der „Indio do Buraco“, der Indio des Lochs, sei im Amazonasschutzgebiet Tanaru im Bundesstaat Rondônia tot aufgefunden worden. Er hatte dort in selbstgegrabenen Erdlöchern mehr als 20 Jahre allein als Letzter seiner Ethnie gelebt, die von illegalen Viehzüchtern, vermutlich mit Rattengift, ausgerottet worden war. Er lehnte jeden Kontakt nach außen ab, auf Annäherungsversuche jener „Zivilisation“, die sein Volk liquidiert hatte, reagierte er mit gut gezielten Pfeilschüssen. Geschenke wie Lebensmittel oder Werkzeuge, die die Indigenenschutzbehörde Funai für ihn liegen ließ, ignorierte er. Es gibt einige wenige Fotos von ihm. Mit ihm starben ein namenloser Mensch, eine Sprache, eine Kultur, ein Leben von Widerstand und Selbstbehauptung. „Er verweist auf einen Völkermord, der im Detail noch nicht beschrieben ist“, so Vertreter der Funai. Sie bezogen sich damit auf das erste Kapitel des Genozids.

Das zweite begann mit der Ankunft der ersten Sklav*innen aus Afrika. Brasilien ist an Bevölkerung heute das zweitgrößte afrikanische Land. Nur Nigerias Bevölkerung ist größer. Bereits im ersten Jahrhundert der portugiesischen Kolonisation verzeichnet die Datenbank Slavevoyages.org 30000 nach Brasilien entführte Menschen. Im darauffolgenden Jahrhundert sind es 784000 Gekidnappte, die vor allem auf den Zuckerrohrplantagen im Nordosten zwölf bis 15 Stunden am Tag schufteten, abgespeist mit zwei Hungerrationen, nachts eingesperrt in große Schuppen, die „senzalas“, oft ohne Fenster und Lüftung, aber mit fest verrammelter Tür.

Grösster Sklavenmarkt weltweit

Bis Mitte des 18. Jahrhunderts kamen weitere zwei Millionen Versklavter an. Rio de Janeiro war der größte Sklavenmarkt weltweit. Von zwei Sklav*innen, die Brasilien erreichten, überlebte nur eine*r das erste Jahr. Auf dem Weg vom Ort ihrer ursprünglichen Gefangennahme, fast immer durch andere „geschäftstüchtige“ afrikanische Potentaten und ihre Krieger, die ihre „Ware“ an der Küste an europäische Sklavenhändler verkauften, gingen bereits viele zugrunde. Die Überfahrt nach Brasilien war lang und gefährlich. Viele Sklav*innen starben dabei an Seuchen, Krankheit, Erschöpfung und Hunger. Sie wurden, oft noch lebend, über Bord geworfen, etwa weil Nahrung oder Trinkwasser ausgingen. Unter Deck war die menschliche Fracht auf engstem Raum zusammengekettet, vor allem um zu verhindern, dass sie ihrem Elend ein Ende setzten, indem sie über Bord sprangen. Qualvolle Tötungsspektakel, dem alle Sklav*innen zwecks Abschreckung beiwohnen mussten, wurden zelebriert, etwa indem ein Sklave, die Hände an Stricken festgebunden, von der Reling hinuntergelassen wurde. Wenn er nach ein paar Minuten wieder hochgezogen wurde, waren nur noch Arme und Hände übrig, den Rest hatten die Haie weggefressen.

In Brasilien angekommen, waren die Sklav*innen nach wochenlanger Atlantiküberquerung elend, abgemagert und krank. Für den Verkauf wurden sie aufgepäppelt und vor allem in der Hafenregion, in Rio etwa den „Cais de Valongo“, heute UNESCO-Weltkulturerbe, ausgestellt. Unter ihnen befanden sich viele Kinder, die von ihren Müttern getrennt waren. Insgesamt starben auf dem Weg vom Ort der Gefangennahme in Afrika bis zum brasilianischen Sklavenmarkt über die Jahrhunderte geschätzte fünf Millionen Menschen.

Als sie an der westafrikanischen Küste auf die Schiffe verschleppt wurden, kamen sie aus unterschiedlichen Ethnien wie Haussa, Fulani, Tuareg und andere. Wenn sie zwei Monate später in den brasilianischen Häfen ausgeladen wurden, waren sie nur noch „Schwarze“, eine Bezeichnung, die es vor dem transatlantischen Kolonialismus nicht gab.

Dennoch bedienten sich die Herren der ethnischen Diversität. Sie hatten Handbücher, in denen sie nachlesen konnten, wie sie ihre Sklavenbrigade am besten zusammensetzten, nämlich aus in Afrika verfeindeten Ethnien, um Widerstand auf der Plantage zu vermeiden. Bereits auf den Schiffen wurden diese Regeln befolgt, trotzdem konnten die im Schiffsrumpf eng aneinandergepressten Menschen ihre Divergenzen überwinden und sich immer wieder zu Revolten vereinen.

1.000 € pro Kopf – Qualifizierte teurer

Im 19. Jahrhundert lag der Verkaufswert versklavter Afrikaner*innen, je nach Alter und Geschlecht, bei umgerechnet etwa 1000 Euro. Im Paraiba-Tal, einer Hochburg der Sklaverei, unweit von Rio, gab es Kaffeebarone, die über 1000 Sklav*innen für sich schuften ließen, und zwar in einem geradezu fordistisch durchorganisierten Arbeitsalltag. Die Lebenserwartung der Zwangsarbeiter*innen nach ihrer Ankunft in Brasilien lag bei acht bis zehn Jahren.

Die Verschleppten arbeiteten nicht nur auf den Plantagen. Viele besaßen Qualifikationen, die damaliger handwerklicher Kompetenz entsprachen. Bestimmte Qualifikationen wurden auch auf Bestellung geliefert, so etwa Sklav*innen aus dem Niger-Delta, die den Reisanbau nach Brasilien brachten. Gefragt waren auch Afrikaner*innen, die sich in der Viehzucht auskannten, bis heute ein dominanter Wirtschaftsfaktor im brasilianischen Agrobusiness. Solche qualifizierten Sklav*innen waren erheblich teurer. Sie wurden auch etwas besser behandelt, bekamen mehr Essen, Freizeit und die Erlaubnis, eine Familie zu gründen. Schließlich waren sie wertvolles Kapital.

Als den Fazendeiros Mitte des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass das Verbot des transatlantischen Handels mit Sklav*innen durchgesetzt würde, setzte man verstärkt auf die inländische Sklavenzucht wie bei Pferden oder Schafen. Es wurden nun mehr Sklavinnen als Sklaven importiert. Bis dahin bestand die Mehrheit der Sklav*innen aus Männern, nun kehrte sich das Verhältnis um. Sollte der Sklavenhandel endgültig blockiert sein, hatte man nun noch die gebärfähigen Frauen, die den unterbrochenen Nachschub liefern konnten.

In Brasilien gibt es bis heute nicht eine einzige staatliche Gedenkstätte zu Sklaverei und Kolonialismus. 2015, ein Jahr vor den Olympischen Spielen, wurde in Rios alter Hafenregion das „Museu de Amanhã“ eröffnet, das „Museum von Morgen“, ein gewaltiger postmoderner Bau, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Armenviertel namens „Pequena África“ (Klein Afrika) in den Himmel strebt. Auf der Website des Museums findet sich ein kurzer Hinweis auf die „Ausschiffung Tausender von Sklaven“ und einen „aufgegebenen Friedhof, der für unseren ,brasilianischen Holocaust‘ des Sklavenhandels steht“. Kein Wort darüber, dass dieser „Friedhof“ mit den Gebeinen Dutzender junger afrikanischer Männer von der darüber wohnenden Familie Guimarães dos Anjos 1996 bei Renovierungsarbeiten ihres Wohnhauses entdeckt und zu einer beeindruckenden Gedenkstätte, dem „Instituto Pretos Novos“ gemacht wurde, nur wenige Fußminuten vom Museum entfernt. Die private Gedenkstätte ist ebenfalls Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.

Gedenkstätte auf Spendenbasis

Dona Merced, die mit ihrer Familie lange Jahre nichts ahnend über dem Sklavenfriedhof wohnte, betreibt heute die Gedenkstätte auf Spendenbasis. Von der Unterstützung, die die Stadtverwaltung ihr versprochen hatte, habe sie nie etwas bekommen, erzählte sie mir bei einem Besuch.

Wenn es heute in Brasilien staatlicherseits kein Gedenken an die Sklaverei gibt, ist das Teil des Genozids, ist das dem Bemühen geschuldet, dieses Schwarze Kapitel der brasilianischen Geschichte zu unterschlagen. Die brasilianische „Elite“ wollte und will bis heute weiß und europäisch sein, auch wenn ihr die Menschenrechte, verkündet mit der französischen Revolution von 1789, nach wie vor ein Rätsel sind. Von den Millionen Sklav*innen, die das Land über vier Jahrhunderte zu einem der weltweit wichtigsten Agrarexporteure gemacht haben, will sie nichts wissen. Rassismus ist der Treibsatz Brasiliens. Selbst unter den engagierten Kämpfer*innen gegen die Sklaverei im 19. Jahrhundert gab es Verfechter des eifrig betriebenen „branqueamento“, des „Weiß“waschens der Gesellschaft durch die Förderung europäischer Einwanderung.

„Sklavenhandel ist nicht nur Grundstein des amerikanischen, sondern auch des europäischen und atlantischen Kapitalismus. Denn er hat dieses extrem profitable Wirtschaftssystem geschaffen, das die Länder Nordwesteuropas durch das Plantagensystem mit Amerika verbunden hat. Der große Kulturkritiker C.L.R. James hat darauf hingewiesen, dass die Sklaverei den größten Reichtum der Welt erzeugt hat, den die Welt je gesehen hat, und das hat natürlich wesentlich zum Wohlstand des Westens beigetragen.“ (Marcus Rediker, Historiker, Universität Pittsburgh, USA)

Der Journalist und Autor Laurentino Gomes hat zwischen 2019 und 2021 die umfangreiche Trilogie „Escravidão“ zur Sklaverei in Brasilien vorgelegt. 2022 wurde sein Werk mit dem Prêmio Jabuti, dem wichtigsten nationalen Literaturpreis, ausgezeichnet. In einer Gesprächsrunde zum Thema „Struktureller Rassismus und Kultur der Sklaverei“ spricht er vom Genozid an Afrobrasilianer*innen und Indigenen, der bis heute anhalte.

Die Schwarze Journalistin Adriana Ferreira fragt ihn, wie umgehen mit dieser Schuld, und verweist auf Schuldeingeständnis und Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland. Gomes antwortet: „Es gibt einen Unterschied zum Holocaust: der Genozid an den Afrobrasilianern ist noch nicht beendet.“ Von einem Genozid spricht auch Luiz Eduardo Soares, ehemals Staatssekretär für Sicherheitsfragen im ersten Kabinett Lula, der indes nicht von historischen Ereignissen spricht, sondern vom Genozid an den jungen schwarzen Favelados/as (Favelabewohner*innen) heute. Der brasilianische Staat erscheint in der Favela vor allem mit gewalttätigen mörderischen Polizeieinsätzen.

Sklaverei muss wie der Holocaust als Zivilisationsbruch der Moderne auf die Tagesordnung gesetzt werden. In unserer hiesigen Brasiliensolidarität herrscht dazu ohrenbetäubendes Schweigen.

Im 19. Jahrhundert, verstärkt ab 1830, gab es international Bestrebungen, den Sklavenhandel und dann die Sklaverei insgesamt zu beenden. Vor allem England agierte hier an erster Stelle. Die auf der Basis von Sklavenarbeit billiger produzierende Konkurrenz sollte erledigt werden. Tatsächlich wurden in dieser Epoche aber erst noch einmal so viele Afrikaner*innen gekidnappt und versklavt wie nie zuvor. Die Industrielle Revolution hatte einen gewaltigen Hunger nach Primärprodukten, Rohstoffen und Konsumgütern wie z.B. Kaffee und Zucker aus Brasilien. Das bekannteste Beispiel ist die Baumwolle, mit der die neuen englischen Textilmaschinen gefüttert wurden.

Im Januar 1835 brach in Salvador de Bahia der bis dahin größte Sklavenaufstand in Brasilien aus: die Revolte der „Malês“, was in der Yoruba-Sprache für Muslime steht. Die rebellischen Sklaven trugen die weiße abadá, die typisch muslimische Kleidung, und Amulette mit Koranversen. Die Kämpfe in der Stadt Salvador dauerten mehr als vier Stunden und forderten den Tod von 70 Afrikaner*innen und neun Weißen. Nach der Niederschlagung der Revolte begann eine harte Repressionswelle. Man befürchtete, dass es auch in Brasilien einen erfolgreichen und blutigen Sklav*innenaufstand wie in Haiti geben könnte. Haiti war der Schrecken der Sklavenhalter in Brasilien und nicht nur dort.

Erst 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien als letztem Land (wenn man die Sklav*innenarbeit in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus nicht mit einbezieht) für beendet erklärt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte es vermehrt Rebellionen und Massenfluchten gegeben, der von den Abolitionisten ausgehende Druck war stärker geworden. Diese antiquierte Form kapitalistischer Ökonomie hatte im Zeitalter der Industriellen Revolution als primäres Akkumulationsregime ausgedient. Katiara Oliveira, eine Aktivistin der Schwarzen Bewegung, schreibt dazu: „Die Abschaffung erfolgte nicht durch eine einfache Unterschrift. Die Aufstände und Rebellionen, wie das Anzünden der Zuckerrohrfelder, die Flucht in die Quilombos, Selbstmord, Kindermord, Vergiftung der Besitzer der Zuckerrohrmühlen, brachten den Herren Verluste.“ Sklaverei wurde zu einem unrentablen Geschäft. Zudem bedurfte es eines ideologischen Fundaments, um den modernen Kapitalismus endgültig durchzusetzen: Freie Marktwirtschaft und Eigenverantwortung.

Geflohene schlossen sich zusammen

Im Lauf der Jahrhunderte der Sklaverei in Brasilien waren Zehntausende von Sklavinnen und Sklaven geflohen und hatten sich in Quilombos zusammengeschlossen, Formen der freien Selbstorganisation, wo die Geflohenen auf angeeignetem Territorium ein selbstbestimmtes Gemeinschaftsleben führen konnten. Nicht selten griffen sie dabei aus Gründen der Selbstverteidigung zu den Waffen. Erst seit 1988 sind die Landrechte der Quilombolas (Bewohner*innen der Quilombos) zumindest in der Verfassung verankert. „Die Existenz des Schwarzen Volkes und der Quilombos wurde weitestgehend ignoriert, es gab kein Gesetz, das sie als politische Subjekte anerkannte, und ihre Geschichte wurde ausgelöscht“, so Givânia Silva, Gründerin der Nationalen Koordination der schwarzen Quilombola-Landgemeinden (Conaq).

Schon Ende des 19. Jahrhunderts, kurz nach der formellen Aufhebung der Sklaverei, kam die Forderung nach einer „segunda abolição“, einer zweiten Befreiung auf, die die Gleichstellung mit allen anderen Brasilianer*innen in Bereichen wie Arbeit und Einkommen, Bildung und Ausbildung, Wohnen und kommunale Entwicklung, Gesundheit, Kultur, Verkehr, Freizeit und Sicherheit garantieren sollte. Eine brasilianische Freundin, die zum Thema Abolition arbeitet, schrieb mir dazu: „Die Abolition war das Resultat einer sehr heftigen Auseinandersetzung sowohl innerhalb der Regierung als auch seitens Hunderter von Organisationen, die sich in ganz Brasilien gebildet hatten, Emanzipations- und Abolitionsgesellschaften. So etwas hatte man noch nie gesehen!!! Organisierte Zivilgesellschaft! Mit der Verbreitung von Zeitungen, der Herstellung von Flugblättern, der Mobilisierung von Ressourcen und funktionierenden Strukturen!!! Es gab eine Menge politischen Drucks! Die Abschaffung war also nicht nur das Ergebnis von Flucht und Rebellion und auch nicht nur von Regierungsstellen. Die Abschaffung war eine Eroberung! Und die Regierung wusste um die Konsequenzen, als sie das Gesetz unterzeichnete. Aber es gab keine Möglichkeit, es nicht zu unterzeichnen. Hätte mehr erreicht werden können? Gewiss. Aber es war das mögliche Ergebnis des Zusammenspiels der Kräfte in diesem Moment. Dies ist eine sehr wichtige historische Lektion, um diejenigen zu ehren, die gekämpft haben, und um darüber nachzudenken, was wir für die Zukunft tun müssen.“

Die ehemaligen Sklav*innen blieben ohne Entschädigung, ohne Eingliederung in die Gesellschaft oder den Arbeitsmarkt. Ohne eine grundlegende Überlebensgarantie waren sie auf sich allein gestellt. Von einer „segunda abolição“ ist Brasilien heute Lichtjahre entfernt. Raumi Souza von einer Studiengruppe der Bewegung der Landlosen MST: „Die Abschaffung der Sklaverei war eine Illusion. Der Sklave verließ die ‚Senzala‘, verließ den Hof und wurde frei, aber eine Freiheit, die ihm keinen Zugang zu Land oder zu materiellen und finanziellen Gütern verschafft, verleiht ihm keine Würde.“ Es ist kein Zufall, dass die MST eine der größten politisch-sozialen Bewegungen der Südhalbkugel ist. 130 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei haben die Schwarzen noch immer keinen Zugang zu ihren Rechten. Das Recht auf Leben, Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Teilhabe an Machtpositionen sind einige der Indikatoren, die ein extrem ungleiches Brasilien offenbaren.

Dramatische Verschlechterung unter Bolsonaro

Unter der Regierung Bolsonaro hat sich die Lage der afrobrasilianischen Bevölkerung dramatisch verschlechtert. Gemäß Fiocruz, der nationalen Gesundheits- und Forschungseinrichtung, sind Schwarze am häufigsten an Covid-19 gestorben und erhielten die wenigsten Impfungen. Was die Ernährungssicherheit angeht, ist das Land auf das Niveau des Jahres 1990 abgesackt. 2022 leiden 33,1 Millionen Brasilianer*innen Hunger. Besonders davon betroffen sind Haushalte, die von Schwarzen Frauen geführt werden. Von den mehr als 2600 Todesopfern bei Polizeieinsätzen im Jahr 2020 waren 82,7 Prozent Schwarze. Heute reicht es in einigen Vierteln, jung, arm und Schwarz zu sein, um auf offener Straße von der Polizei erschossen zu werden. Im Namen der Verbrechensbekämpfung ist dieses Land zum Weltmeister der Polizeigewalt gegen die Schwarze Bevölkerung geworden.

Die 1863 in den USA freigelassenen Sklav*innen wurden zumindest teilweise mit etwas Boden entschädigt, mit denen sie sich um ihr Überleben bemühen konnten. In Brasilien geschah im 19. Jahrhundert das Gegenteil. Es erfolgte eine massive Konzentration landwirtschaftlicher Flächen. Infolgedessen kam es zu einer Massenabwanderung arbeitsloser Schwarzer Frauen und Männer von den Fazendas in die Städte, wo sie irreguläre Unterkünfte errichteten, in denen ihre Nachkommen auch heute, fast eineinhalb Jahrhunderte nach Abschaffung der Sklaverei, noch immer „wohnen“. Laut dem amtlichen Statistikinstitut IBGE leben allein in Rio heute 22 Prozent der Einwohner*innen in über 1000 Favelas. Die Politik der Regierung gegenüber aus der Sklaverei befreiten Bevölkerungsgruppen ist bis heute auf Ausgrenzung ausgerichtet. Auch linke und progressive Strömungen hierzulande sind gerne bereit, darüber hinwegzuschauen. Wo bleibt da der elementare Gleichheitsgedanke? Ich halte die Forderung nach Verteidigung der Demokratie vor drohendem Faschismus selbstverständlich für richtig und wichtig, aber wer von Demokratie spricht, darf nicht über die exzessive und mörderische Ungleichheit in der zweigeteilten Gesellschaft, über die ständig wiederkehrenden „chacinas“, die von der Polizei verübten Massaker, schweigen.

Brasilien ist ganz gewiss nicht das einzige Territorium, auf dem die Sklaverei bis heute wirkungsmächtig ist. In den USA, in Brasilien und in zahlreichen anderen Ländern hat sich in den letzten Jahren eine Widerstandsbewegung unter dem Slogan „Black Lives Matter“ alias „Vidas Negras Importam“ entwickelt, also „Schwarzes Leben hat einen Wert“. Man fasst sich an den Kopf: Wo sind wir? Müssen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich auf so etwas pochen? Seit einigen Jahren formt sich, vor allem in den USA, unter dem Begriff „Afropessimismus“ so etwas wie eine Philosophie der verlorenen Hoffnung.

Drogenmafia und Milizen

In den brasilianischen Armutszonen bestehen Machtvakua, die von Drogenmafia und Milizen gefüllt werden. Von Milizen beherrschte Bereiche haben in den letzten sechzehn Jahren um ein Vielfaches zugenommen. In den Nullerjahren habe ich im Auftrag der NRO Weltfriedensdienst fast zehn Jahren in Favelas in Rio gearbeitet. Als wir 2004 ein Berufsbildungszentrum in einer Favela in Betrieb nehmen wollten, holten wir uns die Genehmigung nicht bei der Stadtverwaltung. Wir riefen eine Handynummer an, am Ende sprach der örtliche Drogenboss, der gerade im Knast saß, von wo aus er seine Gemeinde regierte. Wenn ich mit dem Auto in die Favela fuhr, musste ich die Seitenfenster öffnen und den Blinker einschalten, der Kotau vor der lokalen Macht. Der Staat taucht in der Favela nur zu blutigen Polizeieinsätzen auf.

Als ich vor 2004 an einem Workshop für Jugendliche in einer Favela im Einzugsbereich Rios teilnahm, sprachen wir über ihre Zukunftswünsche. Ich erinnere mich noch heute an zwei Mädels, 15 oder 16 Jahre alt, von denen eine Kinderärztin, die andere Tierärztin werden wollte. Ich hörte mit einem Gefühl der Beklommenheit, mit welcher Hoffnung und Freude sie über ihre Wünsche sprachen. Ich wusste, dass sie kaum eine Chance haben würden. Ich kannte ihre Schule, in der seit einem Jahr der Mathematikunterricht ausfiel, weil der Lehrer krank war. Unter Lula wurden kubanische Ärzte ins Land geholt, die im Landesinnern und den Elendszonen arbeiteten, wo niemand aus den Familien der Wohlhabenden hin wollte. Eine der ersten Amtshandlungen Bolsonaros bestand darin, diese „kommunistische Infiltration“ zu beenden.

Ein Azubi verdient in Deutschland im ersten Lehrjahr bis zu tausend Euro im Monat. Ein Jugendlicher, der in Brasilien eine Berufsausbildung machen will, muss dafür bezahlen. Kommt er aus einer Favela, hat er dafür kein Geld. Für viele junge Männer ist in dieser Situation die Aussicht, bei einer der Drogengangs Karriere zu machen, verlockend. Er kann seine kümmerliche Null-Existenz abwerfen, hinter sich lassen und hat Aussicht auf Geld, ein Auto, und als Macho auf Frauen. Die Lebenserwartung der Mitglieder der Milizen liegt bei 23 Jahren. Solange die von der Sklaverei herkommende und fortwirkende Spaltung der Gesellschaft in Schwarz und weiß, arm und reich, unten und oben, nicht dauerhaft überwunden wird, werden permanent Entwicklungsdefizite produziert werden.

Sozialhilfesystem

Unter der ersten Regierung Lula wurden einige Anstrengungen unternommen, um diese Apartheid-Demokratie zumindest an einigen Stellen zu durchbrechen. Ein Sozialhilfesystem wurde eingeführt, mit einem weiteren Programm wurde die prekäre Wohnsituation verbessert, kleinbäuerlichen Familien wurden Absatzmöglichkeiten in öffentlichen Einrichtungen, etwa in Schulen, ermöglicht, vor allem aber wurden die Universitäten verpflichtet, nach einer festgelegten Quote Schwarze und Indigene zum Studium zuzulassen. Im weißen Brasilien erhob sich ein Proteststurm. 1968 gab es schon einmal eine solche Quotenregelung. Söhnen von Fazendeiros wurde der Zugang zu Agrarfakultäten erleichtert. Proteste gab es damals nicht.

Brasilien hat sich von Jahrhunderten anhaltender Sklaverei, aber auch von den beiden Diktaturen im 20. Jahrhundert, im Wesentlichen nicht emanzipiert. Dabei geht es vorrangig nicht darum, Erinnerungen aufzurufen und wachzuhalten, es geht darum, die weiter wirksamen subjektiven und sozialen Strukturen und Mechanismen, wie Autoritarismus und Rassismus, Frauenfeindlichkeit, die Natürlichkeit des Oben und Unten, die Distanz zwischen Schwarz und weiß, die Selbstverständlichkeit von Arm und Reich, infrage zu stellen, um sie überwinden zu können. Es ginge auch darum, mit dem verinnerlichten negativen Selbstverständnis und Selbstbildnis zu brechen, indem man im Handeln, allein, in der Gruppe oder in der Community entdeckt, dass man es kann und dass es anders geht. Dass die, die seit Generationen in einem nie enden wollenden Strom herabsetzender Alltagserfahrungen entmündigt werden, den Glauben an sich selbst, ihr soziales Umfeld, ihre Fähigkeiten, ihre Talente, ihr individuelles und kollektives Selbstvertrauen verloren haben, im selbstbestimmten Handeln diese Dimensionen, die ihnen seit Generationen ständig abgesprochen wurden, wieder entdecken und neu gestalten. Die erneute Wahl Lulas wird lediglich zu einem demokratischen Intermezzo führen, solange die Zivilgesellschaft nicht selbst ihre Kompetenzen erlernt und ihre Kraft entdeckt. Die „segunda abolição“ ist in einem solchen Gemenge unerlässlich.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 462 Feb. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften und Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Lutz Taufer / ILA:

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