Dies ist die Geschichte eines Nuklearunfalls im US-Bundesstaat New Mexico.
Obwohl es der erste schwere Unfall in einem unterirdischen Endlager für Atommüll war, fand das Ereignis weltweit und speziell in Deutschland kaum Beachtung. Dabei ist es eine aufschlussreiche Geschichte, wenn man verstehen will, wie sich Atomkatastrophen ankündigen und schließlich tatsächlich passieren. In der geheimnisvollen Welt des Nuklearen geht es nämlich genauso zu wie überall anders auch. Das heißt, dass immer irgendwo irgendetwas schiefgeht. Im Fall des Waste Isolation Pilot Plant (WIPP), der Pilotanlage zur Entsorgung von Abfällen aus dem US Atombomben-Programm, summierten sich kleine Unachtsamkeiten und aufgeschobene Erledigungen zu einem Ereignis, das eigentlich erst in vielen tausend Jahren hätte stattfinden dürfen. Am späten Abend des 14. Februar 2014, 22:50 Uhr Ortszeit, klingelte das Telefon in der Leitstelle von WIPP, keine fünf Meilen von der Kleinstadt Carlsbad im Bundesstaat New Mexico entfernt.
Im Bergwerk war um diese Zeit längst Feierabend, untertage befand sich niemand mehr, nur eine gering besetzte Nachtschicht machte Dienst in der Zentrale. Am Apparat war eine Sicherheitsstreife, die beim Rundgang über das Gelände eine seltsame Beobachtung an der Umspannanlage gemacht hatte, d.h. am Anschluss von WIPP an die Überlandleitungen der Stromversorgung. Der Wachmann berichtete von einem grünen Flackern, “green burst”, und von knisternden Geräuschen wie bei Funkenentladungen, “arcing noise”. Der Schichtleiter (FSM, Facility Shift Manager) machte sich auf den Weg, um das Phänomen persönlich in Augenschein zu nehmen. Um 22:52 sah er kein grünes Licht mehr, allerdings hörte er das knatternde Geräusch. Per Handy informierte er die Leitstelle und wies sie an, beim lokalen Energieunternehmen nachzufragen, ob eine Störung vorliege. Von dort kam um 23:10 Uhr ein negativer Bescheid, keine Probleme mit der Elektrizität.
Der FSM hatte ein ungutes Gefühl und blieb draußen. Drei Minuten später zeigten die Bildschirme in der Leitstelle Radioaktivitätsalarm an. Ein Messgerät im Abluftdrift einer Kaverne (Raum 7 in Panel 7) registrierte hohe Werte. Nur eine Minute später, 23:14 Uhr, schnellte die Anzeige auf “sehr hohe Radioaktivität”.
Die Konstruktion des Untertagebaus sah vor, dass das Belüftungssystem bei Radioaktivitätsalarm automatisch auf intensive Filterung (HEPA) umschaltet. Dadurch soll vermieden werden, dass strahlende Partikel in die Umwelt geblasen werden. Tatsächlich verzeichnet das Logbuch von WIPP die automatische Umschaltung auf HEPA-Filterung um 23:14 Uhr. Allerdings musste noch eine Klappe vor dem Gebläse manuell geöffnet werden. Der FSM ging zu der Vorrichtung hinüber und öffnete die Verriegelung um 23:24 Uhr von Hand. Dass er dabei seine Gesundheit riskierte, war ihm sicher bewusst.
Am nächsten Morgen, einem Samstag, erschien die Wochenendschicht planmäßig zur Arbeit. Die 140 Beschäftigten waren nicht vorgewarnt und trugen dementsprechend ihre gewohnte Arbeitskleidung. Die Direktion ließ sie einen Schutzraum aufsuchen und schickte sie nach Hause, sobald die Laborergebnisse für die ersten ausgetauschten Filter vorlagen. Die Werte lagen bei 4335 Becquerel Americium und 670 Becquerel Plutonium pro Kubikmeter Abluft1, d.h. sie waren erschreckend hoch. Unter diesen Umständen war der unterirdische Bereich nicht mehr begehbar. Erst Wochen später konnte eine Expedition mit umfangreicher Schutzausrüstung die Situation Untertage erkunden. Es folgten monatelange komplizierte Reparatur- und Dekontaminierungsarbeiten. Nach drei Jahren wurde das Werk wieder eröffnet, um ab 10. April 2017 erneut radioaktive Frachten in Empfang zu nehmen. Nach Angaben des Washingtoner Energieministeriums (DOE) betrug der Schaden insgesamt 500 Millionen Dollar, die Los Angeles Times schätzte ihn auf 2 Milliarden.
Fraglich ist, wie groß die Strahlungsmenge war, die durch den Unfall in die Umwelt geriet. Ärztliche Untersuchungen der Beschäftigten von WIPP ergaben Kontaminationen bei 22 Arbeitern. Angeblich seien sie zu gering gewesen, um gesundheitliche Schäden hervorzurufen. Aber Plutonium ist immer schlecht, sehr schlecht.
Eine Umweltstation in einer halben Meile Abstand vom Industriegelände verzeichnete im fraglichen Zeitraum 0,64 Becquerel Americium und 0,014 Bq Plutonium pro Kubikmeter Luft. Das war unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte und nach Ansicht der Behörden unbedenklich. James Conca, gut informierter Experte und Berater von US Nuklearlabors, gab die innerhalb des Lagers freigesetzte Gesamtmenge an Plutonium und Americium mit “sieben Unzen” an, entsprechend 200 Gramm. Das war allerdings sehr bedenklich. Der Experte glaubte jedoch, dass diese Menge zum allergrößten Teil im Bergwerk geblieben sei oder von den Belüftungsfiltern absorbiert wurde.
Fünf Tonnen Plutonium
WIPP kann man, um eine Vorstellung davon zu bekommen, am besten mit dem deutschen Schacht Asse vergleichen. Hier wie dort handelt es sich um sogenannte Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfälle aus nukleARTEchnischen Anwendungen. Als Bestandteile dieses Mülls werden z.B. kontaminierte Arbeitskleidung, Schuhe, Möbel, Putz- und Schmiermittel, Werkzeug, Filter oder Klärschlämme genannt. Die Abfälle werden zunächst konditioniert, d.h. sortiert, gepresst, in Fässer verpackt, zum Endlager gefahren und schließlich in Bergwerkskammern verstaut.
Zu diesem Zweck galten vor rund 50 Jahren Salzstöcke als besonders geeignet. So fiel die Wahl in Niedersachsen auf das ehemalige Salzbergwerk Asse II, um dort ab 1967 “zu Forschungszwecken” strahlende Rückstände einzulagern. In der Asse sollten Technologien erprobt und Erfahrungen gesammelt werden, die man für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle nutzen wollte, wofür damals der Salzstock Gorleben vorgesehen war (dass der Plan am Widerstand der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg scheitern sollte, ahnte man zu jener Zeit noch nicht). Doch schon 1978 war Schluss mit den wenig regulierten und übrigens auch sehr billigen Einlagerungen in der Asse. Für eine Fortsetzung hätte man das Vorgehen nicht länger als Forschung deklarieren können, und das Risiko eines atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens wollten die Betreiber nicht eingehen. Das Bergwerk ist heute einsturzgefährdet und droht mit Wasser zuzulaufen. Mit einem enormen Aufwand sollen die zum Teil bereits korrodierten Fässer zurückgeholt werden, außerdem erhebliche Mengen an kontaminiertem Salzgrus. Ob und wann das klappen wird, steht in den Sternen.
Auch in New Mexico suchte man nach einem möglichst alten, trockenen und stabilen Salzstock und fand ihn in einer 250 Millionen Jahre alten geologischen Formation in dem wüstenartigen, dünn besiedelten Gebiet um Carlsbad. Ab 1980 wurde dort in 650 Metern Tiefe ein unterirdisches Areal ausgehoben, das in etwa der Fläche des Washingtoner Pentagon (Verteidigungsministerium) entspricht. Die Einlagerungskapazität beträgt ungefähr das Vierfache der Asse, die Strahlungsmenge, die dort isoliert werden soll, wenn alles nach Plan verliefe, 300 Millionen Gigabecquerel, das 60-fache der in Niedersachsen gebunkerten Radioaktivität. Im Dezember 2012 berichtete das Magazin Forbes, es habe bis dahin 10 200 Lieferungen an WIPP gegeben mit insgesamt 200 000 Tonnen Abfällen, darunter fünf Tonnen Plutonium. Das kann man eine Hausnummer nennen.
Anders als hierzulande, wo die Öffentlichkeit erst mit Jahrzehnten Verspätung davon erfuhr, dass im Schacht Asse unter anderem 30 Kilogramm Plutonium sowie 100 Tonnen Uran und 87 Tonnen Thorium eingelagert wurden – Kernbrennstoffe, die man unter keinen Umständen als kontaminierte Arbeitsmittel betrachten sollte -, haben die Amerikaner keinen Hehl daraus gemacht, woher die Masse an Plutonium in ihrem Pilotendlager kommt. WIPP dient erklärtermaßen der Entsorgung von Abfällen aus den sieben US Atomwaffenlabors, insbesondere aus Los Alamos, der Bombenwerkstatt, in der das Nuklearzeitalter seinen Ausgang nahm.
Für die Waffenproduktion nicht mehr benötigtes Plutonium, so heißt es, werde im WIPP entsorgt. Da das Militär allerdings, wie wir aktuell lernen, nichts wegschmeißt, was noch irgendwie zu gebrauchen wäre, nicht einmal Panzer aus dem letzten Jahrtausend, dürfte es sich eher um nicht mehr verwendungsfähiges Plutonium handeln, das aufgrund seiner Alterung verunreinigt ist und den Ansprüchen der nuklearen Abschreckung nicht mehr genügt. So gesehen sind die alarmierend hohen Werte für Plutonium und Americium, ein Folgeprodukt des Plutoniumzerfalls, die nach dem Unfall im WIPP gemessen wurden, eigentlich keine Überraschung.
Das militärische Atomprogramm der USA erzeugt mehr Atommüll als die kommerzielle Kernenergie des Landes mit ihren derzeit immerhin 92 Reaktoren. Irgendwo müssen die Rückstände hin, aber dort, wo sie bleiben sollen, bilden sie eine bleibende Gefahr.
Der falsche Katzenstreu
Bald konnten von der Regierung geschickte Spezialisten den Ursprung des Strahlenlecks im WIPP ausfindig machen. Anders als in der Asse, wo die Fässer zum Teil mit Schaufelbaggern transportiert und in Salzgruben gekippt wurden, geht es in der Anlage von New Mexico vergleichsweise ordentlich zu. Die Behälter werden sorgfältig gestapelt und sind mit großen, deutlich erkennbaren Codes versehen, die Aufschluss über ihren Inhalt, ihren Absender und das Datum ihrer Einlagerung erlauben. Da die Panels 1 bis 6, jedes mit einer Fläche, die der Größe von drei Fußballfeldern entspricht, bereits gefüllt und verschlossen waren, galt das Augenmerk dem Panel 7. Ein ferngesteuerter und mit einer Kamera ausgestatteter Roboter konnte dorthin gefahren werden, seine Aufnahmen zeigten ein aufgeplatztes Fass mit der Nummer 68660. Aus weiteren Details ließ sich schliessen, dass sich das Fass auf etwa 1000° Celsius erhitzt hatte. Es musste demnach chemische Reaktionen gegeben haben, die den Inhalt des Behälters erhitzten, bis es zu einer explosionsartigen Verpuffung kam, der die Ummantelung nicht mehr standhielt. Weitere beschädigte Fässer wurden einstweilen nicht gefunden.
Fass 68660 stammte aus Los Alamos. Dort war ein privates Subunternehmen, EnergySolutions, mit der Konditionierung der Abfälle beauftragt. In den Unterlagen und Arbeitsprotokollen dieser Firma wurden die Unfallermittler fündig: “We used the wrong kitty litter!”
So ist nun das Geheimnis der amerikanischen Atommüll-Entsorgung aufgeflogen, die Lösung der schier unlösbaren Aufgabe eines sicheren Endlagers für tausende und abertausende Jahre: Katzenstreu, wegen seiner unübertroffenen Saugwirkung. Um die Ansammlung von Flüssigkeit zu vermeiden, wird das Mittel, das ursprünglich für einen ganz anderen Zweck erfunden wurde, in die Fässer geschüttet und zwar nicht etwa Löffel-, sondern kiloweise. Zu seiner Zeit, erzählte Fachmann James Conca von eigenen Erfahrungen in Los Alamos, habe man immer die Marke Jonny Cat verwendet und nie Ärger damit gehabt. Doch dann hätten die Leute von EnergySolutions auf einmal Swheat Scoop eingesetzt, und das war grundfalsch.
Letzteres ist ein Produkt auf Weizenbasis, also organisches Material. Unbedenklich und für die Abfallkonditionierung zugelassen war jedoch nur anorganischer Katzenstreu auf der Basis von Zeolithkristallen. Das Weizenprodukt enthält nämlich Bestandteile, die mit den in den Abfällen vorhandenen Nitratsalzen chemisch reagieren können. Genau das ist offenbar in Fass 68660 passiert. Chemiker, die mit dem Befund konfrontiert wurden, bestätigten ihn umgehend. Es handele sich um eine bekannte Reaktion, organischer Katzenstreu hätte niemals verwendet werden dürfen. Doch die Chefs von EnergySolutions besaßen kein Fachwissen. Sie waren Spezialisten für die Beschleunigung und Verbilligung von Arbeitsprozessen, sie kannten sich in Kampagnen zur Effizienzsteigerung aus.
Stellen wir uns die Arbeitsweise einer zeitgemäßen, erfolgreichen Unternehmensführung anschaulich vor. Wir machen es mit Katzenstreu, sagt das Management, Katzenstreu ist geil, ist billig und mega effizient. Mit Katzenstreu sind wir dreimal so gut wie alle Konkurrenten. Und wenn uns der Stoff ausgeht, holen wir ihn im nächsten Supermarkt. – Aber das Zeug staubt, wirft die Belegschaft ein, wir atmen es ein, wir müssen husten, das ist nicht gesund. Wir brauchen alle 60 Minuten eine Pause an der frischen Luft. – Kein Problem, befindet der Chef, unter 15 amerikanischen und 25 chinesischen Produkten wird’s doch einen Katzenstreu geben, der nicht staubt. – So könnte die Anweisung, “ein organisches Absorptionsmittel (Kitty Litter/Zeolite®)” zu verwenden, in die Dokumente von EnergySolutions gelangt sein. Sie war widersinnig: Zeolite ist nicht organisch und kein eingetragenes Warenzeichen.
Einem Angestellten in Carlsbad, der die Unterlagen des Packverfahrens von Los Alamos checken sollte, fiel der Widerspruch auf. “Oh, das ist nur ein Tippfehler”, erhielt er zur Antwort. Diese Aussage verleitete ihn zu der irrigen Annahme, bei EnergySolutions wisse man natürlich, dass anorganisches Zeolith verwendet werden müsse. Deshalb legte er die Angelegenheit als unwichtig beiseite. Man will ja nicht als Erbsenzähler dastehen bei so einem strategischen Projekt.
Da Swheat Scoop in Los Alamos seit September 2012 zum Einsatz gekommen war, stellte sich als nächstes die Frage, wie viele Behälter einen ähnlichen Mix beinhalteten und als Risikofässer anzusehen wären. Zunächst wurden zweistellige, dann dreistellige Zahlen genannt. Einige Monate nach dem Ereignis entdeckte ein Mitarbeiter von Los Alamos, dass der Inhalt von Fass 68660 mit dem eines patentierten Sprengstoffs übereinstimmte5. Ein Manager an gleicher Stelle resümierte sarkastisch, das Labor habe versehentlich “700 schmutzige Bomben gebaut, aber nur eine hat funktioniert”. Fässer, die in Los Alamos auf ihre Überführung warteten oder schon im WIPP angekommen, aber noch nicht Untertage eingelagert waren, wurden zeitweise stündlich inspiziert, da man jederzeit mit weiteren Verpuffungen rechnete.
Der verfl… Klimawandel
Die Erklärung, ein Tippfehler, ein Missverständnis habe zu dem ganzen Geschehen geführt, gibt eine typische Behördenmentalität wieder. Sie besagt, dass unglückliche Zufälle letztlich nicht vermieden werden könnten, auch wenn ansonsten alles richtig gemacht worden sei. Damit gaben sich kritische Wissenschaftler, Journalisten und Umweltaktivisten in den USA nicht zufrieden. Sie deckten auf, dass die Abfallkonditionierung von Los Alamos in den Jahren zuvor so richtig auf Trab gebracht worden war. Dabei wurden die üblichen Managementmethoden angewandt: Verfahrensänderungen, Verschlankung und Beschleunigung der Geschäftsprozesse, Austausch von Mitarbeitern, Leistungsanreize, interner Druck.
Auslöser für die gravierenden Umstrukturierungen waren die Waldbrände in Kalifornien, aber auch im Norden von New Mexico. Sie nehmen, bedingt durch den Klimawandel, von Jahr zu Jahr an Intensität und Häufigkeit zu und richten immer größere Schäden an. 2011 kam die Feuersbrunst “Los Conchas” bis auf dreieinhalb Meilen an das Los Alamos National Laboratory heran, wo Plutoniumabfälle in Stammfässern auf einer sogenannten Area G im Freien lagerten, insgesamt 3706 Kubikmeter. Das ist in den USA nichts Ungewöhnliches; andere Nukleareinrichtungen machen es genauso. Doch der Conchas Brand ließ die Leute nervös werden. Er erinnerte sie an die Waldbrände von Cerro Grande im Jahr 2000, bei denen Hunderte von Familien ihr Zuhause verloren hatten und Laborgebäude beschädigt worden waren. Damals schon hatte die Atomwerkstatt ein Projekt “Quick to WIPP” aufgesetzt, das aber keine großen Wirkungen zeitigte. Nach Los Conchas machte die Gouverneurin von New Mexico, Susana Martinez, ernst. Sie setzte eine Frist bis zum Juni 2014. Bis dahin müsse die Area G geräumt sein. Dass die Gouverneurin mit der Faust auf den Tisch haute, ist ihr sicher nicht vorzuwerfen. Allerdings hatte sie den Termin schlauerweise so gewählt, dass er in ihren nächsten Wahlkampf passte.
Das DepARTEment of Energy (DOE) und das Umweltministerium von New Mexico setzten eine “Kampagne 3706” auf, um in nur drei Jahren so viele Lieferungen von Los Alamos in das 300 Meilen entfernte WIPP durchzuführen wie in den zwölf Jahren zuvor. Das Unheil nahm seinen kapitalistischen Lauf.
Die Abfallverarbeitung – das Umpacken des Plutoniums aus den Stammfässern in die für WIPP vorgesehenen Behälter – war bis dahin eine lästige und wenig beachtete Pflicht in Los Alamos gewesen. Mit der 3706-Kampagne wurde es zu einem Top-Projekt. Von nun an drehte sich Alles um die Dringlichkeit, um das Erreichen der Meilensteine, die Einhaltung der Termine und um die in Aussicht gestellten Gratifikationen. Zu diesem Zweck wurde ein 24/7 Betrieb eingerichtet, d.h. es wurde rund um die Uhr gearbeitet. Eingeübte Sicherheitsroutinen wurden umgangen, Verfahren manipuliert, Aufsichten vernachlässigt. Die scheinbar erfolgreichen Macher duldeten keinen Widerspruch. Mitarbeiter, die Bedenken äußerten, wurden ruppig zurechtgewiesen oder sogar angeschrien, sie würden den Erfolg der Kampagne gefährden. Es kam zu einer Normalisierung der Abweichung.
Der Sozialwissenschaftler Vincent Ialenti, George Washington University, hat eine umfangreiche Studie zu diesen Vorgängen erstellt und zahlreiche Zeugen in Los Alamos und Carlsbad befragt. Seine Arbeit zeigt, “wie eine oft übersehene Verflechtung von Termindruck, politisch-wirtschaftlichen Zwängen und behördlichen Versäumnissen zusammenkam, um die Arbeitsabläufe im Atommüllmanagement zu verändern und schließlich einen radiologischen Unfall auszulösen”. Ialenti führt den Begriff der “operationellen Zeitlichkeit” ein, um auf einen fundamentalen Widerspruch hinzuweisen: Produkte, die eine Haltbarkeitsdauer von einer Million Jahre besitzen sollen, können nicht im Eiltempo gefertigt werden. Für diesen grundlegenden Irrtum macht er das DOE verantwortlich und nicht irgendeinen Sachbearbeiter, der es versäumt hat, das Kleingedruckte auf der Packung von Swheat Scoop zu lesen.
Bekanntlich wird die Thematisierung solcher Erfahrungen gern als grüne Ideologie oder grüne Besserwisserei abgetan. Ausgerechnet in Zeiten des Klimawandels findet die Atomenergie wieder prominente Fürsprecher in Wirtschaft, Politik und Medien, weil sie CO2-arm und nachhaltig sei und den Ausstieg aus der Kohle unterstützen könne. Darin kündigt sich der nächste schwere Irrtum an. Der britische Ökologe und frühere Regierungsberater Paul Dorfman weist immer wieder – und immer wieder vergeblich – darauf hin, dass NukleARTEchnik, wenn überhaupt, nur in einer vor extremen Naturereignissen geschützten Umgebung funktionieren könne. Die britischen Atomkraftwerke beispielsweise stünden an der vordersten Front des Klimawandels, aber nicht in einem günstigen Sinn. Das Abschmelzen der Polkappen werden nämlich schneller als gedacht dazu führen, dass sie geflutet werden, weil sie alle in Küstennähe errichtet wurden. Darauf seien sie in keinster Weise vorbereitet.
Der Betrieb von Atomanlagen verträgt sich nicht mit Erdbeben, Fluten, Stürmen, Hitze- oder Kältewellen und Waldbränden. Und schon gar nicht mit Krieg! Nach Fukushima ist WIPP die zweite große Warnung. Wer Atomenergie als nachhaltig einstuft, wie es die europäischen Institutionen getan haben, hat Beides nicht verstanden, den Klimawandel nicht und die NukleARTEchnik auch nicht.
Das vergessene Phänomen
Zurück zum Anfang des Dramas: Die Beobachtungen des Wachmanns, der einen grünen Lichtschein und ein knisterndes Geräusch an der Umspannanlage von WIPP gemeldet hatte, waren offenbar so seltsam, dass sie in den offiziellen Untersuchungen nicht ausgewertet wurden, also auch in den meisten Presseveröffentlichungen keine Erwähnung fanden. Einige US-Blogger jedoch mit einprägsamen Namen wie z.B. “Pissin’ on the Roses” (POTR) oder “Bobby1” gingen der Sache akribisch und kenntnisreich nach. POTR zeigte anhand von Satellitenaufnahmen einer Suchmaschine, dass die Umspannanlage von WIPP in der direkten Verlängerung des Ausgangs der Schachtbelüftung liegt. Durch diesen Ausgang seien Plutonium und Americium über den Starkstromanschluss gestrichen, und der habe sich mit seinen elektromagnetischen Feldern wie ein riesiger Geigerzähler verhalten. Die Trafostation habe die ionisierende Strahlung wahrnehmbar gemacht.
Wenn wir dieser These folgen, hätte die Umspannanlage den Austritt intensiver Radioaktivität mehr als 24 Minuten vor dem Instrumentarium in der Leitstelle angezeigt. Das würde der Empfindlichkeit der Monitore, die im WIPP untertage installiert sind, ein miserables Zeugnis ausstellen. Einen Hinweis zu einer möglichen Erklärung gab die Zeitschrift Nature, die am 13.5.2014 zu berichten wusste, dass die Überwachungsgeräte und die Ventilationsfilter aus Wartungsgründen vom 6.2. bis 10.2. abgeschaltet gewesen seien. Denn am 5.2. war ein Feuer im Bergwerk ausgebrochen, bei dem ein schweres Transportfahrzeug ausgebrannt war.
Das Feuer stand in keinem Zusammenhang mit dem Strahlenleck neun Tage später, aber der dichte Qualm brennender Reifen hat wahrscheinlich die HEPA-Filterung und die Überwachungsgeräte gefährdet. Es ist plausibel, dass die teure Technik in den folgenden Tagen geschont wurde, um sie vor Schäden zu bewahren. Vielleicht dauerten die Abschaltungen auch länger als bis zum 10.2.2014, jedenfalls befand sich die Anlage zum Zeitpunkt des Lecks nicht in ihrem gewohnten Normalbetrieb.
Bemerkenswert ist, dass sich das renommierte französische Institut für Strahlenschutz IRSN in einem 185 Seiten langen Bericht vom März 2021 den Analysen der US Blogger anschließt und sie ausführlich zitiert. Diese Rekonstruktion der Nacht vom 14. auf den 15. Februar legt die Vermutung nahe, dass die durch das Leck freigesetzte Strahlungsmenge deutlich größer war als bisher angenommen; das gilt auch für den Anteil von Radionukliden, der durch das Belüftungssystem ins Freie gelangen konnte. Denn die HEPA-Filterung wurde erst 34 Minuten nach der Meldung des Wachmanns wirksam.
In Deutschland erinnert der “green burst” an einen mysteriösen Vorfall vor 36 Jahren. Anfang der neunziger Jahre schlug ein Arzt in der Elbegemeinde Geesthacht, 25 Kilometer östlich von Hamburg, Alarm, weil sich in seiner Praxis die Fälle von Kinderleukämie häuften. Es bildete sich eine Bürgerinitiative, die zunächst das Atomkraftwerk Krümmel und dann das Forschungszentrum der Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) als Verursacher verdächtigte. Beide Nuklearanlagen liegen in unmittelbarer Nachbarschaft nebeneinander und sind nur durch ein kleines Wäldchen getrennt. Aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit der Bürgerinitiative meldeten sich Zeugen, die einen Feuerschein am späten Abend des 12. September 1986 über dem Wäldchen gesehen haben wollten. Zur gleichen Zeit wurde Radioaktivität innerhalb der Leitstelle des AKW Krümmel registriert. Doch die Strahlung sei mit der Außenluft hereingekommen, wunderten sich die Angestellten des Kraftwerks: Da schafft man an einem Strahlenherd schlechthin und dann kommt das Zeug von außen rein.
Die Bürgerinitiative behauptete einen vertuschten Unfall. Es habe einen Brand im GKSS gegeben, bei dem Radioaktivität freigesetzt worden sei. Das Forschungszentrum dementierte die Behauptung hartnäckig, ebenso die Landesregierung von Schleswig-Holstein und der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin. Das ZDF-Magazin Mona Lisa, das im April 2006 eine Reportage über das Leukämiecluster an der Elbe sendete, handelte sich heftige Vorwürfe ein: Panikmache, Verschwörungstheorien. Doch die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake hatte Umweltproben in der Region gesammelt und darin Spuren von Americium nachgewiesen.
Nach den Erkenntnissen von Carlsbad könnte es sich bei dem an der Elbe beobachteten Lichtschein nicht um ein Feuer gehandelt haben, sondern um ein Leuchten, das durch ionisierte Luft verursacht wurde. Denn die Zeugen beschrieben die Erscheinung nicht unähnlich der Schilderung des Wachmanns von WIPP. Sie sprachen von einem bläulichen, grünlichen und gelben Schein. Als riesiger Geigerzähler käme in diesem Fall die Umspannanlage des AKW Krümmel in Frage. Sie grenzt an das beschriebene Wäldchen.
Zu komplex, zu schwierig, zu riskant
Die Zeitschrift Nature wählte für ihren Bericht über WIPP die Überschrift “An accident waiting to happen” (ein Unfall, der nur darauf wartet zu passieren). Diesen Artikel nahm der kanadische Physiker Hubert Reeves zum Anlass, sich mit einer dringenden Warnung an die französische Öffentlichkeit zu wenden: “le nucleaire? Non merci!” Er prangerte eine allgemeine Fahrlässigkeit an, eine Atmosphäre der Selbstgefälligkeit, die allmähliche Abschwächung und Abnutzung der Sicherheitskultur durch die tägliche Routine, die mangelnden wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, die Mittelmäßigkeit. Kernenergie sei eine Technik in der Welt der Sterne, aber nicht für die Welt der Menschen geeignet. Die Intervention des prominenten alten Mannes trug dazu bei, dass einige wenige Leserinnen und Leser in Europa erstmals von den Vorgängen in New Mexico Notiz nahmen. Reeves schloss seinen Weckruf mit der Befürchtung, die Erfahrungen von WIPP würden alsbald wieder in Vergessenheit geraten. Auch mit dieser Einschätzung lag er richtig. Es bleibt die Frage offen, welche Streu denn nun besser ist für unsere Katze. Schräge Sache.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei bruchstuecke.info, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors. Diese Geschichte ist nach seiner Auskunft noch nicht verfilmt.
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