Zwischen dem Westen und Russland: Zum fünften Jahrestag des „Fall Skripal“ – Für Dawn Sturgess und Charley Rowley (und über “Nowitschoks”)
Gestern vor fünf Jahren, am 4. März 2018 kam es zum „Skripal-Fall“. Nach dem Narrativ wurden an jenem Nachmittag der ehemalige russische Doppelagent Skripal und seine Tochter Julia auf einer Bank in Salisbury ohnmächtig gefunden, nahezu tödlich vergiftet mit einem Nervengift der „vierten Generation“, einem Gift aus der „Nowitschok“-Familie (A 234).
Am 12. März 2018 erhob die damalige britische Premierministerin May politische Anklage: Motiv, Gelegenheit und Tatwaffe wiesen auf Russland, also sollte sich Russland erklären und schuldig bekennen. Nach weiteren zehn Tagen war sich die EU einig: Russland war schuld. Der Killer Putin hatte seine Mordbuben wieder einmal losgeschickt. Auch die NATO zeigte sich solidarisch.
Schließlich hatte Russland nach nunmehr allgemeiner westlicher Überzeugung gewissenlos Chemiewaffen auf britischem Boden eingesetzt, unterhielt wahrscheinlich ein heimliches Chemiewaffenprogramm und verfolgte Verräter bzw. eine wertvolle Quelle für den MI 6 noch nach Jahren und machte auch vor dessen Tochter nicht halt.
Es galt als ausgemacht, dass ein wichtiger Verbündeter wie Großbritannien in einer solchen Sache nicht schwindeln würde. So erklärte damals der bulgarische Ministerpräsident seine Zustimmung zur politischen Verurteilung Russlands durch die EU-Staats- und Regierungschefs.
Vergiftetes „Beweisstück“
Im März 2018 wurde dem negativen politischen Bild Russlands ein weiteres und äußerst vergiftetes „Beweisstück“ hinzugefügt: Russland war also beherrscht von einem gewissenlosen, rachsüchtigen Mörder und internationalen Regelbrecher, der sich wie üblich propagandistisch aus der Schlinge zu winden sucht. Denn selbstverständlich wies der Kreml alle Vorwürfe zurück und verlangte Beteiligung an den Untersuchungen.
Heute ist auch das schon wie eine alte Leier, die die Russen immer abspielen, um ihre Lügen in westliche Gehirne zu spülen: Bei MH 17 (2014), im „Skripal-Fall“ (2018), dann im „Fall Nawalny“ (2020) und zuletzt bei Nord Stream (2022).
Wo kämen wir hin, wenn Attentäter auch noch an sie betreffenden Ermittlungen beteiligen würden?
Mit diesem Argument wiesen westliche Vertreter in der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW), Russlands Forderung (unter Bezug auf entsprechende Regelungen des Statuts) nach Beteiligung an den Untersuchungen im „Skripal-Fall“ zurück. Die russische Forderung war statutenkonform und enthielt sogar die Bereitschaft, sich unangemeldeten Inspektionen zu stellen (um den Vorwurf eines Verstoßes gegen die Konvention zu entkräften). Auch das wollten die westlichen Vertreter nicht.
Eine frei im Raum schwebende politische Verdächtigung hat ihren eigenen Charme, wenn man sie als politische Waffe nutzen will. Ginge man ihr auf den Grund, könnte sie möglicherweise stumpf werden.
Bis heute ist der „Skripal-Fall“ nicht juristisch geklärt. Man sollte sich nicht davon irre machen lassen, dass die Briten im September 2018 zwei Verdächtige präsentierten, die angeblich mit gefälschten Identitäten und falschen echten Pässen oder echten falschen Pässen das britische Einreiseregime (Visa) geknackt hatten.
Mit etwas Recherche kann man herausfinden, dass die britischen Freunde über Monate eine Geschichte erschufen und bei all der (eiligen) Zusammenschusterei noch nicht einmal sehr viel Geschick an den Tag legten. Aber sie kamen und kommen damit durch, und das ist nicht nichts.
Geheimdienstlich nicht uninteressant
Denn es gab die breite Bereitschaft, Schlimmstes anzunehmen. Einzelheiten oder gar wissenschaftliche Zusammenhänge interessierten nur Wenige. Der „Skripal-Fall“ ist auch geheimdienstlich nicht uninteressant, und wer möchte sich schon mit Geheimdiensten anlegen. Also ich nicht. Weder mit fremden noch mit dem eigenen.
Aber schon in den ersten Tagen lag es auf der Hand, dass beispielsweise die von Scotland Yard verfolgte Version zum angeblichen Tagesablauf der Skripals am 4. März nicht mit dem übereinstimmte, was britische Medien reichlich anhand von Zeugenaussagen dokumentierten.
Normalerweise hätte es auch alle Hauptstädte oder große Medien umtreiben müssen, wie es denn sein kann, dass zwei angeblich durch ein Nervengift nahezu tödlich Vergiftete noch etwa zweieinhalb Stunden durch Salisbury wanderten, ohne Vergiftungssymptome zu zeigen. Jeder Chemiewaffenexperte in der Bundesrepublik Deutschland weiß, dass das Murks ist (und wenn man bereit ist, ein bisschen dazu zu lernen, jeder interessierte Laie auch).
Nervengiften (auf Phosphatbasis) sind chemisch mit Ungeziefermitteln eng verwandt. Sie sind sogar in einzelnen Fällen direkte Produkte der Ungezieferforschung, nur dass bei Nervengiften gilt, dass der Mensch das zu vernichtenden Ungeziefer ist.
Bei solchen Nervengiften gibt es einen klaren zeitlichen Zusammenhang: Je schwerer die Vergiftung ist, um so schneller und schwerwiegender ist der Symptomeintritt. Im Körper läuft ein genau erforschtes Zerstörung-Programm ab. Das erklärten britische Medien sogar ihren Lesern, um die Abscheulichkeit der Tat zu unterstreichen – und dachten keinen Millimeter weiter.
Nervengifte unterscheiden sich – vereinfacht ausgedrückt – nur in zwei Dingen: In der Höhe der Dosis, die man braucht, um einen Menschen verlässlich zu töten und in der Aussicht auf Heilung (durch Gegenmittel). In der Welt der Chemiewaffen gilt als „effizient“, was nur geringe Dosen braucht (billig) und am besten den Tod vieler sichert (nachhaltig).
„Traditionelle“ westlichen Nervengifte (z.B. VX) brauchen nur einen geringen Gifteinsatz, um einen Menschen zu töten, aber sie sind mit einem Fenster der Gelegenheit verbunden, in dem Heilung gelingt, wenn die Dosis unterhalb der tödlichen Schwelle liegt. Anders ist es dagegen beim deutschen Soman. Die Dosishöhe, um einen Menschen zu töten, ist vergleichsweise hoch. Aber Soman ist in der Lage, blitzartig und irreversibel bestimmte Funktionen im menschlichen Organismus zu zerstören (sogenannte „Alterung“). Deshalb gehört Soman zu den gefürchtesten Nervengiften überhaupt.
Was lag also näher, geringsten Materialeinsatz (tödliche Dosis) mit „Nachhaltigkeit“ (irreversible Schädigung) zu kombinieren? Ein Supergift zu schaffen?
Und da sind wir bei den „Nowitschoks“:. Sie verbinden einen geringen Materialeinsatz wie bei VX, um zu töten mit der Bösartigkeit von Soman (zur irreversiblen Schädigung). Das war im Februar 1997 zum ersten Mal in einem öffentlich gewordenen Teil einer geheimen Pentagon-Unterrichtung in der Washington Times nachzulesen, anhand der Beispiele von A 232 und A 234. Damals wurde A 234 erstmals wissenschaftlich erwähnt.
Wegen dieser tückischen Allianz gibt es gegen „Nowitschoks“ keine bekannten Gegenmittel. Selbst wenn die Menge nur klitzeklein ist, weit unterhalb einer tödlichen Dosis, hat ein so vergifteter Mensch mit schweren Folgewirkungen zu kämpfen. Deswegen wird seit langem an Mitteln geforscht, die man vor einem möglichen Kontakt mit solchen Giften einnehmen könnte. Anders ausgedrückt: Gifte wie „Nowitschoks” sind das Widerlichste und Gefährlichste, was in Laboren (soweit bekannt) je entstand. „Nowitschoks“ stammen aus der Sowjetunion.
Wenn es stimmt, geht ihre Entwicklung wahrscheinlich auf eine CIA-Planung zurück. Die wollte die sowjetische Chemiewaffenforschung aufs Glatteis führen und präsentierte den Sowjets halbausgegorene US-Forschungsergebnisse mit Hilfe eines „Überläufers“. Weil die sowjetischen Chemiewaffenexperten wiederum großen Respekt vor den Leistungen ihrer US-Kollegen hatten, aber auch noch Hirn zwischen den Ohren, rutschten die jedoch nicht aus, wie die CIA dachte, sondern lösten das Rätsel.
Nowitschoks kamen in den Westen
Sei es wie es sei, die Entwicklung von „Nowitschok“ Giften entspricht dem feuchten Traum für Chemiewaffenspezialisten. Dank neugieriger Geheimdienste, der Auflösung der Sowjetunion und der folgenden Abwanderung sowjetischer Chemiewaffenexperten nach Übersee kamen sie in den Westen. Wann sie nach Tschechien kamen, weiß ich nicht genau, ich vermute vor 1990, denn die Tschechen haben auch exzellente Spezialisten auf dem Gebiet.
(Wie sich 2018 herausstellte, hatten auch wir Deutschen unsere „Nowitschok“-Geschichte).
Für die britische Skripal-Saga gab es kurzzeitig einen politisch heiklen Punkt. Anfang April 2018 wurde klar, dass der damalige Außenminister Johnson frei erfunden hatte, die britischen Chemiewaffenexperten hätten die russische Herkunft des Gifts „zweifelsfrei“ bestätigt. Die Lüge war terminlich gut platziert, unmittelbar vor dem Europäischen Rat, um Wankelmütige, die Zweifel an der russischen Schuld hatten, auf Kurs bringen.
Wer nicht hinschaut, sieht den Pfusch auch nicht
Im April waren jedoch die politischen Messen gesungen. Wer dann noch maunzte, kriegte Dresche (Pro-Putin; trojanisches Pferd des Kremls, Pazifist… also auch die mittlerweile übliche Leier). Eine solche Aburteilung war und ist in der Regel erfolgreich und erfolgreich abschreckend fürs Denken. So konnte Großbritannien immer weiter an seiner Skripal-Saga stricken. Zwar fielen immer mehr Maschen von der Nadel, aber wer nicht hinschaut, sieht den Pfusch auch nicht.
Um nicht missverstanden zu werden: Es ist ganz sicher, dass es am 4. März 2018 in Salisbury zu einem Vorfall kam. In dessen Ergebnis verschwand Skripal völlig von der Bildfläche und wurde nie wieder gesehen. Seine Tochter dagegen stellte sich einmal im Mai 2018 der internationalen Presse und gab eine vorbereitete Erklärung ab. Außerdem hat sie noch einige Telefonate geführt, die öffentlich wurden. Ihr Hab und Gut in Russland wurde verkauft. Wo sie heute ist, ist nicht bekannt.
USA, Großbritannien und Tschechien
Der „Skripal-Fall“ legte offen, dass alle in Sachen Chemiewaffenforschung führenden Nationen die „Nowitschok“-Gifte kannten und sie vor der Welt (und der OPCW) versteckten. Sie hatten sie in ihren Laboren, undeklariert. Das gilt nicht nur für Russland, sondern mindestens auch für die USA, Großbritannien und Tschechien.
Wegen des „Fall Skripal“ müssen heute Gifte der „Nowitschok-Familie“ und noch ein paar weitere Gifte gegenüber der OPCW offengelegt werden. Sie sind nun Teil der ausdrücklichen Verbotsliste. Bei diesem Verbotsprozess kam in der OPCW zwischen dem Westen und Russland zu einem Tauziehen. So wurde transparent, dass beide Seiten eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatten, was sich (undeklariert) in den jeweils anderen Laboren befand. Da bisher niemand in der OPCW scharf darauf war/ist, durch Laborinspektionen Transparenz zu schaffen, muss man davon ausgehen, dass es sich um geheimdienstlich erworbenes Wissen handelte.
Durch diesen Streit wurde ein großes Manko des Funktionierens der OPCW deutlich. Die Konvention erlaubt immer noch Forschungen. Sie verbietet daher nicht den Besitz im Labor. Aber was dort passiert, wird praktisch nicht kontrolliert, obwohl die Konvention das ermöglicht. So entsteht Misstrauen, ein geheimdienstliches Betätigungsfeld. Auch etwaigem Missbrauch sind Tür und Tor geöffnet. Niemand weiß heute, ob die „Nowitschok“s wirklich die letzte Generation bei Nervengiften geblieben sind.
Opfer Dawn Sturgess
Eine angeblich mit dem „Skripal-Fall“ verbundene Vergiftung zweier Personen mit „Nowitschok“ in Amesbury (in der Nähe von Salisbury), bei der es ein Todesopfer gab, Dawn Sturgess, ist bis heute nicht aufgeklärt von den britischen Behörden.
Nach britischem Recht muss im Fall von Dawn Sturgess haarklein ermittelt werden. Da hakt es nach wie vor, von hinten bis vorn. Was einst in den britischen Medien breitgetreten wurde, ist nunmehr streng geheim. Das „Dumme“ ist, dass die Familie, aber auch ihr Partner, Charley Rowley, eine Erklärung für den Tod von Dawn Sturgess haben wollen.
Dawn Sturgess gilt – soweit war sich der Westen schon 2018 einig – als unglücklicher Kollateralschaden. Er hat wegen Dawn`s Tod nicht nochmals die Daumenschrauben gegenüber Russland angezogen. Die Briten hätten gerne nachgewiesen, dass die Attentäter von Skripal so ruchlos waren, dass sie eine Ladung Nervengift (in einem umgebauten Parfümfläschchen) auf britischem Boden deponierten, über die dann Charley Rowley stolperte und an der Dawn schließlich starb. Das scheiterte (unabsichtlich) an Charley Rowley, dem einzigen Zeugen (und weiterem Vergiftungsopfer). Rowley wich in einem Interview im August 2018 plötzlich vom Skript ab und bestand darauf, er habe seiner Dawn Parfüm geschenkt, neues Parfüm. Es sei noch eingeschweißt gewesen.
Wie wurde die angebliche Mordwaffe wieder eingeschweißt?
Das schuf für die Macher der Skripal-Geschichte ein anhaltendes Problem: Wie wurde die angebliche Mordwaffe gegen die Skripals, die Dawn getötet haben soll, wieder eingeschweißt?
Aber in dem Fall gilt meine Sympathie eindeutig der Familie von Dawn Sturgess und Charley Rowley. Die Familie fühlt sich allein gelassen von den britischen Behörden, nicht ausreichend informiert. Rowley schlägt sich nun seit fast fünf Jahren mit der Frage herum, ob ein Geschenk von ihm möglicherweise doch die ihm Liebste getötet haben könnte. Dawn Sturgess und Charley Rowley sind nicht auf der Sonnenseite des Lebens gewandelt. Auch deshalb wäre Ehrlichkeit geboten, im Fall von Charley auch Entlastung. Das ist nicht zu erwarten. Wenn es um große Politik geht, kommen kleine Leute schnell unter die Räder. Und sie wissen, und wir alle wissen, dass es so ist.
So blieb der „Skripal-Fall“ eine Geschichte, aber eine, die politisch zum Beweis für ein gewissenloses, gemeingefährliches und potentiell tödliches Russland genommen wurde, das zwei GRU-Henkersknechte (identifiziert von Scotland Yard und bestätigt von der britischen Premierministerin am 5. September 2018), ausgestattet mit einem tödlichen Nervengift, am 3. und 4. März 2018 nach Salisbury schickte, um damit den „alten Drecksack“ und „Verräter“ (Putin im Oktober 2018 über Skripal) wegen Landesverrats zu ermorden, was diese GRU-Spezialisten trotz militärischen Trainings dann gründlich versauten, bzw. britische Mediziner mit ärztlicher Kunst durchkreuzten.
Das kann man glauben. Aber wie immer, wenn Wissen mangelt, lädt das zum Geschichtenerzählen ein.
Meine Lieblingsgeschichte
Ich habe auch meine Lieblingsgeschichte (Andere haben andere). Ich erzähle mir, zwei jahrzehntelang tief verfeindete Geheimdienste kamen sich an diesem Wochenende in Salisbury in die Quere. Zu meiner Geschichte gehört Julia Skripal. Aber eine Gesellschaft, die auf Männer fokussiert ist, übersieht eine Julia leicht. Wurde sie deshalb nicht als Opfer erwähnt, als in der BBC zum ersten Mal über den „Skripal-Fall“ diskutiert wurde (5.03.18), obwohl ihre Identität bereits am Vortag bekannt war? Die Briten lenkten jedenfalls aktiv die öffentliche Aufmerksamkeit auf Skripal, den einstigen Doppelagenten.
Julia Skripal ist eine sehr interessante junge Frau. Sie ist die Einzige in der engeren Skripal-Familie, die nicht am Doppelleben von Skripal zerbrach. Sie verwandelte sich aus einem Trampel in Russenbluse (persönliche Fotos von Skripal) in ein elfenhaftes Wesen (Facebook von Julia). Sie bewies große Stärke. Sie hat es den Briten nicht leicht gemacht. Im ersten Telefonat nach Russland, das ihr (offenbar unbeobachtet) gelang und das öffentlich wurde, zwang sie die Briten zur Erklärung, ihr Vater wäre genesen. Das hatte etwas.
Denn ob das stimmte, ist auch höchst unklar. In einer BBC-Dokumentation vom Mai 2018 war ein behandelnder Arzt voller Mitleid mit Julia: So allein, ohne Familie, in der Fremde. Auch eine Pflegerin redete immer nur über Gespräche mit Julia. Aber das nur am Rande.
Wie ein Medienprofi
Wie Julia sich im Mai 2018 vor den Augen der Welt präsentierte, war beeindruckend. Da war kein Stottern, kein Zucken, keine Spur von Nervosität bei einer Frau, die plötzlich „zur Welt“ sprechen musste. Sie ratterte ihren vorbereiteten Text runter. Wie ein Medienprofi. Im vorbereiteten Text wiederum gab es keine Verurteilung ihres (angeblich) mörderischen Heimatlandes.
Alles, aber auch alles, was an öffentlichen Äußerungen von Julia bekannt wurde, hat einen gemeinsamen Nenner. Julia sagte immer wieder, und immer wieder hochintelligent verpackt, dass sie nach Hause will. Nach Russland. Ob sie inzwischen wieder zu Hause ist? Falls russische Agenten am 4. März 2018 in Salisbury gewesen sein sollten, dann würde ich einen recht hohen Wettbetrag auf Julia setzen, und den Rest auf ihren Vater.
Das größte Talent, das Skripal hatte, war das der Täuschung. Er täuschte als GRU-Agent den damaligen Gegner, er täuschte als Doppelagent seine eigenen Leute. Der MI 6 intervenierte zu seinen Gunsten, um ihn austauschen, als Skripal in russischer Haft seine Strafe verbüßte, die erstaunlich milde ausfiel. Was, wenn Skripal, nunmehr ausgetauscht, wieder ein doppeltes Spiel spielte? Seine Schuld gegenüber dem Heimatland nunmehr mit dem beglich, was er am besten konnte? Wieso glauben wir Putin nicht, wenn er das sagt, was uns nicht passt, aber finden „alter Drecksack“ (Skripal) berichtenswert, regelrecht „enthüllend“?
Es könnte genauso gut sein, dass Putin damit Irreführung betrieb. Erinnern Sie sich: Einmal KGB, immer KGB …
Der hatte sich nicht anwerben lassen
In dieser Logik findet man jedenfalls die Lösung dafür, warum alle westlichen Geheimdienste einen dienstlichen Grund haben, Putin zu hassen. Der hatte sich im Unterschied zu Skripal nicht anwerben lassen. Er ist der Feind geblieben. Das sollte man ganz rational sehen. Hätten sie Putin umdrehen können, hätten wir heute kein Problem mit Russland. Wir hätten es unter Kontrolle.
Aber zurück meiner persönlichen Wett-Geschichte zu Skripals Doppelleben. Was, wenn der MI 6 misstrauisch wurde? Was, wenn Skripal wieder nach Russland wollte, zu Mama? Was, wenn die Briten in letzter Minute eingriffen und sich eine Trophäe schnappten? Wäre das nicht eine großartige-Film-Geschichte? Ein Reißer regelrecht.
Es wäre jedenfalls ein besserer Plot, als aller Welt einzureden (BBC „Panorama“, in Zusammenarbeit mit Scotland Yard im November 2018), der alte Skripal und seine Tochter hätten nacheinander eine mit „Nowitschok“ beschmierte Türklinke angefasst (später dann auch noch Nick Bailey, der Kriminalpolizist,) und das hätte beide lebensgefährlich und Nick Bailey schwer vergiftetet. Wie kann das denn sein?
(Anmerkung: Die BBC legte wegen Protesten gegen besagte Sendung in schriftlicher Form nieder, sie habe bei der Reportage zum „Skripal-Fall“ höchsten journalistischen Standards genügt.)
Nervengifte dosieren sich nicht selbst
Wenn sich angeblich nacheinander zwei Menschen lebensgefährlich vergiften durch eine einzige Klinke, müssten sie jeweils eine annähernd tödliche Dosis abbekommen haben. Das führt zur Frage, wieviel Gift auf der Klinke gewesen sein müsste, bevor der erste Mensch sie berührte. Logische Antwort: Mindestens das Doppelte einer annähernd tödlichen Dosis (und ein bisschen Extra-Gift für Nick Bailey).
Der Erste, der eine solchermaßen vergiftete Klinke berühren würde, stirbt. Nervengifte dosieren sich nicht selbst. Das, was da ist, dringt in die Haut ein. Und tötet, wenn genug davon da ist. Und zwar umgehend. Die Daily Mail hat im März 2018 ihren Lesern ein Video mit einer durch ein Nervengift vergifteten Ziege vorgestellt. Ich verzichte auf den link. Es ist kein schöner Anblick.
Unglücklicherweise konnten BBC/ Scotland Yard im November 2018 jedoch nicht behaupten, die Skripals hätten sich gegenseitig vergiftet. Denn im ganzen „Skripal-Fall“ gibt es keine Weitergabe des Gifts von Mensch zu Mensch, oder von Menschen zu Tier. Falls, wurden ausgewählte Dinge kontaminiert, aber auch nicht immer. Das ist zwar auch alles unwissenschaftlicher Humbug, aber geschenkt.
Der Erste, der das entstehende Vergiftungs-Ketten-Problem verstand, war ein ehemaliger Chef von Scotland Yard (9. März). Der schlussfolgerte messerscharf: Wenn sich eine (damals anonyme) hilfeleistende Ärztin nicht an den Skripals vergiftet hatte, konnte sich auch Nick Bailey (Kriminalpolizist und damals angeblich noch Ersthelfer der Skripals) nicht an den Skripals vergiftet haben. Dann musste man woanders suchen. Vielleicht am/im Haus? Das führte geradewegs in einen Kaninchenbau, in dem sich alle verirrten.
Tummelplatz der Polizei
Leider, leider erinnerte sich eine BBC-Radio-Journalistin anlässlich des ersten Jahrestages des Skripal-Falls, dass das Skripal-Haus zum Tummelplatz der Polizei wurde, beginnend am Nachmittag des 4. März. Man ging ein und aus und übernachtete dort auch. So hatte auch der Guardian unter Bezugnahme auf Beobachtungen eines Nachbarn zunächst berichtet. Am Nachmittag war die Polizei dort, nicht erst um Mitternacht. Die blieben alle gesund und munter.
Aber ich schrieb ja bereits: Was für eine schlampige Story!
Die BBC zerstörte im November 2018 durch ihr Interview mit Bailey die Mär, die britische Beamte Ihrer Majestät allen Nato-Partner im April 2018 geschrieben hatte und die durch alle internationalen Medien geflattert war: Das britische Opfer, der heldenhafte Ersthelfer, der den Skripal angeblich so selbstlos beistand und alles mit einer schweren Vergiftung bezahlte, war nicht einmal in deren Nähe. Bestätigt wurde das dann im Dezember 2018 durch eine örtliche Polizistin gegenüber dem Guardian. Die machte allerdings einen anderen schwerwiegenden Fehler (für aufmerksame Leser). Sie erklärte, wie schwierig es gewesen wäre, den starren Skripal in den Krankenwagen zu bugsieren.
Man muss ein bisschen suchen, aber man findet es: Opfer von Nervengiften, wenn sie schwerst vergiftet sind, werden nicht starr. Ihre Muskeln ermüden, sie werden schlaff und darauf beruht auch das Problem mit der Atmung. (flaccid paralysis). Darüber sprachen ebenfalls Ärzte des Salisbury Hospitals in einer BBC-Dokumentation (29. Mai 2018).
Inzwischen ist Nick Bailey kein Kriminaler mehr, über Kreuz mit seinem ehemaligen Dienstherrn und fallweise zu redselig.
Der ganze „Skripal-Fall“ war nie wissenschaftlich fundiert, er war niemals logisch und er hat größere Löcher als ein Schweizer Käse. Doch, was macht das schon, wenn man glauben will, dass der Mörder im globalen Dorf einen russischen Namen trägt.
Es war anfangs durchaus ein Rätsel, wie die Rolle der OPCW zu bewerten war. Sie bestätigte technisch die Giftanalyse der Briten. OPCW-Experten hatten Blutproben genommen und die bewusstlosen Skripals identifiziert. Wenn man die öffentlichen Verlautbarungen der OPCW genau liest, stellt man fest, dass die OPCW sich nie zur Frage äußerte, wie hoch die Giftmenge (genauer gesagt: Zu dem Zeitpunkt der Blutentnahme konnte es lediglich nur noch Zerfallsprodukte des Gifts handeln) gewesen sein muss, bzw. wie schwer ein bestimmtes Enzym gehemmt worden war. Natürlich habe ich mich gefragt, warum die Briten so lange warteten, bis sie die OPCW-Experten einluden. Nach der Konvention hätten die schon am 8. März Gewehr bei Fuß stehen und Blut zapfen können. Aber das Leben wollte es anders.
Sehr, sehr viel mehr, als man zur Forschung braucht
Was im geheimen Berichtsteil für die OPCW-Mitglieder steht, weiß ich selbstverständlich nicht. Aber könnte es sein, dass auch dort zu den Blutwerten der Skripals nichts Genaues steht? Das behauptete der russische Botschafter in den USA auf einer Pressekonferenz im März 2019. Natürlich ist dieser Frage auch niemand nachgegangen, denn diese Information war/ist geheim und die erste Regel lautet: Der Russe lügt immer, wenn er auch nur den Mund aufmacht.
Völlig durchsichtig wurde die Rolle der OPCW trotzdem. Am 3. Mai 2018 zitierte die NYT den damaligen OPCW-Generalsekretär. Der erhob mittels einer absurd hohen Menge an Nervengift, das im „Skripal-Fall“ eingesetzt worden wäre, den Vorwurf, Russland verfügte über „Nowitschoks“ zur militärischen Nutzung. Die Menge wäre sehr, sehr viel mehr, als man im Labor zur Forschung brauche. Diese Äußerung zeigte, dass der Mann nicht nur nichts von Nervengiften verstand, sondern sich auch nicht wie ein unabhängiger Sachwalter der Konvention verhielt. Er war Partei und stützte eine britische Vermutung, die die OPCW nicht untersucht hatte. Seine Aussage zur abenteuerlich hohen Giftmenge im „Skripal-Fall“ bügelten seine Mitarbeiter umgehend glatt, aber den Zusammenhang: große Giftmenge sprich wahrscheinliche militärische Nutzung verneinten sie nicht explizit.
Sei es wie es sei, die britische Skripal-Erzählung hat etwas äußerst Reizvolles und Erleichterndes, wenn man der Versuchung nicht widerstehen kann, so wie eine Sherlock Holmes es genauer wissen zu wollen. Dann es ist absolut atemberaubend, herauszufinden, mit welcher Chuzpe Konstrukte aufgestellt wurden, und dass die trotzdem verfingen. Das wiederum gehört zu den 100 Prozent sicheren Erkenntnissen aus dem „Skripal-Fall“.
John Mearsheimer hat ein ganzes Buch über Lügen in der Politik geschrieben. Er kam zum Schluss, dass es ausgesprochen selten sei, dass sich Politiker gegenseitig in internationalen Fragen anlügen. Da hat mir richtig gut gefallen. Inzwischen finde ich, es ist Zeit, diesen Mythos zu begraben.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Ein “Heute” wurde durch ein “Gestern” ersetzt, Zwischenüberschriften nachträglich eingefügt.
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