Beueler-Extradienst

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Eine gewaltige, leise Stimme, die fehlen wird

Auf einer Konferenz in Berlin erreichte mich die Nachricht vom Tode Antje Vollmers. Es ist nicht leicht, diese so facettenreiche und vielseitige Politikerin, deren Lebensweg so reich an überraschenden Wendungen und kreativen Ideen, aber auch aneckenden Gedanken und Taten geprägt war, gerecht zu werden. Wir kannten uns unglaublich lange – seit 1986 – sie prominente Abgeordnete der “Grünen im Bundestag”, ich damals wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitskreis “Recht und Gesellschaft”, später Fraktionsvorsitzender im Landtag NRW. Politisch nah waren wir uns vor allem in den letzten beiden Jahren. Aber ganz mit ihren Positionen “warm werden” konnte ich nie. Und ich weiss, dass es vielen anderen, die jahrelang eng mit ihr zusammen gearbeitet haben, ebenso ging.

Antje Vollmer war die erste Sprecherin des Frauenvorstandes, den die Grüne Partei nach einem Jahr im Bundestag gewählt hat, nachdem sich Otto Schily und Petra Kelly 1984 wie fast die ganze Fraktion nachhaltig zerstritten hatten. Der Frauenvorstand, wenn nicht sogar Antjes Idee, war eine Reaktion auf das wachsende Macho-Gehabe des Männerduos Joschka Fischer/Otto Schily – und er erschütterte in nie gekannter Weise das Männerbild des ganzen Bundestages (Video 97 min; verfügbar bis 7.5.). Der Frauenvorstand setzte dem Hegemonialstreben der beiden grünen Jungs mit berstender Persönlichkeit ein sanftes, vorläufiges Ende, wirkte aber weit darüber hinaus. Das begründete eine politische Rivalität zwischen Antje und Otto  fürs Leben. Legendär ihr Streit im “Spiegel” über die Rolle und Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Für den Juristen Otto Schily Voraussetzung aller ernstzunehmenden Politikfähigkeit, für die Pastorin schon damals eine symbolhafte Bedingung, Oppositionelle, die ihr Gewissen über die Gesetze stellten, wie Blockierende von Raketendepots, Totalverweigerer des Kriegsdienstes, oder Volkszählungsboykotteur*innen von der Teilhabe an grünalternativer Realpolitik fernzuhalten.

Zwischen den Polen vermitteln

Der “Spiegel” behauptete 1986, die wahre Ursache für den Übertritt von Otto Schily zur SPD sei gewesen, dass Antje Vollmer im Landesverband NRW die “strenge Rotation” für Abgeordnete nach einer Legislaturperiode durchgesetzt und er deshalb keine Perspektive mehr bei den Grünen gesehen habe. Mag sein, Antje war Machtpolitikerin. Eine Regel, die nach dem Desaster der Grünen bei der Bundestagswahl 1990 abgeschafft wurde. Dabei war es nach 1987 ihr Ziel, etwa durch ein erstes, umfassendes  innen-und rechtspolitisches, radikaldemokratisches Programm, das ich mitformulieren durfte, die divergierenden Strömungen und unterschiedlichen Standpunkte zusammenzuführen – was gut gelang.

Auch in der Partei suchte sie, als “Fundis” und “Realos” mit den berstenden Frontfiguren Jutta Ditfurth und Verena Krieger auf der einen, Joschka Fischer und Hubert Kleinert auf der anderen Seite, immer tiefer stritten, mit der Gründung der mittigen Strömung “Aufbruch” nach einem Weg der Verständigung jenseits eingefahrener Rituale und festgefügter Inhalte der grünen Flügel. Dass dies nicht gelang, weil sich der “Aufbruch” allzu schnell an der Seite der “Realos” engagierte, sodass Ludger Volmer und Gaby Gottwald das “Linke Forum” gründeten und viele, wie auch ich, uns vom “Aufbruch” abwandten, war nicht in erster Linie Antjes Fehler.

Gesellschaftliche Deeskalation – Dialog mit der RAF

Die Ermordung des Diplomaten Gero von Braunmühl am 10. Oktober 1986 war für Antje Vollmer der Anstoß zu einer gesellschaftlichen Initiative, die den Dialog, den die Geschwister von Braunmühls durch einen offenen Brief an die RAF begonnen hatten, weiterzuführen und eine Initiative aufzunehmen trachteten, den 1980 Gerhart Rudolf Baum mit Horst Mahler begonnen hatte. In der ihr ganz besonders eigenen, unerschrockenen Zähigkeit und Bestimmtheit sprach und verhandelte sie mit Generalbundesanwalt Rebmann, Angehörigen von Opfern und mit Täter*inne*n, “antiimperialistischen” Hausbesetzer*innen, unterstützt und leidenschaftlich flankiert von Christa Nickels. Dabei erlebte sie, so erzählte sie einmal im kleinen Kreis, dass sich die “geistigen Bunker”, wie sie es nannte, von einsitzenden RAF-Mitgliedern, die sie besuchte und deren Strafverfolgern, wie Kurt Rebmann, in ihrer Abschottung gegenüber Veränderungen ihrer hergebrachten Vorstellungen und Denkweisen auf fatale Weise ähnelten. Wenn heute etwa Sendungen wie “ZDF-History” darstellen, dass die “Dialoginitiative” mit der RAF von Justizminister Klaus Kinkel ausgegangen sei, ist dies eine glatte Geschichtsfälschung. Das Thema liess sie lange nicht los, und hat letztlich zu einer ideologischen und gewaltlosen Abrüstung auf beiden Seiten geführt, bei der sie von Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Gollwitzer, Martin Walser, Ernst Käsemann und Kurt Scharf gegen erhebliche Widerstände unterstützt wurde. Sie bewirkte für die RAF-Mitglieder etliche Hafterleichterungen und Begnadigungen, was nicht zuletzt zu deren Auflösung 1998 beitrug.

Die Grüne Menschenfängerin

Was man Johannes Rau bei den Sozis nachsagte, war Antje Vollmer bei den Grünen: sie hatte ein begnadetes Talent, Menschen für sich, für die Grünen und die Sache zu begeistern und magnetisch anzuziehen. Niemand in der Fraktion hatte die Kontakte zu Künstler*inne*n und Intellektuellen außerhalb der Partei wie sie. Bevor die Wiedervereinigung 1990 und das damals falsch erschienene Wahlkampfthema Klimawandel die Grünen mit 3,8% aus dem Bundestag fegte, hatte sie als Fraktionsvorsitzende längst Kontakte zu Oskar Lafontaine geknüpft. Und viele hofften, dass die “bleierne Zeit” der Ära Kohl/Genscher mit der Bundestagswahl, Rot-Grün und einer Vizekanzlerin Vollmer enden könnte – es kam im Vereinigungstaumel  des Landes ganz anders.

Weit mehr als viele anderen verstand sie es, Kontakte zu Intellektuellen wie Wolf Biermann, Alice Schwarzer und dem Linksliberalen Gerhart Baum zu pflegen. Dabei ging sie immer nach dem Prinzip vor, keine Scheu vor niemand zu zeigen. “Wenn Du etwas von der Kirche willst, dann geh nicht zum Kardinal, sondern zum Papst,” war ihr Motto. Mit Erfolg.  Sie war es, die viele Kontakte zu Bürgerrechtler*inne*n der ehemaligen DDR knüpfte, die sie wie Werner Schulz und Dr. Wolfgang Ullmann, Ulrike Poppe und Marianne Birthler zu den Grünen herüber zog. Antje war niemals abgehoben, immer sehr nahbar – aber leider eine lausige Köchin, wie ich einmal feststellen durfte – es gab bei ihr in Bielefeld halbrohe Pellkartoffeln und ein verkochtes Gemüse und ihr damals elfjähriger Sohn weigerte sich aus Gründen, die ich leider nie erfahren habe, mit uns zu essen. Und er hatte sie “Antje komm jetzt mal her” voll im Griff.

Das grüne Bürgerrechtsspektrum erweitert

Mit der Forderung nach Entschädigung der vergessenen NS-Opfer trieb sie ein Thema voran, das sie nach 1994 wieder aufgreifen würde. Mitarbeiter wie Günter Saathoff, Kalle Koinegg, der später Jugendbuch- und Hörspielautor beim WDR wurde, selbst den knorrigen Udo Knapp verstand sie, zu kreativen Höchstleistungen zu motivieren. Die nicht-Juristin war fasziniert von dem Gedanken, wie ihn unser Justiziar Dr. Uwe Günther formulierte, dass der Volkszählungsboykott 1987 kein reiner Akt bürgerlich-zivilen Ungehorsams war, sondern die Bürger*innen sich in diesem gesellschaftlichen Prozess ein Grundrecht auf Datenschutz und Privatheit quasi aus dem Vakuum gegen die Versäumnisse der Politik erschaffen und sich angeeignet haben. Schon 1987 hatte sie eine Referentin für Kultur und niemand in der Fraktion – außer vielleicht die damalige Pressesprecherin Claudia Roth – hatte einen solchen Draht zu Kulturschaffenden wie sie. Volker Beck holte sie als Mitarbeiter und Referent für Schwulenpolitik nach Bonn.

Immer wieder außenpolitische Initiativen

Schon früh setzte sich Antje Vollmer in der Grünen Bundestagsfraktion für eine verbesserte Entspannungspolitik und Anerkennung der DDR ein, unternahm in den Folgejahren immer wieder Ausflüge in die Außenpolitik. Sie blieb dabei Realpolitikerin und gleichzeitig Pazifistin. Der Krieg in Jugoslawien setzte ihr zu und als Vizepräsidentin des Bundestages hielt sie sich gegenüber der Außenpolitik Schröders und Fischers gebührend zurück. aber die großen Linien europäischer Politik der Aussöhnung nach dem 2. Weltkrieg und die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands blieben bis zuletzt ihr Thema, ihre besondere Sorge und große Leidenschaft. Kein Text macht dies so deutlich, wie ihr vor vier Wochen veröffentlichtes “politisches Vermächtnis”, mit dem sie noch einmal einen großen Bogen über die europäische Geschichte und insbesondere die Politik seit 1990 schlug und zu Vernunft und Verständigung mahnte. Die große abrüstungspolitische Vorleistung Michael Gorbatschows gegenüber dem Westen, so mahnte sie an, sei von diesem fahrlässig mißachtet und dadurch viel Vertrauen verspielt worden.

Es  war die Sorge um Europa, vor einem Krieg, der in einer nuklearen Katastrophe enden könnte, die sie antrieb. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, sodass sie schließlich pragmatisch das Manifest von Schwarzer und Wagenknecht trotz erheblicher Bedenken unterstützte. Antje Vollmer war nicht naiv, wie es ihr ihre Nachfolgerin im Amt der Vizepräsidentin des Bundestages, Kathrin Göring-Eckardt am 12.2.23 vorwarf. Auch mit ihrer alten Weggefährtin Christa Nickels war sie in dieser Frage nicht mehr einig. Aber sie stand nicht allein. Günter Verheugen hatte dieselben Motive, ein deutlich anderes Zeichen zu setzen – im Einheitsbrei der veröffentlichten Meinung, dass man mit Putin nicht verhandeln könne und Panzerlieferungen alternativlos seien.

Den “Olivgrünen” entfremdet

Der anhaltende Krieg nach dem Überfall Putins auf die Ukraine machte ihr das ganze letzte Lebensjahr große Sorge. Vom Krebs gezeichnet, konnte sie schon im Sommer 2022 nicht mehr an einer Veranstaltung der Radikaldemokratischen Stiftung teilnehmen, zu der ich sie mit Ludger Volmer, Günter Verheugen, Johannes Varwick und anderen eingeladen hatte. Das letzte, sehr hörenswerte live-Interview zu diesem Thema und dem Sinn von Sanktionen gab sie 2022 Jürgen Zurheide im Deutschlandfunk. Die wirkliche Zeitenwende  für Europa verortete sie 1990 und nicht 2022.

Nein, Antje war beileibe nicht ohne Widersprüche. Als wir im vergangenen Jahr am Telefon über China diskutierten, meinte sie, dass Xi das “Taiwan-Problem” ihrer Einschätzung nach schnell lösen werde – im Sinne eines Anschlusses. Dass es in den 70er Jahren keine Rolle spielte, das faschistische Chiang Kai-shek-Regime Taiwans aus der UNO zu werfen und die Volksrepublik dort zu etablieren, hatte auch ich damals begrüßt. Aber dass sie über die Tatsache, dass sich über 50 Jahre später dieses China zu einer Demokratie entwickelt hat, einfach so hinweg ging, fand ich sehr irritierend.

Antje Vollmer schaute mit weiterem Blick auf die Dinge, sah nicht Europa als den Nabel der Welt und erinnerte daran, dass trotz Putin und Krieg ein Europa ohne Russland niemals bestehen wird. Und dass bei allem, was Politik tun kann, die Rettung des Planeten und der Menschheit Vorrang haben muss. Dabei wird uns jetzt ihre leise, manchmal brüchig scheinende Stimme, die sie doch mit so viel Nachdruck einsetzte, fehlen.

 

Nachtrag zum Erscheinungsdatum: Heute ist der 18.März 2023 – die liberale Revolution von 1848 ist genau 175 Jahre her und mit ihr der Kampf um Freiheitsrechte in Deutschland. Die bürgerlichen Liberalen wie Bassermann und Welcker setzten sich im Paulskirchenparlament durch und erreichten realpolitisch wenig. Die Radikaldemokraten Friedrich Hecker, Gustav Struwe und Robert Blum kämpften in Südbaden gegen den Kaiser oder wurden wie Blum auf der Brigittenau ermordet. Sie scheiterten und wanderten in die USA aus, weil die Zeit noch nicht reif war. Antje hätte sicher auf der Seite der Radikaldemokraten gestanden.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

Ein Kommentar

  1. Franz-Reinhard Habbel

    Vielen Dank für den mit viel Wertschätzung geschriebenen Nachruf. Er ist auch ein Spiegelbild der Politik der letzten 40 Jahre in Deutschland.

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