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Was ist wichtig?

Der 100-Jahres-Test: Klima und Ukraine

Das Problem der „Relevanz“ gehört zu den vertracktesten überhaupt. Was ist wichtig? Für wen? In welcher Situation? Warum ist es wichtig? Weil Sedimente von schlechten Angewohnheiten mit uns Pawlow spielen? Oder weil uns eine Sache nach langem Abwägen als vernünftig erscheint?

Wenn man die Frage in einem politisch-historischen Kontext stellt, kann einem vielleicht der 100-Jahres-Test helfen – etwas, das auch bei Timothy Snyder in seinem wichtigen und hörenswerten Interview aufscheint. Snyder zufolge wird der Ukrainekrieg auch in 100 Jahren noch im sozialen Gedächtnis sein. Corona wird dagegen wohl, wie heute die „Spanische Grippe“, halb in Vergessenheit geraten sein.

Als zweites aktuelles Thema und in etwas unschärferer Form käme wohl die (dann gelungene oder auch nicht gelungene …) Klimawende als ökologisches Reformwerk in Betracht – in etwa so, wie wir uns heute an die Bismarckschen Sozialgesetze erinnern, den Beginn eines Reformwerks, das die großen sozialen Herausforderungen der Industriegesellschaft anging.

Wenn man im Chaos von politischen Fakten, Fakes und Aufmerksamkeitsgeilheit halbwegs klaren Kopf behalten will, kann ein solch hypothetischer Rückblick (Futur II: „Es wird wichtig gewesen sein“) für die Erkenntnis dessen, was tatsächlich wichtig ist, sehr wichtig sein.

Ein Russland, das sich die Ergebnisse seines Ukrainekriegs dauerhaft als „Erfolg“ einreden kann, würde Ostmitteleuropa und damit dem ganzen Europäischen Projekt ein unruhiges und gefährliches 21. Jahrhundert bescheren. Hier geht es um die Zukunft Europas auf viele Jahrzehnte hinaus.

Was die Möglichkeit einer scheiternden Klimawende angeht, so wäre deren Relevanz wohl nicht nur auf einer 100-Jahres-Skala und nicht nur für Europa relevant – das wäre dann wohl globaler „Skalensprung“.

Klima und Ukraine – das sind allem Anschein nach die beiden politisch-historischen Großrelevanzen hier und heute für uns. Über sie sollten wir mehr nachdenken als über anderes.

Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

2 Kommentare

  1. Reinhard Olschanski

    Martin Böttger glaubt in seiner Anmoderation zu diesem Text nicht so recht an meine These von der „halben Vergessenheit“ der sog. „Spanischen Grippe“. Bei genauerem Nachdenken würde ich sogar noch auf „Dreiviertel-Vergessenheit“ steigern – spezielle fachliche Communities ausgenommen. Ich wäre sehr dafür, möglichst viel aus Corona zu lernen und sich dafür auch die Pandemie von vor hundert Jahren stärker in Erinnerung zu rufen. In Baden-Württemberg hat man damit angefangen:

    „Im Oktober 2019 wurde in Wiesloch (Baden-Württemberg) das erste in Deutschland errichtete Denkmal zur Erinnerung an die Spanische Grippe enthüllt. Im Mittelpunkt steht der alte Grabstein des Opfers Anna Katharina Ritzhaupt, die 1918 im Alter von 24 Jahren verstarb.“

  2. Martin Böttger

    Der Autor meint mit “Anmoderation” meinerseits diesen Newsletter, den Abonnent*inn*en (nahezu) täglich erhalten:
    https://extradienst.net/2023/03/19/vergleich/
    Dort habe ich zunächst nur mich betreffend zur unvergessenen “Spanischen Grippe” geschrieben. Der recht umfangreiche Wikipedia-Eintrag
    https://de.wikipedia.org/wiki/Spanische_Grippe
    der, wie dort üblich, inhaltlich umkämpft sein dürfte, spricht in seinem Umfang immerhin für organisierte Erinnerungsarbeit. Inwieweit das auch popularisiert ist, weiss ich nicht. Hat das mal jemand untersucht?

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