Die Blindheit des Westens und wie andere die Zukunft sehen – “Westlessness” und Folgen
“We were used to an international order that had been based on Western hegemony since the 18th century […]. Things change …”
Übersetzung: Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die seit dem 18. Jahrhundert auf westlicher Hegemonie beruhte. Die Dinge ändern sich … (E. Macron, 2019, zitiert im Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz zu “Westlessness”, 2020)
Diese Hegemonie geht zu Ende. Das geschieht nicht freiwillig, nicht ohne Gegenwehr. Es ist auch noch nicht ausgemacht, ob der Kampf am Ende nicht militärisch ausgetragen wird, bis zum letzten Menschen. Derzeit wird er hauptsächlich politisch, wirtschaftlich und kommunikativ geführt und „nur“ stellvertretend und kriegerisch auf dem Territorium der Ukraine.
Der vereinte Westen ist von der Meinung der restlichen Weltbevölkerung getrennt.
Der sogenannte „Zeitgeist“ spürt die Veränderungen. Im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) befragten Yougov und Gallup im Dezember 22 / Januar 23 weltweit Menschen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, aus 9 EU-Ländern, aus Russland, China, Indien und der Türkei unter dem Titel „Öffentliche Meinung zum Ukraine-Krieg“. Die Ergebnisse präsentierte ECFR unter dem Titel: Der vereinte Westen ist von der Meinung der restlichen Weltbevölkerung getrennt.
Der Titel fasste die Umfrageergebnisse sehr gut zusammen – wie die Bevölkerung im Westen den Krieg wahrnimmt und was sie dazu denkt, unterschied sich in vielem diametral zu dem, was in Indien, China oder Russland gedacht wurde.
Aber diese Umfrage enthielt auch einige sehr interessanten Fragen, die nicht auf den Ukraine-Krieg fokussiert waren. Eine Frage drehte sich um die Vorstellung, wie die Welt in zehn Jahren aussehen würde. Darunter: Würden die USA weiter der globale Hegemon sein? Kommt es zu einer multipolaren Weltordnung? Ist mit einer Blockkonfrontation von zwei rivalisierenden Mächten zu rechnen? „Weiß nicht“ stand ebenfalls zur Auswahl. Die Mehrheit der Befragten aus den westlichen Ländern wählte diese Antwort.
Das unterschied sie am deutlichsten von den öffentlichen Antworten aus Russland, China, der Türkei und Indien. Die waren sich sehr viel sicherer: Eine multipolare Welt ist im Anmarsch, gefolgt – aber mit geringerer Zustimmung – von der Annahme einer bipolaren Ordnung. Die allerwenigsten Befragten im Westen (zwischen 4 und 9 Prozent) glaubten an eine US-Hegemonie. So sahen das auch die Befragten aus Russland und China. In der Türkei dachten das 18 Prozent. Nur in Indien glaubten beachtliche 31 Prozent weiter an eine US-Hegemonie. An den Ersatz eines Hegemonen durch einen anderen (China) glaubten ebenfalls nur Minderheiten. Nur in China war dieser Prozentsatz überhaupt signifikant.
Eine weitere Frage befasste sich mit den (wieder) aufstrebenden Mächten Türkei und Indien. Welche Länder sah die Bevölkerung dort als Freund oder als strategischen Partner an bzw. als Rivale oder gar konfliktbelasteten Gegner? Umgekehrt wurden alle anderen befragt, welche Einschätzung dort gegenüber den beiden Staaten vorherrschte. Eine klare Mehrheit in Indien sah mit Ausnahme von China alle anderen Länder entweder als Verbündeten oder als Partner an. An der Spitze stand Russland (51 Prozent), gefolgt von den USA (47 Prozent). China dagegen wurde mehrheitlich entweder als Rivale oder als Gegner wahrgenommen. Gegenüber der Türkei bestand eine gewisse Reserviertheit.
Regelrecht entlarvend war dagegen der Blick der anderen Teilnehmer der Umfrage auf Indien. In Russland waren 80 Prozent davon überzeugt, dass Indien ein Alliierter bzw. ein strategischer Partner sei. Auch in den USA und Großbritannien teilte eine Mehrheit diese Meinung. In China dominiert das Gefühl der Rivalität und der Feindschaft knapp (50 Prozent). Aber immerhin waren in China gute 45 Prozent davon überzeugt, Indien wäre ein Freund / Partner. In der EU9 waren es lediglich 36 Prozent, während 50 Prozent überhaupt nicht wussten, was sie von Indien halten sollten.
Ähnlich hilflos (aus westlicher Sicht) sah das Bild im Verhältnis zur Türkei aus. Mit eindeutigen Mehrheiten betrachteten die türkischen Befragten die EU, Russland, die USA und China als Freund oder strategischen Partner. Eine relative Mehrheit stimmte dem auch in Bezug auf Großbritannien und Indien zu, wobei bei beiden Ländern auch große Fragezeichen existierten und sich die Türken nicht sicher waren, was sie glauben sollten („weiß nicht“ zwischen 27 und 36 Prozent). Eine starke Minderheit dort hielt China für einen Rivalen (31 Prozent). Ein starkes Feindbild bestand in der Türkei überhaupt nicht. Wenn, dann sagten maximal 11 Prozent überhaupt, sie betrachteten ein anderes Land als Feind (in dem Fall: USA).Umgekehrt zeigte der Blick anderer auf die Türkei, dass Befragte in Russland, China und Indien die Türkei mit großer Mehrheit als Freund/ strategischen Partner wahrnahmen. Dagegen wußte eine Mehrheit in den USA, Großbritannien und der EU9 nicht, was sie antworten sollte (zwischen 41 und 50 Prozent). Eine starke Minderheit (zwischen 37 und 39 Prozent) tendierte allerdings in den genannten drei Ländern zur Auffassung, die Türkei wäre ein Freund / Partner.
Grosse blinde Flecken
So enthüllte die Umfrage nicht nur, dass es ganz fundamentale Unterschiede bei der Beurteilung des aktuellen Krieges, den Modalitäten seiner Beendung und der Rolle Russlands in der Welt gibt. Sie zeigte auch die großen blinden Flecken im öffentlichen Bewusstsein des Westens, ob es nun um die Entwicklungsrichtung der nächsten zehn Jahre geht oder darum, was man von aufstrebenden Staaten wie Indien und der Türkei halten soll. Das kommt nicht von ungefähr. Es ist das Resultat einer mehr oder weniger unkritischen westlichen Selbstbespiegelung, die in Wahrnehmungsverlusten endet, wie dramatisch sich die Welt ändert.
Wer hätte vor einem Jahr oder zwei für möglich gehalten, dass sich Russland und China als erfolgreiche Vermittler einer Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien erweisen würden? Bisher sahen sich die USA als Gestaltungsmacht in diesem Raum, mit einer politischen Strategie, die auf die Isolation des Iran zielt (Krieg nicht ausgeschlossen). Was China schließlich zuwege brachte, folgt einem ganz anderen, kooperativen Ansatz und respektiert die Interessen in der Region, weil sie auch chinesischen Interessen genügen. In einer sehr ausführlichen ersten Bewertung des Deals schrieben die Autorinnen in Foreign Policy kürzlich:
“Washington has also been slow to realize that Saudi Arabia sees itself not as a security vassal of the United States but as a regional power capable of playing an independent role in world politics.”
Eigene Übersetzung:
„Washington war zu langsam, zu erkennen, dass Saudi-Arabien sich nicht als Sicherheitsvasall der Vereinigten Staaten sieht, sondern als regionale Macht, die in der Lage ist, eine unabhängige Rolle in der Weltpolitik zu spielen.“
Selbstverständlich ist offen, wie belastbar das Band ist, das gerade durch China geknüpft wurde, aber es markiert eine geopolitische Veränderung. Könnte das den furchtbaren Krieg im Jemen beenden? Hat das Auswirkungen auf den Libanon? Und nicht zuletzt, was bedeutet das für Israel?
Zeitenwende zwischen Russland und China
Oder nehmen wir das jüngste Treffen von Putin und Xi in Moskau. Auch im Verhältnis zwischen China und Russland hat es eine „Zeitenwende“ gegeben. Die stellte sich nicht abrupt ein, sondern war das Ergebnis vieler kleiner Schritte, bei denen beide Länder den Ballast der Konflikte zwischen ihnen abwarfen.
Aber am Ausgangspunkt aller Kooperation stand eine Interessenidentität, die in einem chinesischen Papier zur Kooperationsinitiative RIC (Russland, China, Indien, seit 1996), das die Stiftung Wissenschaft und Politik 2017 publizierte, aufschien: Das Gefühl, in der von den USA dominierten Weltordnung nicht ausreichend berücksichtigt zu werden. (Auch Indien teilt das Gefühl.)
Nun wurde in Moskau die ambitionierte Agenda der Zusammenarbeit bekräftigt, die 2022 beschlossen wurde. Neu ist, dass Russland dem Grundansatz des chinesischen Friedensplans zustimmte.
Statt das Gesagte sorgfältig zu analysieren und zu diskutieren, fiel dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, dem früheren sicherheitspolitischen Berater der Bundeskanzlerin, nichts weiter ein, als vom „Koch und vom Kellner“ zu reden. Ist das so, oder ist das nur so in den Köpfen derer, die ein Kellner-Koch-Verhältnis verinnerlicht haben?
Wer nichts begreift, hat nichts entgegenzusetzen
China und Russland sind angetreten, ein Beispiel zu geben, wie sich Beziehungen zwischen Staaten auch organisieren lassen. Sie verkehren auf Augenhöhe. Selbstverständlich ist das Teil ihrer politischen Ambitionen. Wer diese Strategie nicht begreift, begreift nichts und hat ihr auch nichts entgegenzusetzen.
Schon vor dem Moskauer Treffen erhielt der Plan Chinas, wie man Frieden in der Ukraine schaffen könnte, nicht die nötige politische Aufmerksamkeit. Denn dort lugte eine Akzeptanz russischer Sicherheitsbedürfnisse hervor, die vom Westen (wenn überhaupt) als Paranoia abqualifiziert wird. Selbstverständlich lautete die umgehende Warnung Washingtons vor dem Treffen: Einen Waffenstillstand wird es mit uns nicht geben. Der legitimiere nur die russischen Territorialgewinne und gäbe den Russen die Zeit, sich von der Kriegsführung zu erholen. Dass die andere kriegsführende Partei auch eine Atempause erhielte und zunächst das unerträgliche Sterben auf Stopp gestellt würde, war Washington keine Überlegung wert. Denn dort gilt weiter die Devise: Solange die Ukrainer für uns kämpfen und kein amerikanisches Blut vergossen werden muss, ist dem US-Interesse gedient. Mitt Romney, der republikanische Senator, blieb bei weitem nicht der Einzige, der das so deutlich formulierte.
Das jüngste Einschwenken Moskaus auf den chinesischen Friedensplan ist allerdings nicht von Wert, denn die Strategie des Westens lautet, mit einem Aggressor wird nicht verhandelt. Der kann sich nur zurückziehen. Das ist exakt das, was die USA im Irak, bzw. Großbritannien, Frankreich und die USA in Libyen gemacht haben. Sie haben sich zurückgezogen, nachdem sie dort maximalen Schaden anrichteten. In Syrien okkupiert die US-Armee immer noch den besten Teil des Landes, obwohl sie niemand dazu einlud. Die (westliche) Welt schaut darüber hinweg. Der Mensch macht eben „Fehler“. Die restliche, nicht westliche Welt hat nichts vergessen.
Das ist das große Problem, das der Westen hat: Nirgendwo ist irgendetwas vergessen.
Die Mehrheit auf der Welt weiß: Völkerrechtswidrig ist völkerrechtswidrig. Deshalb verurteilt eine Staatenmehrheit auch den völkerrechtswidrigen Einstieg Russlands in den ukrainischen Bürgerkrieg. Aber sie stimmt nicht mit dem westlich / ukrainischen Rezept für Frieden überein. Sie stimmt nicht mit der Interpretation überein, dass an allem nur Putin schuld sei, wenn beispielsweise EU-Staaten nun auf dem globalen Erdgasmarkt wildern. Diese Menschenmehrheit weiß auch, Russland ist weder der einzige Aggressor der Welt noch der schlimmste.
Wenn wir das alles nicht fix begreifen, stehen wir nicht nur in der Ukraine militärisch mit dem Rücken an der Wand, sondern isolieren uns. Macron hatte 2019 recht: Die Welt litt unter westlicher Hegemonie, was damals politisch nichts bedeutete für die, die herrschten. Aber es ist im Bewusstsein der Opfer verankert.
Man kann es immer nur wiederholen
Täter haben ein kurzes Gedächtnis, Opfer ein sehr langes.
Aber das, und damit sei für heute abgeschlossen, gilt auch für alles, was mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat: Nichts davon ist vorläufig. Auch davon ist nichts vergessen: Nicht die Gründe, die im Krieg explodierten, nicht die Erinnerung an das Leiden im Donbass oder nun auch das ukrainische Leiden seit der russischen Aggression. Das wird, egal was heute erzählt wird, die europäische Geschichte auf Jahrzehnte beeinflussen. Wenn wir es falsch machen, landen wir nach den Schützengräben des Ersten oder Zweiten Weltkriegs in denen des Dritten.
Die westliche Hoffnung ist, Russland werde einknicken, entweder militärisch, wirtschaftlich oder politisch. Einen Plan B gibt es nicht. Und wenn das nicht passiert? Wir haben schon Probleme, was die adäquate Wahrnehmung betrifft, wie die Welt um uns herum denkt, oder wie die Sanktionen wirken und wen sie tatsächlich nachhaltig schädigen. Wieso glauben wir, wir hätten eine korrekte Widerspiegelung dessen, was gerade im unsäglichen Krieg in der Ukraine passiert?
Jetzt will Großbritannien extrem wirksame Uran-Munition liefern. Der militärische Wert steht außer Frage – sie knackt Panzer. Aber wie ist es um die Gesundheits- und Umweltfolgen bestellt? Ist das alles nur russische Desinformation oder wissenschaftlich umstritten? Hat niemand die Initiative zur Kenntnis genommen, diese Munition zu ächten? Die hatte mit Putin nichts zu tun.
Hat sich schon mal eine/r der deutschen Journalisten (oder Politiker) die Bilder der missgebildeten Neugeborenen in Falludjah angeschaut? Sie sind entsetzlich. Kommt diese Munition in die Ukraine, wäre nach dem Irak und dem Kosovo ein weiteres Stück Erde und weitere Menschen zu einem Schicksal verdammt, das wir nicht einmal unserem schlimmsten Feind an den Hals wünschen dürften, es sei denn, wir wären Monster.
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