Ukraine-Konflikt: Die Bundesregierung braucht endlich eine klare Strategie – Was möchte die Bundesregierung in der Ukraine erreichen? Unsere Autoren plädieren für eine ernsthafte außenpolitische Strategiedebatte.
Die Deutschen seien „auf dem Weg zu einer Form von Verantwortung, die wir noch wenig eingeübt haben.“ So kündigte der damalige Bundespräsident Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 einen Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Kurz darauf annektierte Russland die Krim. Neun Jahre und eine russische Vollinvasion später fiel die für die Münchner Sicherheitskonferenz 2023 angekündigte Präsentation der nationalen Sicherheitsstrategie aus, die den neuen Verantwortungsbegriff mit Substanz füllen könnte. Die im Ampel-Koalitionsvertrag vereinbARTE Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates – abgesagt.
Weite Teile der politischen Spitze Deutschlands verweigern sich einer ernsthaften außenpolitischen Strategiedebatte jener Art, wie sie in traditionell „militanteren“ westlichen Demokratien (USA, Frankreich) völlig normal ist. Mit Deutschlands Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die Achsen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bereits verschoben: Die Militanz wird massiv gesteigert (Waffenlieferungen ins ukrainische Kriegsgebiet, militärische Aufrüstung), während die Strategie (welche Ziele will Deutschland mit welchen Mitteln erreichen?) fehlt.
Grund für diese Schieflage: Für die meisten in der sicherheitspolitischen Think-Tank-Bubble Berlins war auch ohne Strategie klar, für welche Mittel die Stunde der Zeitenwende geschlagen hat. Über die militante Stoßrichtung herrschte Einigkeit. Seit über einem Jahrzehnt drängte man, deutlich mehr Ressourcen ins Militär zu stecken und harte Kante zu zeigen gegenüber Russland und China.
Dass eine Kultur der militärischen Zurückhaltung in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung äußerst populär war, war in diesem Weltbild schon lange ein Störfaktor. 100 Milliarden Sondervermögen und jährlich 2% des BIPs für die Bundeswehr sind ein Triumph. Statt zuerst die politischen Ziele zu definieren und dann die erforderlichen Mittel davon abzuleiten, fallen Mittel und Zweck in einem doppelten Wumms zusammen: Deutschland muss Waffen liefern und aufrüsten. Hohe außenpolitische Militanz, geringe strategische Kompetenz.
Diese Mischung kann außenpolitisch noch größeren Schaden anrichten als „Wandel durch Handel“ mit autoritären Regimen. Was fehlt: eine Unterscheidung zwischen Positionen und Interessen, Zielen und Mitteln; eine nüchterne Erörterung der eigenen Möglichkeiten zur Umsetzung; eine Abstufung in kurz-, mittel- und langfristige Phasen; eine vorbehaltlose Erörterung verschiedener Handlungsoptionen. Dieses Defizit wird besonders deutlich, wenn man aus den USA und Frankreich auf die deutschen Debatten blickt. Jenseits des Atlantiks und Rheins führt man die Ukraine-Diskussion sachlicher und im Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten und Interessen.
Ein Beispiel: In der deutschen öffentlichen Debatte werden die Interessen der ukrainischen Regierung (maximale externe Unterstützung, idealerweise direkte Beteiligung der NATO, Rückeroberung der Krim) kaum von jenen der EU (Russland stoppen, EU stärken, keine Ausweitung des Krieges, Energiesicherheit), Deutschlands (Wahrung und Ausbau der eigenen Verteidigungsfähigkeit, stabile und eigenständige europäische Sicherheitsordnung), der USA (globale Hegemonie wahren, Russland schwächen, Europa geopolitisch binden auch gegen China), und der internationalen Staatengemeinschaft (Deeskalation, kein Nukleareinsatz, keine Nahrungsmittelkrise) unterschieden.
Rationale Konfliktanalyse
Bestimmte Handlungsoptionen werden prinzipiell ausgeschlossen. Forderungen nach Verhandlungen mit Russland zum Beispiel werden von vornherein diskreditiert, obwohl es Verhandlungen waren, die oft zur Verbesserung der Situation vor Ort und Eindämmung der internationalen Auswirkungen beigetragen haben, wie etwa das von den UN und der Türkei ausgehandelte Getreideabkommen, das Krisenmanagement zu Kaliningrad, die beim G20-Gipfel und Scholz-China-Besuch geschmiedete Anti-Atomkriegskoalition oder die Inspektionen der IAEA in Saporischschja.
Geradezu besessen sind die Deutschen je nach Kriegsverlauf auf ein einziges Mittel fixiert (schwere Waffen! Leopard! Kampfflugzeuge!), politische Ziele und Realitätscheck Fehlanzeige. Positionen (wer will was?), Interessen (warum will die andere Seite das?), und Mittel (wie erreichen wir unser Ziel am besten?), die für eine rationale Konfliktanalyse und Strategieentwicklung streng voneinander getrennt werden müssen, sind in der deutschen Debatte miteinander verschmolzen.
Entsprechend spielen voneinander unterschiedene Interessen bei der Definition der eigenen Ziele und Begründung der Strategie und Mittelwahl eine untergeordnete Rolle. An deren Stelle treten abstrakte moralische und normative Bekenntnisse, hysterische Empörung und emotionaler Druck. Selbst wer Waffenlieferungen nicht grundsätzlich ablehnt, sondern deren Zielsetzung, strategische Einbettung, Auswirkungen, und Skalierung abwägen will, muss mit dem Vorwurf rechnen, schwach gegenüber Russland aufzutreten oder Putins Handlanger zu sein.
Dabei ist gewiss, dass Waffenlieferungen ohne politische Initiative den Krieg und das Leiden verlängern und ungewiss, ob sich dies am Ende für die Ukrainerinnen und Ukrainer auszahlt – ganz zu schweigen vom Risiko vertikaler oder horizontaler Konflikteskalation, wie es in nüchterner Fachterminologie heißt. Aber Kriegsromantik duldet keine strategische Analyse und Diskussion.
Zum Glück hält in den USA mit Biden, Blinken und Austin (noch) eine strategiefähige und Europa zugewandte US-Regierung das Zepter in der Hand. In der Heimat von Clausewitz will man hingegen in einem Krieg zwischen zwei Staaten (darunter eine angriffskriegsführende Nuklearmacht) durch Waffenlieferungen und Sanktionen klar Partei ergreifen, weigert sich aber, Militär und Politik zusammenzudenken.
Schwarz-weiß Rhetorik dominiert
Clausewitz’ empirisch fundierte Analyse des Krieges und seiner zu Extremen neigenden Wechselwirkungen, seine Erkenntnis des Primats der Politik und dessen Bedeutung und Fragilität in der Eskalationsdynamik prägen bis heute das strategische und militärische Denken der Großmacht USA. Die differenzierte Entlarvung des Krieges als sich wandelndes Chamäleon, als unsicheres Spiel mit Wahrscheinlichkeiten in einem vielschichtigen Kontext gehört auch in Frankreich zu den Grundlagen der Ausbildung militärischer Führungskräfte.
Bei der Ausarbeitung der eigenen nationalen Sicherheitsstrategie ist Deutschland offenbar nicht mehr in der Lage, an dieses geistesgeschichtliche Erbe anzuknüpfen. Stattdessen dominiert Schwarz-Weiß-Rhetorik, das Ausrufen eines Kampfes zwischen Gut und Böse, und das Ausradieren von Nuancen und Zwischentönen. Kurioserweise ähnelt diese einfältige deutsche Verschmelzung von Militanz und Moral der ebenso impulsiven wie wenig strategischen Kreuzzugsrhetorik von George W. Bush und amerikanischer Neokonservativer: „Entweder sind Sie auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen.“
Weil wir gegen das Böse kämpfen, ist Skepsis Verrat. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht um eine simple Gegenüberstellung wertegeleiteter Außenpolitik und pragmatischer Realpolitik. Sondern darum, den deutschen Bürgerinnen und Bürgern zuzutrauen, Zielkonflikte zu verstehen und Prioritäten deutscher Außenpolitik in einem ehrlichen Diskurs ohne Tabus und emotionale Erpressung öffentlich abzuwägen.
So ist es eine plausible These, dass eine Kultur der militärischen Zurückhaltung mit einer neuen Weltordnung, in der aggressive Großmächte militärisch um Einflusszonen ringen, nicht mehr vereinbar sei. Wenn aber jene militärische Zurückhaltung durch moralisierende Kriegsromantik ohne Sinn und Verstand ersetzt wird, richtet sich die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zwangsläufig nach dem Kompass jener aus, die strategischer und damit weitsichtiger vorgehen.
Gerade wer den Ukrainerinnen und Ukrainern langfristig helfen will, kann dies nicht wollen, sondern muss über die jetzige Kriegsphase hinausschauen. Die USA sind hier weiter: Jüngst legte die von der US-Regierung mitfinanzierte RAND Corporation eine Studie vor, die argumentiert, dass ein sich endlos in die Länge ziehender Ukraine-Krieg nicht im Interesse der Vereinigten Staaten sei. Hierauf aufbauend werden Handlungsoptionen entwickelt.
Zum Thema Verhandlungslösung nennt der Bericht offen die Möglichkeit, der russischen Regierung das Aufheben westlicher Sanktionen in Aussicht zu stellen, falls Moskau sich ernsthaft auf ein Friedensabkommen mit Kiew einlässt. In der deutschen Debatte würde ein solcher Vorschlag vermutlich mit einem Strohmann-Argument („Soll die Ukraine etwa kapitulieren?“) vom Tisch gewischt.
Strategische Kompetenz zeichnet sich unter anderem dadurch aus, über Widersprüche hinauszudenken und neue Handlungsoptionen zu generieren. Waffenlieferungen an die Ukraine und mehr diplomatischer Einsatz für eine Verhandlungslösung schließen sich nicht gegenseitig aus. Man kann auch beides gleichzeitig machen. Und bevor man dies tut, sollte die Bundesrepublik klären, was genau man in der Ukraine erreichen will. Ansonsten schaffen die USA früher oder später neue Fakten, und Kiew, Berlin, und Brüssel bleibt nichts anderes übrig, als den „Deal“ aus Washington abzunicken und auf der nächsten Münchener Sicherheitskonferenz die politische Nachlese zu moderieren.
Dr. Arvid Bell ist Lehrbeauftragter an der Harvard Universität in den USA und Direktor der Verhandlungs-Taskforce am dortigen Davis Center für Russische und Eurasische Studien. Sascha Hach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), lehrt an der Universität der Bundeswehr in München, und ist Gastforscher bei der Fondation pour la Recherche Stratégique (FRS) in Paris.
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