Darf dem Bundeskanzler widersprochen werden? Ja, natürlich. Journalisten tun es. Und Kritik an Olaf Scholz kommt – pflichtgemäß – auch aus den Reihen der breit gefächerten Opposition. Doch was in den vergangenen Wochen zu registrieren war, ist ein neues Element im deutschen Regierungssystem. Kritik am Kanzler kommt aus der eigenen Koalition und sogar aus dem Bundeskabinett. Führungsschwäche, Führungsstil, Koordinationsmängel und mangelnde Kommunikation sind die Stichworte. Manche halten sich dabei nicht einmal damit auf, in allgemeiner Form auf das Bundeskanzleramt zu zielen oder als Sündenbock den Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt ins Visier zu nehmen. Den Bundeskanzler selbst, Olaf Scholz, nennen sie. Höchstpersönlich.
Alles schon einmal dagewesen? „Der Herr Bundeskanzler badet gerne lau; so in einem Schaumbad.“ Ein Satz wie eine Bombe war es, den Herbert Wehner, der mächtige SPD-Fraktionsvorsitzende, 1973 abends bei einem Besuch in Moskau vor Journalisten zündete. Willy Brandt war gemeint, Bundeskanzler und SPD-Vorsitzender. Seine Autorität war unterminiert. Ein halbes Jahr später trat er zurück. In Erinnerung ist auch der Silvesterknaller von Alexander Dobrindt (CSU) vom Januar 2016, als er – damals noch Bundesverkehrsminister – über Angela Merkels Flüchtlingspolitik zum Besten gab: „Es reicht jetzt aber nicht mehr aus, der Welt ein freundliches Gesicht zu zeigen.“ Doch das waren Einzelfälle und Ausnahmen.
Schleichend hatte es begonnen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Toni Hofreiter (Grüne) und Michael Roth (SPD), Vorsitzende dreier Bundestagsauschüsse, bemängelten die Zurückhaltung des Kanzlers in Sachen Waffenhilfe für die Ukraine – und wurden damit gefragte Talkshowgäste und Interviewpartner. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ermahnte von Usbekistan aus den Bundeskanzler, er möge sich bei seinem Antrittsbesuch in Peking an die Maßgaben halten, die im Koalitionsvertrag zu den deutsch-chinesischen Beziehungen festgelegt worden seien. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) warnte in einem Rundumschlag in den ARD-Tagesthemen, dass die Regierung ihr Vertrauen verspiele, was kein Vorwurf sei, sondern eine „strukturelle Beschreibung“. Winfried Kretschmann (Grüne), regierungs- und koalitionserfahrener Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spitzte mit Blick auf die nächtlichen Koalitionsgespräche in Berlin zu: „19-Stunden-Sitzungen zu machen, finde ich schon ein Zeichen von Führungsschwäche des Kanzlers.“ Ein alter grüner Fahrensmann jedoch, dem mangelndes Selbstbewusstsein nicht unterstellt werden sollte, hatte so etwas öffentlich nie getan: Joschka Fischer, Gerhard Schröders Vizekanzler und Außenminister. Fischers Begründung: „Ich habe einen Höllenrespekt vor seinem Amt. Da laufen alle Kraftlinien dieser Republik zusammen.“ Schröder allerdings hatte auch Vorsorge dagegen getroffen: Durch Führung und interne Kommunikation.
Verwunderlich wäre es, wenn letzthin die kommunikativen Vorspiele zu jener 30 Stunden langen vorösterlichen Sitzung der Ampelparteien nicht zu deren Dauer beigetragen hätten, wenngleich – wie zum Vertrauensbeweis unter den Partnern – keine Zitate aus den Verhandlungen herausdrangen. Doch sei eine Prognose gewagt: Irgendwann werden Protokollauszüge auch dieser Koalitionsgespräche an einige Medien „durchgestochen“ – wenn Zeit und Umstände danach sind.
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