Die Ausstellung „Überlebenswege“ im August Bebel Institut zeigt nicht nur „Zeugnisse über den Völkermord an den Armenier*innen“, sondern erinnert auch an den Anteil der nach Griechenland geflohenen Ar­me­nie­r*in­nen am antifaschistischen Widerstand in Athen

Ein verbeulter Löffel, an der Spitze etwas abgekaut, am Stiel­ende trägt er die Prägung des deutschen Reichsadlers, der in seinen Fängen ein Hakenkreuz hält. Viel mehr erinnert nicht an Krikor Tschilingirian. Der 1897 in Cerrah in der Region Bursa geborene Mann gehörte zu den vielen Flüchtlingen, die 1922 ihre Heimat in Richtung Griechenland verließen. Nach dem Sieg Atatürks im Türkisch-Griechischen Krieg flohen nicht nur türkische Griechen, sondern auch die letzten Armenier:innen, die den Völkermord im Osmanischen Reich überlebt hatten, nach Westen.

Tschilingirian ließ sich im Athener Stadtviertel Dourgouti nieder, heiratete, gründete eine Familie. Im Februar 1944 umstellten die Nazis und griechische Milizen das Viertel im Zuge einer „Blocco“ genannten Strafmaßnahme. Über den Umweg des KZ Chaidari in Griechenland landete der Migrant als Zwangsarbeiter in einem unbekannten Ort in Deutschland. Den Löffel, den er während seiner Gefangenschaft täglich benutzte, brachte er bei seiner Rückkehr nach Athen mit.

Ein Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1936 zeigt Krikor Tschilingirian mit seiner zweiten Frau Yeghisapet in Athen. Beide starben 1979 in der griechischen Hauptstadt. Zwei Söhne hatten sich dem Widerstand gegen die Nazis in Griechenland angeschlossen. Krikors Enkel Mike fungiert heute als Herausgeber der Athener Zeitschrift Armenika und ist Mitinitiator der jüngsten Ausstellung des SPD-nahen August Bebel Instituts, in dessen Galerie die Zeugnisse der Existenz von Mikes Großvater derzeit zu sehen sind.

Der 24. April, der Tag der Razzien gegen armenische Intellektuelle im damaligen Konstantinopel und ihre Deportation in Lager in Ankara, markiert den Beginn des Genozids. Am Vorabend der 108. Wiederkehr dieses Datums will die Ausstellung „Überlebenswege“ mit exemplarischen Einzelschicksalen an ein wenig beachtetes Kapitel dieses dunklen Teils der türkischen Geschichte erinnern: an die armenischen Flüchtlinge, die nach Griechenland gingen.

In knapp zehn Kapiteln beleuchtet Kurator Vahé Tachjian solche Schicksale. Eine karierte braune Decke erinnert beispielsweise an Misak Misakians Deportation in das KZ Geislingen. Eine alte, schwarz-weiße Stadtansicht zeigt das Häusergewirr des Athener Viertels Dourgouti – wiederholt Schauplatz drakonischer Strafaktionen der Nazis.

Weithin unbekannt ist der Beitrag der nach Griechenland geflüchteten Armenier zum antifaschistischen Widerstand im Land. Das zeigt das Faksimile der Tageszeitung Nor Gynak (Neues Leben). Das Blatt der armenischen Kommunisten listete die Namen der armenischen Kämpfer auf, die sich der Nationalen Befreiungsfront (EAM) angeschlossen hatten und oft in Konzentrationslagern umkamen.

Schöpfen für die Schau kann der aus dem Libanon stammende Geschichtswissenschaftler Tachjian aus den Archiven des Erinnerungsprojekts „Houshamadyan“. Der 2010 gegründete Verein rekonstruiert die Erinnerung an das armenische Leben im Osmanischen Reich. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) förderte sein Ausstellungsprojekt.

Für die Rituale des bevorstehenden Erinnerungstages sind symbolische Gedenkstätten wichtig. Die drei „Altäre der Erinnerung“, die Teil einer 2015 auf dem Charlottenburger Luisenfriedhof eröffneten Gedenkstätte für die Genozid-Opfer im Osmanischen Reich sind, sind der Erinnerung an das Schicksal der Armenier-, Griech- und Ara­mäe­r:in­nen gewidmet.

In knapp zehn Kapiteln beleuchtet Kurator Vahé Tachjian Schicksale zweifacher Vertreibung

Die gut recherchierte Ausstellung im ABI nun ist ein eindrucksvoller Beleg für die Bedeutung der „Mikrogeschichte“ bei der Aufarbeitung der historischen Großthemen Faschismus und Widerstand, Flucht und Vertreibung. Sie fügt der Reparationendebatte zwischen Griechenland und Deutschland zudem einen neuen Aspekt hinzu.

Dass diese Archivschau nicht verstaubt daherkommt, ist der Künstlerin Silvina Der-Meguerditchian zu verdanken, selbst Enkelin armenischer Flüchtlinge aus der Türkei. Sie hat das Material so inszeniert, dass die einzelnen Schicksale greifbar werden. Wer in einen der aufgefächerten Archivordner greift, zieht etwa ein Gruppenfoto heraus, das Manuel Savulian im Kreis der Armenischen Revolutionären Föderation von Athen zeigt.

Von Der-Meguerditchian stammt auch das einzige Kunstwerk der Ausstellung. Auf einem überlangen weißen Hemd hat sie an die Stellen, an der sich Staatsmänner gern blitzende Medaillen heften, leere weiße Gipsfünfecke aufgebracht – Embleme der Leiden und Leistungen der Helden des historischen Alltags.

„Überlebenswege“. Griechisch-armenische Zeugnisse über den Völkermord an den Armenier*innen, die Gräueltaten der Nazis und das Überleben. ABI – August Bebel Institut. Berlin-Wedding, www.houshamadyan.org. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).