Die materiellen Grundlagen politischer Phänomene
Glaubt man den großen Meinungsmedien, befindet sich die Welt seit der Jahrtausendwende in einer Epoche des Populismus. In Europa haben rechtspopulistische Parteien an Stärke und Einfluss gewonnen. In Lateinamerika stellten und stellen Links- und Rechtspopulist*inn*en in vielen Ländern die Regierungen. Politiker*innen unterschiedlicher Couleur werfen ihren Kritiker*inne*n gerne vor, mit populistischen Parolen zu operieren. Dabei weisen diejenigen, die den Begriff Populismus verwenden, durchaus darauf hin, dass er unscharf sei. Aber vielleicht macht genau das seinen Reiz aus.
Zwei Deutsche und zwei Venezolaner. Wer gilt als was und warum? Franz-Josef Strauß war ein heterosexueller deutscher Politiker, der Tausende von Leuten zu Veranstaltungen mobilisieren, dort ein rhetorisches Feuerwerk gegen Linke („Ratten und Schmeißfliegen“), Homosexuelle („Ich will lieber ein kalter Krieger sein als ein warmer Bruder.“) und andere Minoritäten abschießen und seine konservative Klientel so richtig im Wallung bringen konnte. Alice Weidel ist eine in einer binationalen Partnerschaft lebende homosexuelle deutsche Politikerin, die am liebsten öffentlichkeitswirksam beleidigt ist. Rhetorisch reißt sie niemanden vom Hocker, vor allem nicht ihre rechte Klientel. Franz-Josef Strauß galt als guter Demokrat, war Vorsitzender der CSU, einer Partei, die sich selbst in der politischen Mitte verortet, war bayrischer Ministerpräsident und emsiger Förderer der deutschen Rüstungs- und Luftfahrtindustrie. Alice Weidel ist Bundessprecherin der rechtsextremen AFD, die medial gerne als „rechtspopulistisch“ charakterisiert wird.
Venezuela: “Demokrat” und “Populist”?
Carlos Andrés Pérez war ein venezolanischer Politiker, langjähriger Vorsitzender der sich sozialdemokratisch definierenden Partei AD und zweimal Präsident seines Landes (1974-79 und 1989-93). Er galt als begnadeter Redner, der große Menschenmassen in seinen Bann ziehen konnte. Als Präsident ordnete er im Februar/März 1989 die Niederschlagung von Demonstrationen gegen ein von ihm auf Druck des Internationalen Währungsfonds verkündetes Austeritätsprogramm an. Dabei wurden nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen 3000 Menschen getötet, das größte Massaker unter einer gewählten Regierung in der Geschichte Lateinamerikas. Hugo Chávez Frías wiederum war ebenfalls ein venezolanischer Politiker, der in Zeiten hoher Weltmarktpreise einen Teil der stark gestiegenen Öleinnahmen in Programme zugunsten sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen einsetzte, also eine klassisch sozialdemokratische Politik betrieb, ansonsten die kapitalistische Wirtschaftsstruktur nicht antastete und alle internationalen Handels- und Lieferverträge erfüllte. Er galt als begnadeter Redner, der große Menschenmassen in seinen Bann ziehen konnte. Massaker an Demonstrierenden gab es in seiner Regierungsperiode (1999-2013) nicht. Carlos Andrés Pérez und seine AD gelten international bis heute als demokratisch, Hugo Chávez wurde und wird als linker Populist bezeichnet.
Die Beispiele mögen illustrieren, dass Populismus ein Etikett ist, das im politischen, akademischen und massenmedialen Sprachgebrauch vor allem als Kampfbegriff benutzt wird. Schauen wir also, was das am häufigste verwendete Lexikon, die Wikipedia, zum Stichwort Populismus sagt: „Dem Begriff Populismus (von lateinisch populus, ‚Volk‘) werden von Sozialwissenschaftlern mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist eine mit politischen Absichten verbundene, auf Volksstimmungen gerichtete Themenwahl und Rhetorik. Dabei geht es einerseits um die Erzeugung bestimmter Stimmungen, andererseits um die Ausnutzung und Verstärkung vorhandener Stimmungslagen zu eigenen politischen Zwecken. Oft zeigt sich Populismus auch in einem spezifischen Politikstil und dient als Strategie zum Machterwerb.“
Nur: Welche Politiker*innen zielen in ihren Reden und Talkshowstatements nicht auf Volksstimmungen? Welche haben keine Rhetorikschulungen absolviert? Und welche nutzen ihre Themenwahl und Rhetorik nicht als Strategie zum Machterwerb?
Schauen wir nach Lateinamerika, nach medialer und sozialwissenschaftlicher Ortung offensichtlich der Kontinent, auf dem sich Populisten und sogar Populistinnen tummeln.
Der Patrón
Nun gibt es natürlich Unterschiede in der politischen Kultur etwa Deutschlands und Argentiniens, ebenso in der Österreichs und der Schweiz oder der von Köln und Hamburg. Bis ins 20. Jahrhundert waren Abhängigkeitsstrukturen in vielen Regionen Lateinamerikas weitaus stärker personalisiert als in Europa. Während viele Menschen im späten 19. Jahrhundert in Großbritannien, den Niederlanden oder Deutschland für große, anonyme Unternehmen arbeiteten und bei Alter und Krankheit mit einem gewissen Rechtsanspruch begrenzte staatliche Unterstützung beantragen konnten, waren viele Lateinamerikaner*innen in den postkolonialen Gesellschaften noch von einzelnen Großgrundbesitzern und lokalen Unternehmern abhängig. Denen waren sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn sie Unterstützung brauchten, weil ein Familienmitglied krank war, wenn das Dach eines Hauses repariert werden musste oder sie etwas feiern und dafür einkaufen wollten, mussten sie den Patrón um Hilfe bitten. Der konnte diese gewähren oder auch nicht. Auf jeden Fall verlangte er als Voraussetzung jeglicher Unterstützung Wohlverhalten und absolute Loyalität.
Diese personalisierten Abhängigkeitsverhältnisse wurden reproduziert, als in den verschiedenen Ländern nach und nach das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde. Die zur Wahl stehenden Politiker*innen, oft genug die wichtigen lokalen Grundbesitzer und Großunternehmer, boten Unterstützung gegen Loyalität, also Wähler*innenstimmen, was gemeinhin als Klientelismus bezeichnet wird. Diese Strukturen wurden durch einen konservativen Katholizismus gestärkt, dessen Heilige angeblich nur dann helfend eingriffen, wenn man sich der Kirche und ihren Gesetzen gegenüber als fromm und gehorsam erwies.
Verhaltensweisen und Rituale erweisen sich oft als sehr hartnäckig – auch in Bayern und Köln
Natürlich haben sich die sozialen und ökonomischen Strukturen in Lateinamerika im 20. Jahrhundert rasant verändert. Längst lebt auch dort der größte Teil der Bevölkerung in Städten, arbeitet für Unternehmer*innen und nicht mehr für einen einzelnen Patrón. Aber Verhaltensweisen und Rituale, die einmal eingespielt sind, erweisen sich oft als sehr hartnäckig. So bestehen die von persönlichen Abhängigkeiten und Klientelismus geprägten politischen Kommunikationsformen vielfach heute noch, übrigens nicht nur in Lateinamerika, auch hierzulande, zumal in katholischen Regionen. Der kölsche Klüngel und die bayrischen Amigos lassen grüßen.
Nun gab es in Lateinamerika eine Zeit, die in historischen und sozialwissenschaftlichen Arbeiten gerne als klassische Periode des Populismus bezeichnet wird. Gemeint sind die 1930er- bis 1950er-Jahre, also die Zeit kurz vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, als Politik und Wirtschaft in Europa und den USA auf Krieg und später Wiederaufbau fokussiert waren und sich für Lateinamerika Freiräume autonomerer Entwicklung eröffneten. Populistisch wurden die damals vielerorts Regierenden einerseits deshalb genannt, weil sie zur Durchsetzung ihrer Politik häufig mit flammenden Reden große Menschenmassen mobilisierten.,Aber auch, weil ihre Regierungsprojekte mit in Europa bekannten Modellen wie Nationalismus, Bonapartismus, Faschismus oder Sozialreformismus nur bedingt zu fassen waren und sie mit einem nebulösen Begriff wie Populismus unkompliziert etikettiert werden konnten.
Die bekanntesten lateinamerikanischen Staatschefs, die für diese Regierungsprojekte standen, waren Juan Domingo Perón (Präsident Argentiniens 1946-55 und kurz 1973/74), Getúlio Vargas (Präsident Brasiliens 1930-45 und 1950-54) und Lázaro Cárdenas (Präsident Mexikos 1934-40).
Perón – Vargas – Cárdenas
Wichtigste Ziele ihrer Politik waren eine nachholende Industrialisierung und eine Modernisierung ihrer Länder. Auch wenn sie das in einem marktwirtschaftlich-kapitalistischen System erreichen wollten, sollte dem Staat als wirtschaftlichem Motor und Investor (vor allem in der Infrastruktur und industriellen Schlüsselsektoren) eine wichtige Rolle zukommen. Als Basis ihrer Politik strebten sie ein Bündnis aller modernistischen Sektoren (städtische Arbeiter*innen, industrielle Unternehmer*innen, Teile der Mittelschichten) an, mit deren Mobilisierung sie die Gegner*innen ihres Industrialisierungsprojektes im In- und Ausland (traditionelle Großgrundbesitzer- und Agrarexportoligarchie, katholische Kirche, ausländische, vor allem US-amerikanische Unternehmen) zurückdrängen wollten. Die Grundbesitzer- und Machteliten wollten keine Abgaben zur Finanzierung von Infrastruktur- und Industrialisierungsprojekten leisten, die internationalen Unternehmen keine eigenständige Industrie in den lateinamerikanischen Ländern, sondern sahen die Region vor allem als Absatzmarkt für ihre Produkte, auch wenn sie die wegen des Zweiten Weltkriegs zeitweilig nur eingeschränkt liefern konnten.
Da ihre Gegner*innen historisch über erheblichen Einfluss verfügten, mussten die modernistischen Regierungen ihre Basis immer wieder mobilisieren, um ihre Reformprojekte durchzusetzen. Sie organisierten große Aufmärsche und Demonstrationen und wussten, mit welchem Diskurs sie ihre Unterstützer*innen aus den ärmeren Gesellschaftsschichten erreichen konnten. Am besten beherrschte das wahrscheinlich – in perfekter Arbeitsteilung – das Präsidentenpaar Juan Domingo und Eva „Evita“ Perón in Argentinien.
Doch auch wenn das die liberalen und konservativen Gegner*innen der Regierungen Argentiniens oder Mexikos stets leugnen, basiert die bis heute fortbestehende Popularität von Juan Domingo und „Evita“ Perón oder von Lázaro Cárdenas keineswegs nur auf deren rhetorischen Fähigkeiten. Vielmehr hat sie eine handfeste materielle Grundlage. Weder vor noch nach deren Regierungszeit wurde so viel für die sozial Schwächeren getan, mehr in Bildung, Gesundheitswesen oder soziale Sicherungssysteme investiert, mehr auf die Einhaltung von Arbeitsschutzgesetzen geachtet. Genau deshalb haben die in der Kirchner-Ära „sozialdemokratisierten“ Peronist*innen bis heute in Argentinien eine Massenbasis und deshalb verteidigen viele Mexikaner*innen energisch die von Lázaro Cárdenas durchgeführten Reformen wie die Schaffung des staatlichen Erdölkonzerns PEMEX oder eines offenen, kostenlosen, auch ländliche Regionen erreichenden Schulwesens.
Dabei gab es zwischen den erwähnten Präsidenten beträchtliche politische Unterschiede. Während Vargas ein in vielen Bereichen konservativer Autokrat war, dessen Geheimpolizei repressiv gegen die Opposition vorging und sogar Flüchtlinge, wie die deutsche Jüdin und Kommunistin Olga Benario, an Nazideutschland auslieferte, regierte Cárdenas demokratisch und gewährte Tausenden verfolgter Antifaschist*innen aus Europa Asyl in Mexiko. Perón war ein autoritärer Militär und die peronistische Basis drangsalierte gerne mal politische Gegner*innen (vor allem aus der Linken) oder verwüstete deren Parteilokale. Systematische politische Verfolgungen und Ermordungen politischer Gegner*innen begannen aber in Argentinien erst nach dem 21. September 1955, dem Tag, als der gewählte Präsident Perón vom Militär gestürzt wurde.
Die soziale Basis
Ein Problem der national-modernistischen Regierungen in Lateinamerika war, dass es in ihrer oben skizzierten sozialen Basis sehr unterschiedliche Interessen gab. Um ihre Allianzen zusammenzuhalten, mussten sie deshalb programmatisch diffus bleiben. Sie konnten zwar Fortschritt versprechen, die Segnungen einer nationalen Industrie beschwören oder die Rechte aller am Produktionsprozess Beteiligten betonen, aber sie konnten den Arbeiter*innen nicht zusagen, die Industrieunternehmen stärker zu schröpfen, oder den Unternehmer*innen in Aussicht stellen, Streiks polizeilich oder militärisch niederschlagen zu lassen. Damit hätten sie eine Seite dauerhaft verprellt. Also mussten sie stets versuchen, ihren unterschiedlichen Unterstützer*innen das zu vermitteln, was diese hören wollten, ohne dabei allzu konkret zu werden.
Das führt uns zum vermeintlichen Populismus der lateinamerikanischen Mitte-Links-Regierungen der letzten beiden Jahrzehnte. Unter anderen Bedingungen als in den 1940er-Jahren versuchten diese nach dem sozialen Desaster, das die neoliberale Politik der 1980er- und 1990er-Jahre angerichtet hatte, neue Arbeitsplätze zu schaffen, Kontrolle über die eigenen Ressourcen zurückzugewinnen und die privatisierten oder kaputt gesparten öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsysteme zu stärken. Um Wahlen zu gewinnen und moderate Reformen gegen die neoliberalen Eliten und die internationale Finanzwirtschaft durchsetzen zu können, bildeten sie breite Allianzen sehr unterschiedlicher politischer Kräfte. Zur Mobilisierung ihrer Anhänger*innen sprachen charismatische Politiker*innen wie Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa und Cristina Fernández de Kirchner viel von der nationalen Souveränität, der selbstbestimmten Nutzung der eigenen Ressourcen, dem Zurückdrängen des Neoliberalismus und der internationalen Finanzinstitutionen, von einer sozialeren Zukunft für alle oder von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Doch sie sprachen selten konkret davon, wie das dauerhaft zu finanzieren sei, welche sozialen Gruppen wie belastet werden sollten, um ihre Projekte zu realisieren. Zunächst funktionierte es wie schon in den 1940er-Jahren relativ gut, weil die hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe nach 2000 viel Geld in die Staatskassen pumpten. Doch wie beim Rohstoffboom in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg blieben die Preise auch diesmal nicht dauerhaft auf hohem Niveau.
Davor schrecken die Mitte-Links-Regierungen zurück
Das klassische Mittel sozialer Umverteilung in kapitalistischen Staaten ist das Steuersystem. Das war und ist in den meisten Ländern Lateinamerikas aber keineswegs sozial, sondern basiert überwiegend auf indirekten Steuern, vor allem der Mehrwertsteuer. Das bedeutet, dass Reiche wie Arme den gleichen Steuersatz für die von ihnen erworbenen Waren zahlen müssen. Für einen sozialen Ausgleich bedürfte es aber gestaffelter Einkommenssteuersysteme, in denen Besserverdienende deutlich höhere Steuersätze entrichten müssten als Geringverdienende. Davor schreck(t)en die meisten Mitte-Links-Regierungen zurück, um ihre Unterstützer*innen in den Mittelschichten und dem Unternehmer*innenlager nicht zu verprellen.
Weil sie das ihrer sozialen Basis in den ärmeren Schichten aber so nicht sagen können oder wollen, greifen sie auf wohlklingende Beschwörungen zurück und inszenieren sich eindringlich als diejenigen, die alleine in der Lage seien, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen und den bösen internationalen Mächten zu widerstehen. Da fallen bei Beobachter*innen dann gerne die Bezeichnungen Populismus und Personenkult. Man kann sich an solchen Phänomen abarbeiten, man kann aber auch über die ihnen zugrunde liegenden wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse reden.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 464 April 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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