„Ich bin weit weg von Politik“, sagt Timur Celik. Mit melancholischem Alltagsrealismus ist der Maler zum Chronisten des Erdoğan-Regimes geworden. Ein Atelierbesuch am Hermannplatz kurz vor den türkischen Wahlen
Eigentlich begann alles mit einem Zufall, elf Jahre ist es nun her. Eine Glühbirne in Timur Celiks Atelier direkt an der Ecke von Neuköllns Hermannplatz war zerplatzt und lag auf der Werkbank.
„Ich schaute sie mir an“, erzählt der Maler, „und dachte: Alles hat seine Zeit, auch die Glühbirne. Sie wird nicht mehr produziert werden. So wird es auch der AKP ergehen.“
Dem Bild des geborstenen Leuchtmittels, das Celik in seinem typischen, hyperrealistischen Stil damals schuf: weiß, silbrig auf grauem Grund, eignete ein Moment Prophetie.
Denn der Gezi-Aufstand 2013 markierte die Verwandlung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum Gewaltherrscher. Die Glühbirne, das Symbol seiner AK-Partei für „Gerechtigkeit und Entwicklung“, bekam einen unübersehbaren Riss.
Celik muss heute noch lachen, wenn er die Geschichte erzählt. Wie ein Student sitzt der 64-jährige Künstler in seinem Atelier auf dem Boden, die grauen Haare zum Zopf zurückgebunden, sortiert Bilder und raucht Kette.
Die Existenz des Timur Celik scheint Aki Kaurismäkis Film „La vie de bohème“ entsprungen. 1993 entschied sich der junge türkische Künstler in Berlin zu bleiben – der „Stadt der Freiheit“.
Zuerst verdingte er sich in der Gastronomie. Später öffnete er im Graefekiez sein eigenes Restaurant, musste mit dem Malen pausieren. Nach der Insolvenz der „Zitrone“ 2008 sind er und seine Partnerin auf ihre kleine Wohnung zurückgeworfen, Timur lebt gleichsam von dem Pinsel in den Mund.
Die Tür zum Balkon steht offen. Aus einem angestaubten Ghettoblaster dringt klassische Musik. Auf der Urbanstraße rast ein Rettungswagen mit Martinshorn Richtung Hermannplatz.
Wilder Sozialist
In die Wiege war es Celik nicht gelegt, politischer Künstler zu werden. Als junger Mann war der 1960 geborene Sohn eines Arbeiters im Industriebezirk Kartal auf der asiatischen Seite Istanbuls immer „wilder Sozialist und Hippie“, wie er stolz erzählt. Er verteilte Flugblätter bei Streiks, wurde verhaftet. Erst langsam schälte sich das Ziel zu malen heraus. Als Student an der Marmara-Universität prägten ihn dann Vorbilder wie der türkische Landschaftsmaler Neşet Günal. Bei seinem ersten Europa-Trip 1990 begeisterte er sich dann für die alten Meister: den Romantiker Théodore Guéricault, den Barockmaler Francisco de Zurbarán, den Realisten Edward Hopper.
Dass im Zeitalter der abgefahrenen Konzeptkunst, der genderfluiden Performance und der künstlerischen Forschung sein kühler Verismus wie aus der Zeit gefallen scheint, stört Celik nicht. „Ich werde wohl bis zu meinem Tod ein traditioneller Maler bleiben“, stellt er stoisch fest.
Bis Mitte der Nullerjahre fand Celik seine Motive im Alltag: Porträts von Freunden, Gegenstände im Atelier: eine Kaffeetasse, sein Kater Charlie, eine Seifenflasche auf der Spüle. Die Wende zum Politischen kam kurz nach dem Gezi-Aufstand. Nach dem Tod seines Vaters reiste er 2014 durch dessen kurdische Heimat im Südosten der Türkei, die er selbst nie richtig kennengelernt hatte. Dabei wurde er Zeuge der Verheerungen, die das türkische Militär bei seinen Kreuzzügen angerichtet hatte. Seitdem schlichen sich Motive von Krieg und Zerstörung in die Bilder: ein Helikopter, der Bomben abwirft, und immer wieder brennende Felder.
Celiks Bilder sind ein Oxymoron. Ihnen ist der größtmögliche Schrecken eingeschrieben. Sie sind aber weder malerisches Fanal noch wütende Anklage oder Agitprop.
Timur Celik bleibt beim Figurativen. Seiner Kunst ist der größte Schrecken eingeschrieben
Wenn auf einem Bild ein zur Salzsäule erstarrter kleiner Junge von hinten zu sehen ist, der weit entfernt am Horizont eine Bombe einschlagen sieht, drückt das Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Die Beobachterposition des Malers rückt das Geschehen aber zugleich in eine kühle Distanz. Getreu seinem Motto „Ich will Wirklichkeit erzählen“ untersucht Celik, wie sich über zerstörerische Wahrheiten berichten lässt, ohne in Rage zu verfallen.
Idylle und Inferno
Lapidar, ohne jeden Kommentar, stehen auf seinen Bildern Idylle und Inferno nebeneinander „Eyewitness – Augenzeuge“ hat Celik seine Serie benannt, die dem guten alten Landschaftsbild eine politische Dimension erschlossen haben. Einen zentralen Platz darin nimmt der Urheber des Schrecklichen ein: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. In der charakteristischen Pose des starken Mannes steht er mal vor dem Istanbuler Atatürk-Kültür-Zentrum, mal vor der Hagia Sophia, mal im Kreise seiner politischen Spießgesellen: der Pate des Systems, mit hängenden Schultern, bewehrt mit einer Sonnenbrille.
Die Gegenseite markieren die Bilder von Celiks Idolen: Im Atelier hängt ein Porträt des 2017 erschossenen armenischen Journalisten Hrant Dink. Den exilierten Journalisten Can Dündar hat er gemalt, den inhaftierten Mäzen Osman Kavala, viele, die die Türkei verlassen mussten, wie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan – „Witness“ hat er diese Porträtserie genannt.
Gerade ist ein Bild des türkischen Oppositionsführers und Erdoğan-Herausforderers, Kemal Kılıçdaroğlu, dazugekommen. Im abendlichen Dämmerlicht sitzt der „Ghandi“ der türkischen Politik neben seiner Frau Selvi auf dem Sofa.
Selbst „Augenzeuge“ solcher Szenen war Celik nie. Die Motive für seine Bilder stammen aus der Zeitung, er hört von ihnen im Radio oder fischt sie aus dem Netz. Celik lebt eine Künstlerexistenz zwischen Eremit und Weltempfänger – im Atelier strömt die Welt auf ihn ein.
Er malt fast alles, was ihn aufregt: ein zusammengestürztes Haus im Erdbebengebiet, die Räumung des Dorfs Lützerath, die überstürzte Flucht der Afghan:innen aus dem Land nach dem Abzug der US-Armee. Celik ist überall und nirgends: „Ich habe keine Heimat. Meine Heimat sind meine Freunde und der Hermannplatz.“
Es ist schon ein Paradox. „Ich bin eigentlich weit weg von der Politik“, sagt der Maler und dreht sich eine neue Zigarette. Nun ist ausgerechnet er mit seinem melancholischen Realismus zum visuellen Chronisten von Diktatur und Ungerechtigkeit geworden.
Mit der Kippe im Mund blättert er in dem kleinen Notizbuch, in das er seit zehn Jahren seine Bildideen notiert. „Ich habe das Gefühl, ich kann das bald schließen“, sagt er nachdenklich. Sechs Tage noch, dann könnte das Ende der Glühbirne gekommen sein.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag. Links wurden nachträglich eingefügt.
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