Die Sahel-Einsätze der Bundeswehr im öffentlichen Diskurs

Vorwort

Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, soll der Deutsche Bundestag im Mai 2023 über eine letzte Verlängerung des Mali-Einsatzes der Bundeswehr abstimmen. Ziel sei es nun, diesen Einsatz nach zehn Jahren „strukturiert auslaufen“ zu lassen. Das neuerliche Mandat des Bundestags soll die Voraussetzungen schaffen für einen geregelten Rückzug der Bundeswehr aus Mali bis zum Mai 2024. Auf diese zeitliche Rahmung hatte sich die Bundesregierung schon im November 2022 verständigt. Der neue Antrag der Bundesregierung wird also sehr wahrscheinlich für die (befristete und letztmalige) Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA) plädieren. Bis 2024 sollen bis zu 1.400 Soldaten entsandt werden können. Diese personelle Aufstockung um zweihundert Soldaten begründete die Bundesregierung mit zusätzlich anfallenden Aufgaben, seitdem französische Militärs abziehen mussten. Frankreichs Vorgehen in Mali hatte Massenproteste weiter Teile der malischen Zivilgesellschaft auf sich gezogen und war in Konflikt mit der malischen Militärregierung geraten. Trotz dieser Situation werde die Zusammenarbeit mit Frankreich in der Region nicht in Frage gestellt, so die Bundesregierung.

Schon seit 2013 debattiert und entscheidet der Deutsche Bundestag regelmäßig über eine Fortsetzung oder den Abbruch der Sahel-Mandate der Bundeswehr. Die Otto Brenner Stiftung hat die innenpolitische Auseinandersetzung über die Mandatierung 2021 bereits im Mai 2022 zum Anlass genommen, erste Ergebnisse einer Untersuchung des Medienwissenschaftlers und Afrikanisten Lutz Mükke vorab zu publizieren, um sie rechtzeitig zur Debatte im Bundestag in der Öffentlichkeit zu platzieren. Nun, im Frühjahr 2023, wird sich der Deutsche Bundestag abermals mit der Sahel-Frage beschäftigen und über eine Fortsetzung entscheiden. Grund genug für die OBS, unsere Vorabpublikation aus 2022 inhaltlich zu ergänzen, mit weiteren Erkenntnissen zu aktualisieren und generellere Schlussfolgerungen für eine Berichterstattung auf der Basis unserer Befunde zu wagen.

Ziel der Untersuchung bleibt einerseits, die mediale Diskussion zu den Sahel-Einsätzen der Bundeswehr und vor dem Hintergrund parlamentarischer Beratungs- und Entscheidungsprozesse zu erfassen und damit einen relevanten Beitrag zur Qualitätsdiskussion über Auslandsberichterstattung zu leisten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung und die Handlungsempfehlungen des Autors runden also unsere Vorabpublikation ab. Andererseits reiht sich die Analyse ein und ergänzt mit wichtigen Aspekten unsere kritischen OBS-Studien zur Krise der Auslandsberichterstattung, die ein „Verblassen der Welt“ diagnostiziert und kontroverse Debatten initiiert haben.

Seit zehn Jahren verlängert der Bundestag jährlich die Einsatzmandate der Bundeswehr in Mali und für die Sahel-Region. Der mit Abstand größte laufende Bundeswehreinsatz ist MINUSMA. Zudem ist die Bundeswehr mit einem Mandat für die Ausbildung malischer Streitkräfte durch die Europäische Union, EUTM (European Union Training Mission Mali), vor Ort. Verzahnungen oder Berührungs- und Anknüpfungspunkte gab oder gibt es u. a. mit der Aufstellung der G5-Taskforce mit Mauretanien, Burkina-Faso, Tschad, Niger, Mali; mit der französischen Militär-Operation Barkhane (vorher Operation Serval); der Bundeswehr-Mission Gazelle; der Takuba Task Force und mit US-amerikanischen Präsenzen. MINUSMA gilt auch als gefährlichster UN-Einsatz. Hauptintention war und ist, die Region zu stabilisieren und Terrorismus zu bekämpfen.

In unserer aktualisierten Untersuchung wird der Frage nachgegangen, wie ausgewählte Redaktionen über die Bundestagsdiskussion und -abstimmung 2021 berichteten. Gefragt wird auch, wie rund um diese Bundestagsabstimmung über die Sahel-Einsätze der Bundeswehr und über die G5-Region berichtet wurde. Die inhaltsanalytischen Ergebnisse werden Experten präsentiert und von ihnen ergänzend interpretiert. Auf der Basis dieser Befunde und der neuen Erkenntnisse werden von Lutz Mükke Empfehlungen abgeleitet, die der Autor als konkrete Vorschläge und Anregungen für die Optimierung von Krisen- und Kriegsberichterstattung versteht.

Unser Autor fordert vom Mediensystem und seinen Akteuren, deutlich ernsthafter mit den Themen Krisen, Konflikte und Kriegseinsätzen umzugehen. Die historische Niederlage des Westens in Afghanistan, die Irak-, Libyen- und Syrien-Desaster, der Stellvertreterkrieg im Jemen und nicht zuletzt der 2022 stark eskalierte Russland-Ukraine-Krieg geben für Redaktionen und Medienhäuser mehr als genug Anlass, ihre Krisen- und Kriegsberichterstattung zu überprüfen und insgesamt zu professionalisieren. Diese Professionalisierung könnte, so eine Annahme von Lutz Mükke, das Vertrauen in das Medien- und in das demokratische System stärken und dadurch auch zu einem angemesseneren Verhalten der Bundesrepublik in und zu Krisen und Kriegen beitragen.

5 Zusammenfassung und Fazit

Es gilt in diesem Kapitel zum einen, die Ergebnisse der Inhaltsanalyse und Impulse der Experten zusammenzuführen und zu interpretieren. Zum anderen sollen Handlungsempfehlungen aus diesen Befunden und Erkenntnissen abgeleitet werden. In diese Einordnungen fließen auch jahrzehntelange wissenschaftliche und Journalismus-praktische Erfahrungen des Autors mit und in Afrika ein.

Wie gezeigt werden konnte, ist die gesamte analysierte Berichterstattung im Untersuchungszeitraum zum einen stark nachrichtlich-berichtend und zum anderen stark durch Korrespondent*innenberichte geprägt, wobei die Nachrichtenagenturen AFP und dpa besonders großen Einfluss haben. Keiner der Korrespondent*innenberichte entstand in einem der G5-Staaten, sondern in Büros tausende Kilometer entfernt – u. a. in Paris, Berlin und Kapstadt. Das kann nur bedingt mit der Corona-Pandemie begründet werden, die damals das Reisen erschwerte. Vielmehr weisen diese Ergebnisse auffolgende Umstände hin:

Die Redaktionen

a) können offenbar auf keine etablierten Kooperationen mit lokalen Partnern zurückgreifen,

b) haben trotz der großen laufenden Militäreinsätze der Bundeswehr keine eigenen Korrespondent*innen bzw. Reporter*innen dauerhaft vor Ort und

c) vernachlässigen teils seit Jahrzehnten die Region Westafrika u. a. durch das tradierte System der zentralen Afrika-Korrespondent*innenstandorte Nairobi, Johannesburg, Kapstadt (und Rabat) und verkennen damit auch die rasant wachsende Bedeutung der Region Westafrika.

Die Resultate dieses verfehlten Redaktionsmanagements sind nicht zu übersehen: Selbst während der gesellschaftlich außerordentlich wichtigen Zeit, die vor, während und nach der Bundestagsabstimmung analysiert wurde, gab es über die Militäreinsätze noch nicht einmal Leitartikel, Interviews, Porträts oder Rezensionen zum Thema und lediglich zwei Kommentare. Weder über die Militäreinsätze der Bundeswehr noch über den Putsch in Mali wurden Reportagen oder gar größere investigative Projekte oder komplexere Online-Storytellings aus dem Sahel geliefert. Zwar werden die Aktivitäten der Bundeswehr oft holzschnittartig hinterfragt, aber hintergründige Vor-Ort-Recherchen dazu fanden keinen Eingang.

Eintönigkeit herrscht auch bei der Ressort-Verortung: Fast alle Beiträge erscheinen unter den Rubriken „Politik“ und „Ausland“. Wirtschafts- oder Kulturressorts trugen nichts Wesentliches zum Themenkomplex bei, obwohl gerade auch mit Diskursen zu Ökonomie und Kultur Hintergründe und Zusammenhänge der Sahel-Situationen erklärt werden könnten und müssten.

Gleichwohl treten auch qualitative und quantitative Unterschiede zwischen den einzelnen Medien deutlich zu Tage. So liefert FAZ.NET eine beachtliche Zahl an Beiträgen zum Themenkomplex, fast sechsmal so viel wie Bild.de und fast dreimal so viel wie ZeitOnline. Von den FAZ-Beiträgen stammt fast die Hälfte aus der Feder ihrer Korrespondentinnen in Paris und Kapstadt, einige entstanden auch als Koproduktion der beiden Journalistinnen. Besonders stark leuchtet die FAZ dabei die Rolle Frankreichs in den Sahel-Konflikten aus, aber auch Reaktionen aus Deutschland, die Position der EU und der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS.

Der geografische Fokus der Berichterstattung liegt bei allen analysierten Medien deutlich auf vier Ländern: Mali, Frankreich, Deutschland und Tschad. Die Berichterstattung folgt dabei vor allem zwei aktuellen Ereignissen, dem Putsch in Mali und dem Tod des tschadischen Präsidenten. Zu Wort kommen die lautstärksten, etabliertesten und mächtigsten Kommunikator*innen im Konfliktfeld. Mit weitem Abstand dominieren hochrangige französische und deutsche Regierungsvertreter*innen, gefolgt von malischen Militärs sowie hochrangigen EU- und UN-Vertreter*innen die Quellen und Akteursgruppen. Auch Verlautbarungen der westafrikanischen Regionalorganisationen ECOWAS, der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen werden häufig wiedergegeben. Ihnen und ihren Sprecher*innen und Verlautbarungen wird von den am journalistischen Produktionsprozess Beteiligten offenbar besonders große Relevanz beigemessen. Berichterstattungsmuster werden auch tradiert, weil diese Quellen vergleichsweise leicht zugängliche, preiswerte und professionell aufbereitete PR und Propaganda anbieten und auf Websites und in sozialen Netzwerken verbreiten (vgl. Mükke 2015). Aus diesem Quellenkomplex der Mächtigen speist sich der Großteil der Frames und Narrative, d. h. Perspektiven, Stellungnahmen, Prognosen, Expert*innenaussagen und Annahmen aus dieser Quellengruppen bestimmen maßgeblich die Agenda und die Interpretationen der Hergänge. Es herrscht ein hoher Grad an Selbstbezüglichkeit und Eurozentrismus.

Ordnet und summiert man die Quellen nach ihrer Herkunft, tritt ein ganz fragwürdiges Strukturmerkmal zu Tage: Rund 60 Prozent aller Quellen sind nichtafrikanisch. Im krassen Gegensatz dazu fällt auf, dass insbesondere bei den afrikanischen Quellen ganze Gruppen gar nicht oder nur in raren Einzelfällen auftauchen und zu Wort kommen: Geschäftsleute, Wissenschaftler*innen, Religionsvertreter*innen, Künstler*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Studenten*innen, Kirchen- und Religionsvertreter*innen. Sie sind für die am journalistischen Produktionsprozess Beteiligten offenbar weder als Handlungsträger*innen noch als Quellen von besonderer Bedeutung, obwohl sie Triebfedern gesellschaftlicher und politischer Prozesse sind. In der kumulierten Gesamtberichterstattung machen all diese genannten Quellengruppen usammengenommen gerade einmal sechs Prozent aus. Auch Hilfsorganisationen, traditionell starke Kommunikatoren in Subsahara-Afrika, spielen als Quellen und Akteure nur eine marginale Rolle in der Sahel-Berichterstattung.

Unakzeptabel auch: Islamistische Extremist*innen, „Terrorist*innen“ und verschiedene bewaffnete Gruppen, etwa der Tuareg, werden so gut wie nicht abgebildet und erhalten auch fast keine Stimmen. Sie laufen lediglich als bedrohlicher Subkontext mit. In keinem einzigen Fall wird über sie näher aufgeklärt, obwohl sie doch als Hauptgrund der Militärinterventionen proklamiert wurden und werden. Islamistische Extremisten und „Terroristen“ kommen als Primärquellen überhaupt nicht vor. Auch regionale Betrachtungen und Einordnungen über die Sahel-Region werden nur vordergründig angestrengt.

Die Kritik der befragten Experten aus Mali, Niger und Deutschland fällt ob der skizzierten Strukturmerkmale der analysierten Berichterstattungen entsprechend deutlich aus. Es herrscht Kopfschütteln und Ratlosigkeit über „übervereinfachte Realitätswahrnehmungen“ der Sahel-Konflikte sowie über das Ausblenden der Parlamentsdebatten.

David Dembélé aus Mali, Ibrahim Manzo Diallo aus Niger und Helmut Asche aus Deutschland sind ausgewiesene Kenner der Geschehnisse im Sahel. Sie sind dem Lager der moderaten und reflektierten Kritiker zuzuordnen. Diallos Erwartung war zum Beispiel, dass den Sahel-Militäreinsätzen in Deutschland medial und politisch „höchstes Interesse“ zukomme. Dass es selbst im zeitlichen Zusammenhang mit der Bundestagsdebatte keine unabhängigen journalistischen Recherchen und Reportagen der vier untersuchten Leitmedien aus den Sahel-Ländern gab, empfindet er als völlig unakzeptabel. Unabhängige Journalist*innen und Redaktionen müssten bei so hochrelevanten Themen wie Militäreinsätzen bzw. Krieg und Frieden deutlich mehr leisten. Der Chefredakteur kritisiert auch, dass sich die Berichterstattung zu oft in immer gleichen Rahmen und sehr engen Deutungskorridoren bewege. Journalismus hätte jedoch auch die Aufgabe, diese permanent zu hinterfragen, was aber nur gelinge, wenn man sich nicht fortwährend auf Propaganda und Verlautbarungen von Regierungen, deren Militärs und internationalen Organisationen stütze. Dass so wichtige Quellengruppen wie afrikanische Expert*innen, Geschäftsleute, Intellektuelle, Künstler*innen und Religionsvertreter*innen so gut wie nicht zu Wort kommen, „tut weh“. Zumal die in Deutschland geführten Debatten über die Militäreinsätze „direkt die Zukunft der Sahel-Länder betreffen“. Die Stimmen der Intellektuellen aus den G5-Ländern müssten unbedingt stärker hörbar gemacht werden. Dass unter den Autor*innen der analysierten Beiträge kein einziger Afrikaner, keine einzige Afrikanerin ist, bezeichnet Diallo als Affront und blanke „Verachtung“. Afrikanistik-Professor Asche kommentiert: „In der Phase der politischen Entscheidung nicht einmal einen afrikanischen Autor, um einen Gastkommentar gefragt zu haben“, drücke die „Geringschätzung des Themas aus“ und zeige, dass die untersuchten Medien und Redaktionen „den berechtigten Teil der neueren Postkolonialismus-Debatte noch nicht ernst genommen“ hätten. Der Status Afrikas in der Aufmerksamkeitshierarchie spiegele sich eben auch in der Ausdünnung des Korrespondent*innennetzes über die letzten Jahrzehnte (vgl. Mükke 2009).

Die inhaltsanalytischen Ergebnisse und die dazu eingeholten Expert*innenmeinungen unterstreichen deutliche Defizite. Der Sahel-Berichterstattung mangelt es an

– eigenständiger Recherche vor Ort,

– Perspektivwechseln,

– solidem Redaktionsmanagement und

– internationalen, grenzübergreifenden Journalisten-Kooperationen.

Es scheint vielmehr ausreichend, auf Werte und Positionen Deutschlands, Frankreichs, einiger afrikanischer Eliten und supranationaler Organisationen zu fokussieren und diese zu kolportieren und zu kommentieren. Dem Anspruch an Qualität und Glaubwürdigkeit in einer globalisierten Welt wird eine solche Agentur geleitete Blaupausen-Berichterstattung oft nicht gerecht. Im journalistischen System sollte deutlich mehr in Strategie, Planung, Konzeption und Personal investiert werden, um Militärinterventionen wie die im Sahel gründlicher abzubilden und zu reflektieren.

Die Potenziale, die das Internet als faktisch unbegrenzter Publikationsraum für multiperspektivische Narration, Kommentierung, Dokumentation und sogar Dialog bietet, werden nicht ausreichend genutzt. Hochkomplexe und scheinbar unübersichtliche Situationen wie im Sahel könnten gerade von Online-Medien und -redaktionen wie den vier hier untersuchten abgebildet und aufgeklärt werden. Die digitalen Möglichkeiten bieten hierfür exzellente Voraussetzungen. Doch keine der vier Online-Medien bzw. -redaktionen leistete in dieser Hinsicht Besonderes im Untersuchungszeitraum.

Für die Metaebene kann festgehalten werden: Mit diesem Herangehen begibt sich Journalismus in Gefahr, sich in den weltweiten Wettbewerb um binäre Narrative, Frames und Deutungshoheiten verwickeln zu lassen, weil er in diesem Arbeitsmodus kaum eigene Themen, Nachrichtenwerte und Perspektiven setzen kann, sondern die Agenden verschiedener Akteure meist nur einordnet. Als dienendes Subsystem demokratischer Gesellschaften muss Journalismus jedoch insbesondere in Kriegs- und Krisensituationen unabhängig bleiben und zum Beispiel Interessenlagen verschiedener Lager nachvollziehbar aufzeigen. Diese Unabhängigkeit hängt ganz maßgeblich von der eigenständigen, unabhängigen und pluralistischen Wiedergabe von Wirklichkeit ab. Journalismus darf es sich nicht in vordergründigen Gut-Böse-Schemata simpler Narrative bequem machen und darf sich nicht in den „Kampf um Köpfe und Herzen“ der Konfliktparteien verstricken lassen. Das ist das Geschäft von PR und Propaganda.

Geopolitische Veränderungen hin zur multipolaren Welt und medientechnologische Möglichkeiten multiperspektivischer Erzählformen sind Potenzial und Herausforderung zugleich. An die Umbrüche in der momentan laufenden starken Transformation der globalen Kommunikation hat sich das deutsche Journalismus-System jedoch noch nicht im nötigen Maß angepasst. Die Möglichkeiten der vernetzten Kollaboration für die Produktion von Qualitätsjournalismus werden im Sahel-Komplex noch kaum genutzt. Es braucht substantielle Kooperationen mit kompetenten lokalen und regionalen Journalist*innen, damit Auslandsjournalismus der Aufgabe gerecht wird, faktenorientiert, hintergründig und kontrovers Proklamationen auf ihren Tatsachengehalt zu prüfen – auch solche über den vorgeblichen Export demokratischer Regeln, humanitärer Werte, Hilfe zur Selbsthilfe, den sogenannten „Kampf gegen den Terror“ und der „Stabilisierungsmission“ im Sahel. Journalismus darf nicht zum Advokaten von Außen-, Sicherheits- oder Militärpolitik verkommen, sondern muss diese hochrelevanten Felder unabhängig, kontinuierlich und kritisch-kontrollierend begleiten.

Warum Journalismus das gerade in diesen Bereichen leisten muss? Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland räumt dem Thema Frieden in Artikel 1 einen sehr hohen Stellenwert ein. Auch die Festschreibung der Bundeswehr als Parlamentsarmee verpflichtet dazu, mit diesem Themenkomplex demokratisch-diskursiv umzugehen. Entscheidungen über Truppen-Entsendungen ins Ausland müssen sich umfassenden Meinungsbildungsprozessen stellen. Über Krisen und Kriege, in denen die Bundeswehr involviert ist, müssten bundesrepublikanische Medien also mit besonderer journalistischer Sorgfalt berichten. Anhand der analysierten massenmedialen Berichterstattung zu den Sahel-Einsätzen konnte sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit aber weder substanziell über die Bundestagsdebatten noch hintergründig über die Geschehnisse in der Sahel-Zone informieren. Von umfänglicher Information und Beförderung eines gesellschaftlichen Diskurses kann im Untersuchungszeitraum nicht die Rede sein.

In vielen Medienhäusern wurde die Auslandsberichterstattung in den vergangenen Jahren derart „zusammengekürzt, dass wir von der Welt nur noch wenig mitbekommen (können)“, konstatiert Engelhardt 2022, S. 54-55) Dieser Prozess birgt u. a. das Risiko, dass bei Millionen das Vertrauen ins mediale und politische System erodiert.

Über die Jahre sind in die Sahel-Einsätze zehntausende deutsche Soldaten involviert worden, Milliarden an Steuergeldern geflossen und die Bundesrepublik verstrickte sich in weitreichende geopolitische Interessenkollisionen im Sahel. Angesichts dieser Tatsachen hätte es für die vier untersuchten Leitmedien eine Selbstverständlichkeit sein müssen, exklusive hintergründige Informationen zu recherchieren und pluralistische Deutungen zu liefern, gerade in Zeiträumen der innenpolitischen Abstimmungsprozesse. Denn Wähler*innen, Gewählte, Diplomat*innen, Wirtschaftsakteur*innen, Kulturvertreter*innen, Wissenschafter*innen, Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Soldat*innen und ihre Familien – kurz, eine mündige und kluge demokratische Gesellschaft ist auf diese journalistischen Leistungen angewiesen.

6 Handlungsempfehlungen

Ziel von Krisen- und Kriegsberichterstattung müssen aufgeklärte Rezipienten sein, die durch den „Konsum“ von massenmedialem Journalismus intellektuellen und kulturellen Herausforderungen sowie Wahlentscheidungen gewachsen sind. Selbstbezüglichkeit und Orientierung an den Selbst-, Feind-, Mitleids- und Fremdbildern eigener Werteordnungen und Interessenlagen reichen für qualitätsvolle Krisen- und Kriegsberichterstattung nicht aus (vgl. Lynch/Galtung 2010).

Aus unseren Analysen und Befunden lassen sich eine Reihe von Empfehlungen zur Professionalisierung von Krisen- und Kriegsberichterstattung entwickeln:

1. Unabhängige Präsenz vor Ort erhöhen

a) Entsendung von Sonderberichterstattern, die längerfristig in den jeweiligen Krisen- und Kriegsgebieten arbeiten und recherchieren;

b) Kooperationen mit lokalen Journalist*innen Lokale Mitarbeiter*innen, Stringer und ausländische Journalist*innen stärker einbinden und eine Berichterstattung mit Einheimischen befördern und nicht nur über sie.

2. Recherche- statt Betroffenheitsjournalismus

Journalismus muss insbesondere in Krisen und Kriegen seine Aufgabe als Vierte Gewalt stärker und strukturierter wahrnehmen. Hintergründiger Journalismus zur Machtkontrolle ist zu fördern und sollte alle Interessenebenen ausleuchten – lokale, regionale, internationale, globale, staatliche und nichtstaatliche.

3. Berufsbilder differenzieren und spezialisieren

Krisen- und Kriegsberichterstattung ist als eigenes Berufsbild zu verstehen, das thematische Spezialisierungen und kontinuierliche Arbeit und Weiterbildung erfordert. Es braucht definierte Ausbildungsanforderungen und -angebote an Krisen- und Kriegsberichterstatter*innen; innerbetriebliche und externe berufsbegleitende Weiterbildungsangebote etwa durch Kooperationen mit Regional-, Politik-, Militär- und Geschichtswissenschaften. Die Rollenbilder für Krisen- und Kriegsberichterstatter*innen sind zu schärfen.

4. Redaktionelles Management von Krisen- und Kriegsberichterstattung professionalisieren

Ansatzpunkte hierfür sind u. a.

a) ein eigenes Ressort schaffen bzw. spezialisierte und fokussierte Teams

b) stringente Auswahl, Ausbildung, Einsatz von Personal nach klar definierten Kompetenzkriterien

c) Einbeziehung von Korrespondent*innen, Redakteur*innen, Reporter*innen in längerfristige konzeptionelle Planungen und Rechercheprojekte

d) Kooperationen über Ressortgrenzen hinweg

e) Berichtsgebiete dürfen nicht zu „Herrschaftsgebieten“ von Korrespondent*innen werden

f ) Bereitstellung finanzieller Sondermittel für Krisen und Kriegsberichterstattung

5. „Nicht erst berichten, wenn es kracht“

Die Ursachen von Kriegen sind meist tieferliegend und komplex, sie entstehen über längere Zeiträume. Verantwortungsbewusster Journalismus darf sich nicht allein nach Nachrichtenwerten wie Aktualität, Dramatik, Überraschung und Konfliktgröße richten, sondern recherchiert, beschreibt und analysiert Konfliktlagen bereits vor dem Ausbruch von Kriegen und erhellt und diskutiert proaktiv „tote Winkel“.

6. Perspektiven aller wichtigen Krisen- und Kriegsparteien aufzeigen

Alle Seiten kommen zu Wort und werden gleichermaßen kritisch hinterfragt.

7. Analysekapazitäten zu Krisen- und Kriegsökonomien stärken

Krisen und Kriege gehen oft mit großen ökonomischen Interessen, wirtschaftlichen Verwerfungen, spezifischen Geldflüssen einher. Mechanismen, Akteure, Profiteure, Korruption und Netzwerke sind zu erhellen.

8. Journalismus darf „Rally around the flag“-Reflexen nicht folgen

Regierungen und Führer*innen sind gerade in Krisenzeiten oder während eines Krieges nüchtern und kritisch-kontrollierend zu begleiten. Journalismus ist kein Sprachrohr von Public Diplomacy. Auch bipolare Helden-Epen und Dämonisierungen sind zu hinterfragen. Informationelle Selbstbestimmung der Bürger*innen, Medienfreiheit, Whistleblower*innen und Pluralismus sind zu schützen.

9. „Embedded journalism“ professionell nutzen

Entsendungen von Reportern zu allen wichtigen Konfliktparteien (falls möglich). Professionelle Reflexion über die Besonderheiten des journalistischen Arbeitens unter diesen Bedingungen (Verhaltensregel-Vereinbarungen, Nähe zu Militärs, Zensur, Überwachung und Manipulation, thematische Einschränkungen etc.). Ausloten des Machbaren.

10. Kein Kolportage-Journalismus

Krisen- und Kriegsjournalismus darf nicht dazu degenerieren, Verlautbarungen, Proklamationen, PR und Propaganda mächtiger Kriegsparteien, Politiker*innen, Staaten, Institutionen und Organisationen zu kolportieren.

11. Vorschläge potentieller Mediatoren und Konfliktlöser einbringen

Regierungen und internationale Organisationen kommen mit ihren Lösungsvorschlägen, Mediationsangeboten und Verhandlungsforderungen ebenso zu Wort wie Stimmen aus der Zivilgesellschaft, etwa Intellektuelle oder Religionsvertreter*innen.

12. Medienjournalismus stärken

Als Teil der professionellen Medienkritik muss der Medienjournalismus gestärkt werden. Rezipient*innen müssen über Strukturen, Potentiale und Grenzen von Krisen- und Kriegsberichterstattung informiert werden. Medienjournalismus muss begleitend zur Krisen- und Kriegsberichterstattung über die Arbeit des eigenen Berufstandes fachkundige und kritische Diskurse führen.

13. Digital beschleunigte journalistische Produktionsprozesse reflektieren

Stets verfügbare digitale Informationen, z. B. auf Social-Media-Plattformen, verleiten u. a. zum virtuellen Copy-Paste- Büro-Journalismus. Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen sind dazu angehalten, sich stärker über Pro- und Contra digital beschleunigter journalistischer Produktionsprozesse und deren Auswirkungen auf den Krisen- und Kriegsjournalismus auseinanderzusetzen.

14. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk – der besonderen Verantwortung gerecht werden

Der weitgehend von marktwirtschaftlichen Zwängen befreite öffentlich-rechtliche Rundfunk trägt per Gesetz besondere Verantwortung für den demokratischen Diskurs. ARD und ZDF sollten eine gemeinsame digitale Auslands-Plattform bespielen, auf der neue Formate für Krisen- und Kriegsberichterstattung platziert werden. Dazu beitragen können u. a. die weltweit stark aufgestellten ARD- und ZDF-Korrespondentennetze.

15. Stärker berufsständisch organisieren

Um die Qualitätsdebatte über Krisen- und Kriegsjournalismus dezidierter mitgestalten zu können, sollten sich involvierte Journalist*innen als eigener Berufsstand organisieren – in ihren Berichtsgebieten und auch in ihren Herkunftsländern.

Dies ist ein Auszug (Vorwort, Kapitel 5 und 6) des OBS-Arbeitspapiers “Mediale Routinen und Ignoranz” von Lutz Mükke. Einige Links wurden nachträglich eingefügt. Die vollständige Langfassung mit Analysen und Schaubildern finden Sie hier.

Über Lutz Mükke, Jupp Legrand (Vorwort) / Otto Brenner Stiftung:

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