Wir leben im Zeitalter der Digitalen Revolution. Wikipedia meint dazu „Dieser Begriff bezeichnet den durch Digitaltechnik und Computer ausgelösten Umbruch, der seit Ausgang des 20. Jahrhunderts einen Wandel nahezu aller Lebensbereiche bewirkt und zu einem digital vernetzten Lebensstil führt.“ So wie bei der industriellen Revolution, die uns 200 Jahre zuvor in die Industriegesellschaft führte. Die Menschheit hat es erneut geschafft, durch Erfindungen und Umwälzungen, vor allem aber durch Übereinkünfte und kollektive Vorstellungen ein neues Miteinander zu schaffen.
So war es immer: Strafgerichtshof und Klimakonvention, NATO und Europol, Eurovision Song Contest und Handelsabkommen, Demokratie und Militär, aber auch Sklaverei und Folter – all das sind bekanntlich Regelungen, die von Menschen gemacht wurden. Sie wurden weder von Naturgesetzen vorgegeben noch vom Zufall geschaffen. Eine unübersehbare Vielfalt von Dingen würde es nicht geben, wenn nicht Menschen sie erdacht und zum Gegenstand ihrer kollektiven Welt gemacht hätten.
Unsere Zivilisation wäre nicht entstanden und beherrschend geworden, wenn die Menschen nicht über eine spezielle Fähigkeit verfügen und diese ununterbrochen anwenden würden. Sie erfinden Geschichten, bilden Institutionen, vereinbaren Verhaltensweisen und richten sich danach. Alle Gesellschaften und Weltanschauungen basieren auf irgendwelchen Mythen, die menschlich konstruiert sind. Wir benötigen sie, um der Gesellschaft eine Ausrichtung zu geben und sie funktionsfähig zu machen. Ziel ist, den bestmöglichen Mythos zu finden, dem möglichst viele vertrauen können. Auch wenn man mitunter zweifeln kann, ob bestimmte Ereignisse und Zustände mehr sind als ein Teil unserer kollektiven Fantasie.
Bekanntlich hört die Welt nicht auf, sich zu drehen. Manches, was früher unumstößlich schien, verändert sich plötzlich. So war es z.B. in der Aufklärung, als wir von feudalen Strukturen und einem religiös-dogmatischen Weltbild abrückten. Oder bei dem durch den Buchdruck veranlassten Umbruch. Und so geht es weiter. Jeden Tag gibt es eine Unzahl von neuen Erfindungen, Objekten, Produkten, Fakten, Begriffen und Bezeichnungen. Denken wir z.B. an Algorithmen, Apps, Fake News oder Künstliche Intelligenz. Manche kann man mit seinen fünf Sinnen erfassen, andere stehen nur auf dem Papier (oder im Internet). Manche sind real und nachvollziehbar, andere existieren nur abstrakt – weil jemand sie erfunden und benannt hat. Entscheidend ist, dass sie das menschliche Miteinander tiefgehend prägen und verbindlich gestalten.
Vieles würde es nicht geben, wenn nicht Menschen es ausgedacht und sich darauf geeinigt hätten.
So wurde z.B. den Gefühlen, die den Menschen angeboren sind, Bezeichnungen gegeben. Trauer und Hoffnung, Liebe und Schuld, Angst und Scham, Glück und Zufriedenheit. Wobei niemand weiß, ob sein Nachbar genau das Gleiche erlebt, wenn er von seinem Gefühl spricht. Doch jede/r ist überzeugt, dass es diese Gefühle gibt, auch wenn sie nicht zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu greifen sind.
Ähnlich ist es mit Begriffen wie Zukunft und Vergangenheit, Gesinnung und Gewissen, Macht und Freiheit. All diese für uns selbstverständlichen Ausdrücke existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt, ohne dass wir sie verbindlich beschreiben können. Ohne lange zu überlegen sprechen wir von Minuten, Stunden und Wochen; noch nicht einmal beim Gebrauch der Jahreszahl werden wir nachdenklich. Dabei verdanken wir all diese Einteilungen menschlichen Entscheidungen. Selbst die Wissenschaft ist letztlich ein menschliches Konstrukt, auch wenn sie mit naturgegebenen Fakten arbeite.
Den entscheidenden Teil unseres Lebens bestimmen Vereinbarungen darüber, wie die Gesellschaft aussehen soll. Schon in frühmenschlichen Zeiten gab es Geister und Mythen, die die Menschen als real ansahen, die aber nur in ihren Köpfen existierten. Dem folgten die Götterwelten – z.B. der Ägypter, Griechen und Römer – und die Glaubensgemeinschaften wie Christentum und Islam. Sie sind fest in der gemeinsamen Geschichte verbunden, und der kollektive Glaube daran hält die Mitglieder zusammen. Ohne Menschen gäbe es keine Götter. Früher war es einfach: Wenn man etwas nicht verstand, war ein Gott dafür verantwortlich. Im Laufe der Zeit sank die Zahl der „Unerklärlichkeiten“ und dementsprechend die Notwendigkeit von Göttern.
Das Gleiche gilt für eine Vielzahl von „Errungenschaften“. Gesetze und Gerichte, Geld und Patente, Sprache und Schrift, Ehe und Bildung, Nationen und Grenzen, selbst Menschenrechte und Regierungen, all das existiert nur, weil Menschen es ausgedacht und durchgesetzt, zumindest aber sich darauf verständigt haben. Besonders deutlich wird dies im Wirtchaftsleben. Kapitaleigner, Anwälte, Unternehmer und Konzerne können nur existieren und arbeiten, weil Übereinkommen über die Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit getroffen wurden. Dazu gehören einfache Regelungen wie Privateigentum und Vertragsfreiheit, aber auch anspruchsvolle Konstruktionen wie juristische Personen, Versicherungen, Steuerwesen und Kreditwirtschaft. 2)
Eine Kapitalgesellschaft ist unsichtbar. Da gibt es keinen Eigentümer, den man mit seinem Unternehmen identifizieren könnte. Sichtbar sind nur Produktionsanlagen, Hallen, Fahrzeuge, Arbeitskräfte, Erzeugnisse usw. Für diesen Zweck haben Menschen z.B. die besondere Konstruktion der Gesellschaft mit beschränkter Haftung erfunden, die den gemeinsamen Einsatz anonymen Kapitals verschiedenster Investoren ermöglicht.
Ohne Geld könnten wir leben, ohne Wasser nicht
Heute fungiert offenbar der Markt als höchste Autorität. Er ist bekanntlich ein starker Mechanismus, auf den vertraut wird. Auch Staaten, die sich für die Planwirtschaft entschieden haben, werden spätestens dann, wenn sie sich international betätigen, mit den Gesetzen des Weltmarktes konfrontiert. Natürlich ist der Markt keine objektive, unumstößliche Tatsache. Die (meisten) Menschen haben sich jedoch entschieden, an seine Gesetze zu glauben und danach zu handeln..
Deshalb vertrauen sie auch dem Wert des Geldes. Obwohl es nur ein Stück Papier oder Metall ist oder irgendwo verbucht wird, streben alle danach. Geld scheint unverzichtbar zu sein, streng genommen ist es das aber nicht. Ohne Geld könnten wir leben, ohne Wasser zum Beispiel nicht. Selbstverständlich wäre eine Gesellschaft ohne Geld möglich, wenn sie denn gewollt wäre. Doch den von Menschen gemachten Mythen kann man offenbar nicht entrinnen.
1) Thomas Steininger und Thomas Björkmann: Die Welt, die wir erschaffen. Evolve world vom 1. August 2021
2) Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München 2013, S. 41 ff.
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