Die Hintergründe der Aussetzung des KSE-Abkommens durch Russland

Der Ressortleiter Aussenpolitik der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, schreibt am 16.05.23 in seinem Kommentar zur aktuellen Ankündigung Russlands, den KSE-Vertrag aufzukündigen, dass diese Aufkündigung ohnehin nur symbolischen Wert habe, denn, so seine Begründung: „Der KSE-Vertrag war schon seit 2007 nichts mehr wert, weil Russland die Umsetzung aussetzte. Den Nachfolgevertrag [gemeint : A-KSE] ereilte dasselbe Schicksal.“ Hier soll nun gezeigt werden, dass diese einseitige Schuldzuweisung an Russland ein Beispiel für eine irreführend verkürzte Darstellung der historischen Vorgänge ist.

Der KSE-Vertrag (Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa) wurde von den Mitgliedsstaaten der KSZE 1990 beschlossen und trat 1992 in Kraft. Er ist damit ein Beispiel für ein Abrüstungsabkommen, das in der Tauwetterphase nach dem Ende des Kalten Krieges möglich war. Der KSE-Vertrag ist zu sehen im Kontext der Charta von Paris, ebenfalls 1990, in der sich die europäischen Staaten sowie Kanada und die USA zu einer einvernehmlichen Sicherheitspolitik verpflichteten. In diesen Kontext gehörten auch die vielen Beteuerungen im Zusammenhang mit der Aushandlung der Deutschen Einigung, dass die Nato nicht nach Osten expandieren werde: „U.S. could make ‘iron-clad guarantees’ that NATO would not expand ‘one inch eastward’“, so z.B. der damalige US-Außenminister James Baker(1).

Der KSE-Vertrag begrenzte die Zahl der konventionellen schweren Waffen wie Kampfpanzer, Artillerie und Militärflugzeuge. Sein Geltungsgebiet war der geographische Kontinent Europa, also das Gebiet zwischen Atlantik und Ural und sah entsprechende Überprüfungsmechanismen vor. Der Vertrag entsprach insbesondere dem westlichen Interesse, weil der damals noch bestehende Warschauer Pakt mehr solcher konventioneller Waffen besaß als die NATO.

Mit dem entgegen Bakers mündlicher Zusicherung schließlich doch erfolgten Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO 1997 veränderte sich jedoch die Situation. Russland sah dadurch die Pariser Vereinbarungen und das fragile Ost-West-Gleichgewicht verletzt. Die NATO war damals noch bemüht die russischen Bedenken zu zerstreuen: In der NATO-Russland-Grundakte wurde zugesichert, keine neuen NATO-Truppen in den Beitrittsländern dauerhaft zu stationieren.

Trotz der schwierigen politischen Lage – 1999 war das Jahr des Kosovo-Kriegs und des Tschetschenienkriegs – konnte im November 1999 ein Anpassungsabkommen zum KSE-Vertrag ausgehandelt werden, das A-KSE, in dem man sich auf eine neue militärische Balance geeinigt hat. Ergänzt wurde der A-KSE durch die Istanbul-Commitments, die den Abzug russischer Truppen aus georgischen Gebieten vorsahen, die dort aufgrund eines Vertrages nach 1994 als von der UN und der OSZE anerkannte Friedenstruppen stationiert waren.

Während Russland, die Ukraine, Belarus und Kasachstan diesen A-KSE-Vertrag ratifizierten, wurde er von den NATO-Staaten jedoch nicht ratifiziert. Hintergrund ist ein Politikwechsel des Westens unter der Führung des US-Präsidenten Bush jr. Die Begründung des Westens für die Nichtratifizierung war im Wesentlichen, dass die Istanbuler Absprachen zum Truppenrückzug aus Georgien nicht eingehalten worden seien. Ein solches Junktim zwischen den Istanbuler Commitments und dem A-KSE war jedoch vertraglich nicht festgelegt. Und selbst als Russland 2006 die Truppenabzugsbedingungen weitgehend erfüllt hatte, wurde dieser Vorwand zur Nichtratifizierung des A-KSE nicht aufgegeben.

2004 erfolgte eine weitere Osterweiterung der NATO; mit den baltischen Ländern traten nun Staaten dem westlichen Bündnis bei, die nicht den KSE-Verpflichtungen unterlagen. Dadurch wurde die im A-KSE gefundene Balance wiederum ähnlich gestört wie das Gleichgewicht des alten KSE nach der ersten NATO-Erweiterungsrunde. In den neuen NATO-Ländern an der Ostsee und am Schwarzen Meer wurden nun rotierende NATO-Truppen stationiert – so umging man einen offenen Bruch des Abkommens, das die dauerhafte Stationierung untersagte (Deutschland beteiligt sich daran). Ferner wurden in Polen, Tschechien und Rumänien Raketenbasen stationiert, die kaum mit dem KSE, der Russland-Nato-Grundakte und der Charta von Paris vereinbar waren. Den ABM-Vertrag, der die Stationierung ballistischer Raketen regelte, hatte die Bush-Regierung bereits 2001 gekündigt.

Zeitlich parallel zu diesen Entwicklungen in Europa führten die USA nur fadenscheinig legitimierte Angriffskriege in Afrika und Vorderasien, z.B. den Irak-Krieg. Die USA zeigten damit ihre Bereitschaft zu Angriffskriegen und damit zur Verletzung des Völkerrechts. Dadurch wurden auch die vielen Beteuerungen, die NATO-Expansion richte sich nicht gegen Russland, fragwürdig. Die USA betrieben eine geo-hegemoniale Politik, die auch russische Interessen tangieren musste. Hinzu kam ab 2002 ein neues militärisches Engagement der USA in Georgien, an der russischen Südflanke. All dies zusammen gesehen, war die aggressive Politik der Bush-Regierung zweifellos eine sicherheitspolitische Herausforderung für Russland. Auch die 2007 schon deutlich betriebene und 2008 erfolgte Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und deren Anerkennung ist in diesem Zusammenhang zu nennen – ein Präzedenzfall, bei dem erstmals nach dem 2. Weltkrieg innerhalb Europas die territorialen Grenzen infolge eines Krieges verändert wurden.

Einen letzten Versuch, den KSE-Prozess zu retten, unternahm Putin im Februar 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz – ohne Erfolg. Vor diesem geschilderten Hintergrund reagierte Russland im Jahr 2007 mit der Aussetzung des KSE, die Kornelius in der SZ so verkürzend beschrieben hat.

Nachtrag: Die fast schon propagandistisch zu nennende Tendenz der SZ zeigt sich unter anderem auch daran, dass in dieser Zeitung bereits mehrmals der Kriegsbeginn 2008 in Georgien als russischer „Überfall“ bezeichnet wurde (2). Jedoch wurden die militärischen Kampfhandlungen damals von Georgien begonnen, wie in einem Bericht der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini im Auftrag der EU abschließend geklärt wurde. Ob Georgien durch die Unterstützung der NATO und den Abzug des Großteils der russischen Truppen zu diesem Angriff auf russische Truppen ermuntert wurde, kann hier nicht erörtert werden. Aber eine Mitverantwortung des Westens an den Entwicklungen aufgrund und nach der Beendigung der russisch-europäischen Sicherheitszusammenarbeit muss man leider einräumen (3).

(1) vgl. Joshua R. Itzkowitz Shifrinson: A NATO deal unravelled. Los Angeles Times, May 30, 2016, Pg. 11

(2) z.B. Frank Nienhuysen: Und wann kommt Putin?” (30.03.22), und Georg Mascolo: „Verkannte Gefahr“ am 03.04.23

(3) Diese heutzutage oft als putinversteherisch denunzierte Auffassung, die man kaum noch in den Medien findet, war vor einigen Jahren noch so akzeptabel, dass sogar sie sogar Platz fand auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung. Der vorliegende Text folgt in vielen Punkten diesem lesenswerten Artikel.

Der Autor ist Mitglied der Finanz-AG bei Attac-Düsseldorf.

Über Joachim Braun / Gastautor:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.