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Humaner Krieg

Es gibt kaum zwischenstaatliche Beziehungen, die nicht durch völkerrechtliche Verträge geregelt sind. Das gilt sogar für den Krieg. Etliche Abkommen normieren Prinzipien, Regeln und Verbote für die Beteiligten bewaffneter Konflikte, sie werden zusammen als Humanitäres Völkerrecht bezeichnet – früher ‘Kriegsvölkerrecht’. Für die Einhaltung der Vorgaben des HVR sind die nationalen Institutionen verantwortlich. Dazu gehört auch die Pflicht zur Ahndung von Kriegsverbrechen und die entsprechende internationale Rechtshilfe. Zudem hat sich inzwischen ein Völkerstrafrecht entwickelt, das eine Strafverfolgung durch internationale Gerichte erlaubt. Für die Verfolgung besonders schwerer Straftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression ist der 2002 gegründete Internationale Strafgerichtshof zuständig ist. Seine Statuten und das Humanitäre Völkerrecht sind Grundlage seiner Strafverfahren.

Ein Mindestmaß an Menschlichkeit muss gewahrt bleiben

Das Humanitäre Völkerrecht will im Fall eines Krieges oder eines anderen internationalen bewaffneten Konflikts den weitestmöglichen Schutz von Menschen, Gebäuden, Infrastruktur und Umwelt sicherstellen. Kerngedanke ist die Überzeugung, dass es auch in einem bewaffneten Konflikt zu keinem Zeitpunkt einen völlig rechtsfreien Raum oder eine Situation ohne jegliche Gesetze geben darf. Ein Mindestmaß an Menschlichkeit muss gewahrt bleiben.

Dieses Rechtssystem ist recht heterogen, da es auf einer Vielzahl von völkerrechtlichen Verträgen und auf Gewohnheitsrecht basiert. Es enthält Regeln zu zulässigen und unter-sagten Mitteln und Methoden der Kriegsführung, zur Behandlung geschützter Personen (Verwundete, Kriegsgefangene, Zivilpersonen, zum Schutz von Kulturgütern und zur Verfolgung von Kriegsverbrechen. In der Gewalt einer gegnerischen Partei befindliche Kämpfer und Zivilisten haben Anspruch auf Achtung ihres Lebens und ihrer Würde. Personen, die sich ergeben haben oder verletzt sind, dürfen nicht weiter bekämpft werden. Heimtückisches Handeln und Angriffe auf Anlagen mit hohem Gefährdungspotential wie Atomkraftwerke und Staudämme sind verboten.

Das Humanitäre Völkerrecht kennt einige zentrale Grundsätze. Das Prinzip der militärischen Notwendigkeit besagt, dass jede militärische Maßnahme zeitlich, räumlich sowie bezüglich ihrer Auswirkungen aufgrund der militärischen Strategie und Taktik geboten sein muss. Militärische Ziele sind nur solche Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren Zerstörung, Inbesitznahme oder Neutralisierung einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt. Waffen und Methoden, die überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden verursachen, sind verboten. Hinsichtlich des Personenschutzes unterscheidet das Humanitäre Völkerrecht zwischen Kombattanten, die bekämpft werden dürfen, und Nichtkombattanten (Sanitäts- und Seelsorgepersonal und vor allem Zivilisten).

Das Unterscheidungsprinzip verlangt die strikte Trennung zwischen Militär und militärischen Einrichtungen einerseits und Zivilbevölkerung und zivilen Objekten andererseits. Die angegriffene Partei ist daher verpflichtet, ihre Bevölkerung so gut wie möglich zu schützen, vor allem durch angemessene Entfernung von militärischen Objekten. Zivilpersonen dürfen nicht als Schutzschild für militärische Anlagen missbraucht werden.

Aber auch bei einem auf militärische Ziele gerichteten Angriff können geschützte Personen und Objekte getötet oder zerstört werden. Solche „incidental losses“, eher als Kollateralschäden bekannt, sollen laut Humanitärem Völkerrecht durch genaue Prüfung, Auswahl und Planung vermieden oder zumindest begrenzt werden. Erwartet wird sogar, dass dann, wenn schwerwiegende Kollateralschäden nicht vermeidbar sind, auf einen Angriff verzichtet wird. Sind diese nicht auszuschließen, so muss der militärische Vorteil überwiegen (Notwendigkeitsprinzip) und der Schaden so klein wie möglich gehalten werden (Verhältnismäßigkeitsprinzip). Das bedeutet z.B., dass Großflächenbombardements verboten sind.

Verstöße gegen die genannten Regeln sind rechtswidrig, aber nur in schwerwiegenden Fällen Kriegsverbrechen, die international zu verfolgen sind. Repressalien sind unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, allerdings nicht gegen Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Sanitäts- und Seelsorgepersonal, Kriegsgefangene, Sanitätseinrichtungen und -material, Umwelt, Kulturgut, sowie Zivilpersonen und deren Eigentum. Auch der Einsatz von Minen, Sprengfallen und vergleichbaren Waffen als Repressalie ist untersagt.

Hilfe für verwundete Soldaten und Schutz der beteiligten Hilfskräfte

Schon 1360 gab es eine erste Abhandlung zum Verhalten im Kriegsfall. Das Werk ‘Tractatus de Bello’ definierte rechtmäßige Gründe für einen Krieg und enthielt Vorgaben zur Behandlung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen. 1863 erließ der US-amerikanische Präsident Lincoln ein Regelwerk für die Truppen der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, doch galten diese Normen nur für die eigenen Soldaten. Ausgangspunkt des Humanitären Völkerrechts ist die Genfer Konvention, die 1864 auf Initiative von Henry Dunant (Gründer des Roten Kreuzes) entstand. Zwölf Staaten unterzeichneten einen völkerrechtlichen Vertrag mit Festlegungen zur Hilfe für verwundete Soldaten und zum Schutz der beteiligten Hilfskräfte.

Mit der Petersburger Erklärung von 1868 wurden Sprenggranaten und damit erstmals ein konkretes Waffensystem verboten. Auf einer Konferenz 1874 in Brüssel wurde eine von dem russischen Völkerrechtler Martens entworfene ‘Deklaration über die Gesetze und Gebräuche des Krieges’ verabschiedet, jedoch von den meisten Ländern nicht ratifiziert. Dies folgte erst 1899 in Den Haag als ‘Haager Landkriegsordnung’, die vor allem Regeln zur Kriegsführung kodifizierte und nach Ratifizierung durch 49 Staaten in Kraft trat. Ihre Prinzipien gelten als Völkergewohnheitsrecht auch für jene Staaten, die dem Vertrag nicht beigetreten sind, und für landesinterne bewaffnete Konflikte größeren Umfangs. Einzelheiten sind inzwischen durch die Rechtsprechung internationaler Gericht fixiert worden. Ein Schwerpunkt des Humanitären Völkerrechts ist dies jedoch nicht.

Neue Regelungen betrafen die Ausweitung auf den Seekrieg, das Verbot von erstickenden oder giftigen Gasen und der Schutz historischer Denkmäler, Bildungseinrichtungen und Institutionen von religiöser, gemeinnütziger, künstlerischer oder wissenschaftlicher Bedeutung vor Beschlagnahme oder Zerstörung. Vereinbart wurde zudem eine Allbeteiligungsklausel. Sie besagt, dass die Abkommen nur gelten, wenn alle an einem Konflikt beteiligten Staaten Vertragsparteien sind. Die Zweite Haager Friedenskonferenz regelte 1907 die Rechte und Pflichten neutraler Staaten und Personen und konkretisierte einzelne Schutzmaßnahmen im Seekrieg.

Der Erste Weltkrieg zeigte, dass nicht alle Vereinbarungen eingehalten wurden. So setzten die Deutschen 1917 und die Franzosen 1918 Giftgas ein, was zu 20.000 bis 50.000 Toten und zu 500.000 bis 1.200.000 Verwundeten führte. Dies war 1925 Anlass zum Abschluss des Genfer ‘Protokolls über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie bakteriologischen Mitteln’. Diese Konvention war erfolgreich; im Zweiten Weltkrieg wurden keine chemischen Kampfstoffe eingesetzt. 1929 folgte ein Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen, da sich im Weltkrieg immense humanitäre Probleme gezeigt hatten. Die Allbeteiligungsklausel wurde gelöscht, da sich gezeigt hatte, dass sie die Akzeptanz und Umsetzung der Konventionen beeinträchtigt hatte.

Im Zweiten Weltkrieg wurde durch Flächenbombardements und eine Politik der Verbrannten Erde vor allem gegen die Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung und gegen die Vorgaben zur Behandlung von Kriegsgefangenen verstoßen. Daher wurden 1949 vier weitere Genfer Abkommen vereinbart: ‘Menschliche Behandlung der Kriegsgefangenen’, ‘Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Feld’ und „der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen zur See’; sowie ‘Schutz und Menschenrechtsgarantien von Zivilpersonen in Kriegszeiten’. Die menschliche Behandlung muss ohne Unterscheidung nach „Rasse, Farbe, Religion, Glaube, Geschlecht, Geburt oder Vermögen“ erfolgen. Damals wurde auch das Recht des 1863 gegründeten Roten Kreuzes (und seiner Partnergesellschaften) auf ungehinderte Hilfeleistung festgeschrieben.

1951 trat die 1948 vereinbARTE “Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes” in Kraft. Sie ist eines der ersten Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen. Verabschiedet wurde sie vor allem als Konsequenz aus dem Holocaust. Inzwischen haben mehr als 150 Staaten das Vertragswerk ratifiziert. Die Bestrafung des Völkermords soll vorrangig durch die Gerichte des Staates erfolgen, in dem die Tat begangen wurde. Da ein derartiges Verfahren dann problematisch ist, wenn die Organe des betreffenden Staates selbst gegen die Konvention verstoßen haben, gibt es einen Kompromiss, nämlich die Möglichkeit zur Schaffung einer besonderen internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die danach einsetzende völkerrechtliche Diskussion führte schließlich zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs, der 2002 seine Tätigkeit aufnahm.

Nach 1945 sind das Übereinkommen zum Schutz von Kulturgütern (1954), das Umweltkriegsabkommen (1977), das Verbot biologischer Waffen (in Kraft 1975), das UN-Waffenübereinkommen (u.a. Verbot von Splitterbomben, Sprengbomben, Minen) (1980), die Chemiewaffenkonvention (1993), das Ottawa-Abkommen über das Verbot von Personenminen (1997) und das Übereinkommen über Streumunition (2010) hinzugekommen. Seit 1977 arbeitet die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission, ein Gremium von 15 unabhängigen Experten, das in jenen knapp 80 Staaten, die seine Zuständigkeit anerkannt haben, schwere Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht untersucht. Die Zustimmung der Staaten kann auch ad hoc erfolgen. Die Kommission ist ein ständiges UN-Organ, hat aber nur investigative und dokumentarische Zuständigkeiten.

Das Gewaltverbot der UN-Charta

Die UN-Charta schreibt in Art. 2,4 ein umfassendes Gewaltverbot fest: Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet ist: “Nur im Falle der Selbstverteidigung und bei Zustimmung durch den UN-Sicherheitsrat ist die Anwendung von Gewalt gestattet (Art. 51). Dennoch gibt es immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb von Staaten. Das Humanitäre Völkerrecht will dafür sorgen, dass auch während der Kampfhandlungen ein Mindestmaß an Menschlichkeit eingehalten wird. Es ist damit quasi eine Notlösung des Völkerrechts und schafft Regeln für Fälle, die es eigentlich gar nicht geben darf. Anders gesagt: Das Humanitäre Völkerrecht versucht also, einen Rechtsrahmen für einen an sich völkerrechtswidrigen Zustand zu definieren.

Letztlich heißt das, dass ein Staat, der sich bezüglich der Gewaltfreiheit nicht an die UN-Charta hält, nun gehalten sein soll, andere Regeln des Völkerrechts zu beachten. Dabei sind solche Einschränkungen und Verbote aus der Sicht einer kriegsführenden Partei nur hinderlich. Um wirken zu können, muss das Humanitäre Völkerrecht also die Existenz des Krieges anerkennen und sich auf grundlegende Garantien beschränken. Je weitgehender der vorgegebene Schutz ist, umso geringer ist die Bereitschaft der Kriegsführenden, sich daran zu halten. Der Schutz Dritter bedeutet für sie nämlich gleichzeitig eine Einschränkung der eigenen militärischen Chancen.

Keine Berechtigung zur Führung eines Krieges

Nach den Gründen bzw. einer etwaigen völkerrechtlichen Berechtigung zur Führung eines bewaffneten Konflikts fragt das Humanitäre Völkerrecht nicht. Für seine Anwendung ist es unwichtig ist, wer Schuld trägt. Alle Parteien sind an diese Konventionen gebunden, unabhängig davon, wer für den Kriegsausbruch verantwortlich ist. Das Humanitäre Völker-recht fragt nicht, wer Recht oder Unrecht hat. Nur mit dieser Vorgabe kann es den Anspruch auf Gegenseitigkeit und absolute Geltungskraft erheben.

Wenn alle Staaten die Vielzahl von Regelungen und Verboten, die inzwischen das Humanitäre Völkerrecht prägen, akzeptieren und anwenden würden, wäre die Welt um einiges friedlicher und menschlicher. Doch werden die Konventionen immer wieder massiv ignoriert. Und wir müssen davon ausgehen, dass es auch künftig bewaffnete Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen geben wird. Das Humanitäre Völkerrecht erhebt nicht den Anspruch, Kriege zu verhindern. Es will sie nur weniger grausam machen. Dazu gehört auch die Fortschreibung seiner Konventionen. Sie entstanden in der Regel als Reaktion auf Missstände der Vergangenheit, nicht vorausschauend. Noch nicht in Paragrafen gefasste Problemfelder sind z.B. Drohnen oder Söldnertruppen.

Trotz seiner inhaltlichen und praktischen Unzulänglichkeiten hat die Existenz und Respektierung des HVR Millionen Menschen das Leben gerettet, unnötiges Leid verhindert und die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen abgemildert. Die Wirksamkeit und Notwendigkeit des Humanitären Völkerrechts wird auch nicht durch die (bislang nicht bewiesene) Vermutung in Frage gestellt, dass es Kriege erträglicher und damit wahrscheinlicher machen würde, indem es den Eindruck erweckt, es gäbe menschliche Kriege.

Exkurs: Die Frage, ob Putin (oder andere Vertreter/innen Russlands) für Kriegsverbrechen in der Ukraine angeklagt und verurteilt werden kann, wird von Völkerrechtler/innen intensiv diskutiert. Russland ist Mitglied bei allen wichtigen Konventionen des Humanitären Völkerrechts. Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass die Vorkommnisse in der Ukraine ein Handeln des IStGH rechtfertigen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen durch Angriffe auf zivile Ziele, militärische Aggression (auch ein Verstoß gegen die UN-Charta). Völkermord wird nicht gesehen. Konkret benannt werden die Gräueltaten in den zeitweise besetzten Gebieten, Folter und Tötung von Kriegsgefangenen, Entführung von Kindern und die Belagerung von Mariupol, die die Bevölkerung von Nahrung, sauberem Wasser, medizinischer Versorgung und Strom abschnitt. Der Internationale Strafgerichtshof hat inzwischen Ermittlungen eingeleitet.

 

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

2 Kommentare

  1. Heiner Jüttner

    Berichtigung: Im Absatz über die Völkermordkonvention fehlt eine Zahl. Es muss heißen “mehr als 150 Staaten”.
    Der Autor

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