Wie die Reportage-Formate von funk Wirklichkeit konstruieren
Fazit und Ausblick: Ein neuer „Neuer Journalismus“?
Die Ausprägungen der verschiedenen Dimensionen der journalistischen Wirklichkeitskonstruktion durch die Presenter-Formate des ARD-ZDF-Content-Netzwerks funk wurden anhand der Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse beschrieben. Im Folgenden werden diese Ergebnisse nun anhand der eingangs formulierten (Teil-)Fragen und Erwartungen zusammengefasst und davon ausgehend die übergeordnete Leitfrage – wie jene Presenter-Reportagen soziale Wirklichkeit journalistisch konstruieren – beantwortet. Abschließend wird knapp der Einfluss der untersuchten Formate auf die „Gesamt-Figuration“ (Hepp/Hasebrink 2017; Hepp et al. 2021) des Journalismus beurteilt – insbesondere hinsichtlich des Genres der Reportage und des Berichterstattungsmusters des New Journalism.
6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Darstellung der Kernergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse erfolgt – argumentativ anschlussfähig und zur besseren Übersicht – unter Bezugnahme auf die in Kapitel 4.1 formulierten Teilfragen und Erwartungen der Untersuchung sowie aus einer formatübergreifenden Perspektive:
1. Welche Themengebiete dominieren die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate und welche Strategien der Zielgruppenansprache werden dabei genutzt?
Anders als zunächst angenommen liegt der thematische Schwerpunkt der funk-Reportagen weniger auf gesellschaftlichen Themen wie Politik oder Wirtschaft (26,8 Prozent), als vielmehr auf Lebensweltthemen (52,2 Prozent) mit einer hohen Bedeutung für die junge Zielgruppe (zum Beispiel Sexualität, Drogen, Gesundheit/Krankheit und insbesondere Jobs/Berufe).
Lebensweltthemen bilden den Schwerpunkt der funk-Reortagen
Erwartet wurde hingegen die Dominanz gefühlsorientierter Zielgruppenansprachen, wenn auch nicht im gegebenen Ausmaß (90,6 Prozent), sodass die geringen Anteile alternativer Aufbereitungsstrategien (beispielsweise skandalorientierter mit nur 5,9 Prozent) überraschen. Die zielgruppen-affinen Lebensweltthemen vermitteln die Reporter:innen also ganz überwiegend emotional-erzählerisch.
2. Welche Berichterstattungsmuster dominieren die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate?
Passend zu den genannten Befunden ist auch, dass der subjektive New Journalism als Berichterstattungsmuster klar dominiert (79 Prozent), während klassisch narrative (8,6 Prozent) und investigative Muster (5,1 Prozent), die beide auch für den New Journalism charakteristisch sind, deutlich seltener allein auftreten und andere journalistische Konzepte quasi nicht vorkommen
3. Welche Darstellungsformen prägen die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate?
Wie aufgrund der Auswahl der „Reporter“-Formate als Untersuchungsgegenstände zu erwarten, ist die Reportage die dominante Darstellungsform (79,6 Prozent), wird aber durch Elemente des Interviews vielfach zu einem narrativ-dialogischen Hybrid ausgeformt. Als häufigste Formen treten Personen- (Porträt-), Milieu- und Rollenspiel-Reportagen (Selbstversuche) auf; 95,7 Prozent der untersuchten Reportagen enthalten dazu – genre-untypisch – die explizite Meinung der Reporter:innen vor der Kamera .
4. Welche Informationsquellen prägen die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate?
Eine breite Auswahl verschiedener Quellenformen gibt es nicht: Stattdessen sind in vier von fünf Beiträgen der untersuchten funk-Formate (80,3 Prozent) entweder Protagonist:innen oder Reporter:innen die zentralen Informationsquellen, was der expliziten Subjektivität in Form von entweder Reporter:innen- oder Quellen-Subjektivität (vgl. Steensen 2017) geschuldet ist. Andere Quellen, insbesondere non-personale Quellen wie Dokumente, werden dagegen deutlich seltener (sichtbar) eingebunden.
5. Welche Akteure sind für die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate bedeutsam?
Hier zeigt sich deutlich, was bereits die Analyse der Hauptinformationsquellen nahelegt: Protagonist:innen (zusammen 54 Prozent) und Reporter:innen (31,7 Prozent) sind die mit Abstand am häufigsten auftretenden Akteursgruppen: Während beispielsweise Expert:innen oder Bürger:innen nur am Rande vorkommen, ist für die meisten Beiträge eine Kombination aus Reporter:in und Protagonist:in charakteristisch, wobei die Rollen als Haupt- oder Nebenakteure unterschiedlich verteilt sein können.
Berlin, NRW, Hamburg und Bayern dominieren als Bundesländer die Berichterstattung
6. Welche Orte und Regionen prägen die journalistische Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate?
Deutschland ist mit 85,9 Prozent eindeutig das zentrale Ereignisland (vgl. Abbildung 23). Über Themen mit Auslandsbezug berichten nennenswert nur Y-Kollektiv (28,1 Prozent) und STRG_F (24,9 Prozent, siehe jeweils Abbildung 24). Während ein Drittel aller Beiträge bundesweit ‚spielt‘, dominieren die jeweiligen Produktionssitze der untersuchten ARD-ZDF-
funk-Formate die gewählten Bundesländer der Berichterstattung: Berlin, NRW, Hamburg und Bayern kommen deutlich häufiger vor als beispielsweise die ostdeutschen Bundesländer. Die meisten Themen sind zudem in Großstädten angesiedelt; kleine und mittlere Städte sowie Dörfer sind dagegen nur in rund elf Prozent der untersuchten Beiträge Orte des Geschehens.
7. Welche Interaktionen der Nutzer:innen erfolgten nach der Publikation der Beiträge der funk-Reporter:innen-Formate?
Während STRG_F und Y-Kollektiv auf deutlich höhere Zahlen bei Abonnent:innen ihres Kanals, durchschnittlichen Abrufen der einzelnen Beiträge sowie deren Likes und Kommentaren kommen, ist das Interaktionsniveau insgesamt hoch . Besonders Beiträge, die bereits vergleichsweise lange auf YouTube verfügbar sind, generieren hohe Abrufzahlen von mehr als vier bzw. fünf Millionen Aufrufen (durch eine sogenannte Long-Tail-Strategie der Einzelformate über Drittplattformen, mittels derer über lange Zeiträume Reichweite realisiert wird).
8. Wie werden die Themen und Akteure in der Berichterstattung der funk-Reporter:innen-Formate bewertet und welche Tendenzen weisen die Beiträge auf?
Anders als aufgrund der publizistischen Mechanismen sozialer Medien zur Gewinnung von Aufmerksamkeit zu erwarten, wird die prozentuale Mehrheit der behandelten Themen/Ereignisse nicht negativ (38,3 Prozent), sondern neutral bewertet (45,5 Prozent). Auffällig sind hier die Unterschiede zwischen den Formaten: STRG_F und Y-Kollektiv zeigen eine absolute Mehrheit negativer Beiträge, während beispielsweise bei follow me.reports jeder dritte Beitrag sein Thema positiv rahmt und Die Frage mit 83,3 Prozent in vier von fünf Beiträgen eine neutrale bzw. ausgeglichene Perspektive wählt. In mehr als 97 Prozent aller Beiträge ist eine subjektive Tendenz (oft durch die Reporter:innen) erkennbar, eine objektive Thematisierung wurde kaum vorgenommen (in weniger als drei Prozent der Beiträge).
9. Welche journalistischen Qualitätskriterien werden in der Berichterstattung der funk-Reporter:innen-Formate erfüllt?
Formatübergreifend sind insbesondere Authentizität (90,6 Prozent), Partizipativität (82,9 Prozent), Emotionalität und Exklusivität (beide 78,1 Prozent) und Narrativität (69,5 Prozent) stark ausgeprägt. Damit werden eher unterhaltende, erzählende und gefühlsorientierte Kriterien erfüllt. Transparenz, Nutzwert und Reflexivität sind hingegen in der Mehrheit der Beiträge nicht gegeben, auch Ansprüche an Relevanz und Vielfalt können in einem maßgeblichen Teil der Beiträge (jedem vierten bzw. jedem dritten Beitrag) nicht eingelöst werden. Die eingangs formulierte, übergeordnete Forschungsfrage, wie die funk-Presenter-Reportagen soziale Wirklichkeit journalistisch konstruieren, lässt sich auf dieser Grundlage wie folgt beantworten:
Die journalistische Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit erfolgt überwiegend über Lebensweltthemen, die gefühlsorientiert an die jungen Zielgruppen vermittelt werden. Durch Interviews hybridisierte Reportagen, die sich vor allem Personen, sozialen Milieus und journalistischen Selbstversuchen widmen, nutzen die Konstellation aus Reporter:innen und Protagonist:innen, um Geschichten, die mehrheitlich in deutschen Großstädten ‚spielen‘, aus einer stark subjektiven Perspektive und unter expliziten Meinungsäußerungen der Journalist:innen zu erzählen. Der New Journalism prägt als absolut dominantes Berichterstattungsmuster die Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate, wurde unter den Bedingungen von Social Media jedoch für die junge Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen aktualisiert und für Web-Video-Formate modifiziert, zum Beispiel über die aktive Rolle von On-Reporter:innen oder Aufrufe an das Publikum zur Kommentierung der Inhalte am Ende eines Beitrags.
Zwei Formen der Presenter-Reportage bei funk: reporter- und protagonistengetriebene Formate
Dabei kristallisieren sich innerhalb der funk-Formate zwei Formen von Social-Web-Presenter-Reportagen heraus: Reporter-getriebene Formate wie Y-Kollektiv und STRG_F setzen eher auf ‚harte‘ Gesellschaftsthemen, gehen teilweise investigativ vor, erkunden Milieus, berichten über politische Ereignisse, stellen Auslandsbezüge her und stellen Reporter:innen als zentrale Akteure und Informationsquellen in den Mittelpunkt ihrer Filme. Sie sind dadurch von einer Reporter-Subjektivität geprägt. Protagonisten-getriebene Formate wie follow me.reports und Die Frage thematisieren konsequenter Lebenswelt- und Zielgruppenthemen, porträtieren Menschen und deren Einzelschicksale ausschließlich in Deutschland und führen öfter journalistische Selbstversuche durch. Ihre zentralen Akteure und Informationsquellen sind Protagonist:innen, die von den ‚Hosts‘ der Formate in Interview-Reportagen zu ihren emotionalen Geschichten befragt und dabei begleitet werden, weshalb die von diesen Formaten abgebildete Realität eher durch eine Quellen- oder Protagonist:innen-Subjektivität konstruiert wird. Mit Abstrichen fällt auch das Format reporter in diese Kategorie, da es in den zentralen Merkmalen eine größere Nähe zu follow me.reports und Die Frage aufweist.
6.2 Ausblick: Bedeutung für die Praxis der Reportage und des Qualitätsjournalismus
Vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse, aus denen sich Muster und Mechanismen der Berichterstattung der untersuchtenfunk-Presenter-Formate ableiten und Rückschlüsse auf deren journalistische Konstruktion sozialer Wirklichkeit ziehen lassen, ergeben sich weiterführende Fragen, die auch entsprechende Anschlussforschung anleiten können. Die
funk-Presenter-Reportagen, so unterschiedlich die einzelnen Formate und ihre konkreten Filme auch sind, stellen in vielfacher Hinsicht Hybride traditioneller Darstellungsformen und Muster der Berichterstattung dar, die klassische Reportagen entgrenzen und unter den Bedingungen von Social Media dekomponieren sowie die subjektiven Reporter:innen-Perspektiven des New Journalism in der Tradition von Tom Wolfe oder Hunter S. Thompson für die jungen Zielgruppen der 14- bis 29-Jährigen aktualisieren.
Die funk-Formate entgrenzen die klassische Darstellungsform der Reportage unter den Bedingungen von Social Media
Ob dieser Ansatz, erweitert um Stilmittel wie popkulturelle Anspielungen, Jugend- und Umgangssprache oder den untermalenden Einsatz thematisch passender, aktueller Musik (vgl. auch Drössler 2021) bereits ein eigenes Journalismus-Konzept begründet, soll und kann hier nicht bewertet werden. Die journalistisch ebenso explizit wie ostentativ praktizierte Subjektivität (beispielsweise durch eigene Meinungen, Gefühle und Erfahrungen der Reporter:innen) spricht aber für die Ausprägung einer sich dezidiert vom traditionellen und nach wie vor dominanten ‚objektiven‘ Informationsjournalismus abgrenzenden Form eines subjektiven Journalismus, der sich in den vergangenen Jahren nicht nur im Bewegtbild, sondern unabhängig von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch in narrativen Podcast-Formaten (vgl. Schlütz 2020; Lindgren 2016), Printreportagen (vgl. Wahl-Jorgensen 2013) und in Formen des hintergründigen und investigativen „Slow Journalism“ (Le Masurier 2019; Harbers 2016) manifestiert hat.
Die vorliegende Arbeit versteht Journalismus mit Hepp et al. (2021) als „kommunikative Figuration“ zur medialen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit (vgl. Hepp/Hasebrink 2017), die von spezifischen Akteurskonstellationen, Relevanzrahmen und Praktiken geprägt wird. Daher führen die reporter- bzw. protagonisten-getriebenen Konstellationen der Presenter-Reportagen, mit ihren aus narrativ-emotionaler Thematisierung, subjektiver Meinung/Haltung durch markante Personalisierung und Authentizität durch teilnehmende Beobachtung bestehenden Relevanzrahmen, nicht nur zu neuen Produkten und veränderten, hier insbesondere durch Partizipativität der Community geprägten Publikumsbeziehungen, sondern auch zur differenzierten Bewertung journalistischer Qualität. Obwohl die funk-Reportage-Formate allesamt als „Informationsangebote“ firmieren, zahlen sie potentiell auch auf die anderen von funk priorisierten Bereiche ein: Die gesellschaftspolitische Orientierung der jungen Nutzer:innen kann zum Beispiel über das konsequente Einbinden bislang neuer Perspektiven auf ein Thema ebenso stattfinden, wie durch die offen subjektiven Meinungen und Haltungen der Reporter:innen zu den Gegenständen ihrer Geschichten. Die starke Ausprägung von Kriterien wie Authentizität, Emotionalität und Narrativität spricht ebenso wie die narrativ-emotionale, gefühlsorientierte Zielgruppenansprache dafür, dass die Reportagen Informationen auch unterhaltend vermitteln sollen – anders wären sie angesichts des kompetitiven Umfeldes und des harten Kampfs um Aufmerksamkeit in sozialen Netzwerken wie YouTube wohl auch kaum so erfolgreich und damit relevant in den adressierten Zielgruppen.
Der von den funk-Presenter-Formaten betriebene Journalismus lässt sich durchaus als Form eines „Qualitätsjournalismus“ bezeichnen, wobei die Unschärfe bzw. der Facettenreichtum dieses Labels den Formaten sicher gegen traditionell geprägte Einwände aus Wissenschaft und Praxis hilft – gerade, weil das Genre der Reportage nicht zuletzt durch den Skandal um Claas Relotius gegenwärtig kritischer diskutiert wird (vgl. Haller 2020; Moreno 2019) und dabei insbesondere Fragen nach der Problematik subjektiver Wirklichkeitskonstruktion im narrativen Journalismus eine zentrale Rolle spielen. Die erzählerische Tiefe aber, die emotionale Personalisierung, die authentische Subjektivität, die thematische Heterogenität, oder die konsequente Partizipativität sprechen durchaus dafür, gerade die reporter-getriebenen Formate wie Y-Kollektiv und STRG_F als Qualitätsmedien eines neuen Typs zu denken (zu den Potenzialen, Qualitätsjournalismus breiter zu definieren und dabei explizit auch journalistische Neugründungen einzubeziehen, vgl. z. B. Lilienthal 2017 für correctiv, Harbers 2016 für De correspondent oder Abramson 2019 für Vice und BuzzFeed). Für eine solche Klassifizierung spricht zudem, dass funk-Presenter-Formate in den vergangenen Jahren nennenswert kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus im journalistischen Feld generiert haben, indem sie Preise für ihre Berichterstattung gewonnen haben.
Noch stärkere Brüche journalistischer Konventionen oder Etablierung in der Mediathek: Wohin entwickeln sich die Presenter-Reportagen?
Ihre oben genannten Charakteristika im Sinne einer „Einzäunung“ der entgrenzten Formate zu beschneiden, also zum Beispiel distanzierter statt persönlich involviert zu erzählen, eigene Meinungen zurückzuhalten oder mehr Expert:innen statt Protagonist:innen als Informationsquellen vor der Kamera zu befragen, würde diesen jungen Formaten vermutlich ihre journalistische Intensität und ihre Alleinstellungsmerkmale nehmen. Möglicherweise werden die funk-Formate aber ganz natürlich und von selbst in einen diese Merkmale balancierenden Prozess des journalistischen ‚Erwachsenwerdens‘ eintreten – allein schon, da die Formate (und ihre Macher:innen) mittlerweile Gefahr laufen, aus ihren funk-Zielgruppen herauszuwachsen. Dabei könnte es im Zuge einer erneuten Anpassung an die Bedürfnisse nachwachsender Zielgruppen zu noch radikaleren Brüchen journalistischer Konventionen kommen – auch weil sich spätestens ab der Generation Z TikTok als das gegenüber YouTube relevantere soziale Medium herauskristallisiert.
Ob solche Tendenzen zu einem „Selfie-Journalismus“ (Sontheimer 2014), die die Grenze zwischen Journalist:innen und Influencer:innen weiter verwischen und sich schon heute in den eher protagonisten-getriebenen und oft von ‚Hosts‘ moderierten Formaten wie insbesondere follow me.reports zeigen, auf Seiten von Medien und Publikum dann wirklich gewünscht sind, muss sich zeigen. Altern die Formate hingegen mit ihren Nutzer:innen und Macher:innen – beispielsweise indem sie perspektivisch ARD- oder ZDF-Formate in der Mediathek oder gar im linearen Fernsehen werden – ist im Zuge einer noch stärkeren Formatierung der Presenter-Reportagen eine weitere Professionalisierung und damit Konservierung ihrer journalistischen Merkmalezu erwarten.
Die Formate können verbessert werden, ohne ihre Charakteristika zu verlieren
Ungeachtet der journalistischen Evolution, der die Formate künftig unterliegen werden, gäbe es auf Basis dieser Studie erste Vorschläge, um der Kritik von Medienjournalist:innen und Nutzer:innen die Spitze zu nehmen – ohne die formatspezifischen Charakteristika gleich aufgeben zu müssen: Aktuelle gesellschaftspolitische Ereignisse könnten in den wöchentlich publizierten Formaten eine größere Rolle spielen und damit die thematische Relevanz steigern: Dass psychosoziale Krankheiten, Tiere und insbesondere Sexualität derzeit oft thematisiert werden, zeigt sich auch in anderen funk-Produkten (vgl. Kräher 2023) und setzt die Formate einem ,Clickbait‘-Verdacht aus, der für den inhaltlichen Anspruch der Öffentlich-Rechtlichen kontraproduktiv und angesichts der vielen relevanten Themen auch unnötig ist. Auch Auslandsthemen und die Perspektiven aus Lebensräumen abseits deutscher Großstädte müssten angesichts des öffentlich-rechtlichen Auftrages künftig stärker in den Presenter-Formaten stattfinden. Auch die weitgehende Vernachlässigung der europäischen Ebene in den Beiträgen geht an den politischen Realitäten vorbei. Die Transparenz hinsichtlich der maßgeblichen Quellen sollte nicht nur unter dem jeweiligen Beitrag sichergestellt sein, sondern verstärkt auch in den Filmen selbst thematisiert werden – auch, um die Quellen- und Medienkompetenz des jungen Publikums, bei dem die untersuchten Formate als Leitmedien gelten können, indirekt zu fördern. Wenn die explizite subjektive Meinung der Reporter:innen für die Darstellung des jeweiligen Themas wichtig ist, sollten diese Meinungsäußerungen im Sinne eines ‚Ehrlichmachens‘ auch innerhalb der Filme (oder zumindest im Rahmen der Formate) transparent gekennzeichnet werden – insbesondere, wenn Formate wie reporter mit dem Gegenteil werben („Meinung machen andere, wir machen Journalismus“). Wer sich auf die etablierten Regeln des Journalismus bezieht – und dazu gehört die Trennung von Meinungen und Fakten zweifellos – sollte diese auch konsequent beachten, um die eigene Glaubwürdigkeit zu sichern. Die charakteristische Konstellation aus Protagonist:innen und insbesondere einer Reporter:innen-Figur mag zudem nicht in der Mehrzahl der Beiträge jenen Informationsgehalt und jene vielfältigen Perspektiven liefern, die die Formate versprechen – oder wie es Andrej Reisin (2022) bei Übermedien formulierte: „Ein authentischer Host ersetzt keine Recherche.“ Im selben Beitrag fasst NDR-Reporter Dietmar Schiffermüller, Redaktionsleiter von STRG_F, dieses Phänomen, das Kuno Haberbusch (in Gavi 2022) als „Hilfskonstruktion“ bezeichnete, ebenso pointiert wie kritisch zusammen:
„Letzlich ist das immer auch ein dramaturgischer Kniff […], wenn man ein:e Reporter:in zur Figur macht, kann man über diese Figur automatisch ein Narrativ etablieren: Die hat dann eine Aufgabe, Konflikte, Rückschläge und am Ende steht eine Lösung. […] Man kann keine schlechte oder gar keine Recherche dadurch kaschieren oder ersetzen, dass man jemanden vor die Kamera stellt. Das kann sehr schnell zur hohlen Phrase werden. Dann hat man zwar etwas Authentisches, nur leider ist es dann authentisch schlechter Journalismus.“
Wenn subjektiver Journalismus also zum Selbstzweck wird, von einem Prinzip journalistischer Konstruktion von Wirklichkeit zu deren Inszenierung, bietet sich – angelehnt an Gaye Tuchman (1972) – dafür der Begriff eines „strategischen Rituals“ der Subjektivität an. Ein Phänomen, das sich im gegenwärtigen Journalismus an vielen Stellen beobachten lässt, wenn die teilnehmende Beobachtung von Reporter:innen nicht mehr der journalistischen Erkundung von Wirklichkeit dient, sondern lediglich der Generierung von – ökonomisch verwertbarer – Aufmerksamkeit durch einen subjektiv-journalistisch inszenierten Voyeurismus.
Den vollständigen Wortlaut der Studie mit allen Schaubildern und Quellenangaben (120 S.) finden Sie hier.
Ich hasse “Presenter-Reportagen”, besonders deutsche. Sie vermitteln mir das Gefühl, der Sender und die Macher*innen halten mich für debil (engl. “moron”).
Hier diskutiert Ralf Heimann/MDR-Altpapier das Thema weiter:
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3166.html