Wie falsche Entscheidungen die Welt umstürzen: Über den Bären, der nicht tanzen will und den “Rest” der Welt – Der Ukraine-Krieg ändert alles
In der (begrenzten) Auseinandersetzung mit der Corona-Politik gilt aktuell der Maßstab, dass etwas, was man zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht wissen konnte, auch kein Fehler sein kann. Ähnlich wird im Zusammenhang mit der „Zeitenwende“ und den Beziehungen zu Russland argumentiert. Eine Antwortmöglichkeit hat Frau Merkel im letzten Jahr vorexerziert. Sie habe sich im Kontext der jeweiligen Zeit immer adäquat verhalten. Anders dagegen verfuhr der Bundespräsident. Der führt die Heerschar der Lichtgestalten an, die immer nur Gutes wollten, leider zu naiv waren und sich vom russisch Bösen nun so arg getäuscht sehen, die bedauern, nicht früher schon mit größter Härte verfahren zu sein, denn nur, wenn man dem Bären lange genug eins auf die Nase gibt oder andauernd schlägt, dann tanzt er, wie er soll, in der Manege. So haben sie es zwar auch schon früher gemacht, aber daran wollen sie sich nicht erinnern.
Denn der Bär ist widerborstig geworden, ein Problembär geradezu, der um sich schlägt und beißt. Eigentlich verdient er den Tod. So sieht das inzwischen Kiew.
Derweil erzählen Politik, die allermeisten Medien und auch jede Menge sogenannte Bären-Experten hierzulande und in Übersee, dass die Dressur des Bären immer besser funktioniert, nur noch ein bisschen mehr Härte, mit immer ausgefuchsteren Peitschen, ein wenig mehr Ausdauer, und irgendwann wird er gewiss winselnd zu unseren Füßen liegen, diese lecken, und versprechen, ab sofort genau das zu machen, was wir wollen. Weil er eingesehen hat, dass er die Natur eines Tanzbären hat, der gerne tanzt. Das dauert, aber das halten wir durch, solange es eben dauert. Dann stecken wir einen Bären in einen Käfig und werfen den Schlüssel weg. Der Rest der Bärensippe wird freiwillig tanzen und die Tür aufstoßen zum großen reichen Bärenrevier.
Ist das nicht ein feines Ergebnis, das die Mühe lohnt? Was aber, wenn der Bär nicht zum Tanzen geboren ist, und wir nicht dazu berufen, aus ihm mit aller Gewalt einen Tanzbären zu machen?
Nichts weiter übrig?
Das dachte ich, als ich einen Artikel des Brigadegenerals Ryan (im Ruhestand) am Belfercenter der Harvard-Universität las, der den Titel „Warum Putin in der Ukraine Nuklearwaffen einsetzen wird“ las. Sein zentrales Argument war, Putin verliert den konventionellen Krieg in der Ukraine, und da bleibt ihm nichts weiter übrig, als nuklear blankzuziehen. Besagter Brigadegeneral hielt es als Teil seiner Argumentation für notwendig, (angeblich wörtlich) an Putins Rede vom 1. März 2018 zu erinnern:
„Putin has taken these increasingly threatening steps in the belief that NATO and the West — in particular, the United States — are not listening to him as he proclaims Russia’s demands on the international stage. In 2018, when Putin unveiled a bevy of new nuclear weapons, he warned: “You will listen to us now!” Four years later, his invasion of Ukraine was a wakeup call for those in the West who were still not listening.”
Übersetzung:
„Putin hat diese immer bedrohlicher werdenden Schritte in der Annahme unternommen, dass die NATO und der Westen – insbesondere die Vereinigten Staaten – ihm nicht zuhörten, während er Russlands Forderungen auf der internationalen Bühne verkündete. Als Putin 2018 eine Reihe neuer Atomwaffen vorstellte, warnte er: ‘Ihr werdet uns jetzt zuhören!’ Vier Jahre später war sein Einmarsch in die Ukraine ein Weckruf für diejenigen im Westen, die immer noch nicht zuhörten.“
Damit entblößte der Brigadegeneral ein fundamentales westliches Problem: Fakten werden an die Sichtweise „angepasst“ und somit „alternativ“. Weder zitierte Ryan Putin korrekt, noch erklärte er den Kontext, in dem Putin bestimmte Aussagen traf. Tatsächlich stellte Putin in der angesprochenen Rede neue russische Offensivwaffen vor (darunter Kinschal). Er führte aus, dass diese in Reaktion auf die einseitige Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA entwickelt worden wären, aus russischer Sorge, dass die USA überall Raketenabwehrsysteme installierten. Er habe schon 2004 darüber das Gespräch mit dem Westen gesucht. Er warf dem Westen mangelnde Bereitschaft vor, mit Russland darüber reden zu wollen und schloss diesen Part mit einer erneuten Ansprache an den Westen, mit Russland zu reden. „Hört zu.“
Beweislos wie eine Eins
Selbstverständlich verspürte der Westen auch im März 2018 kein Bedürfnis, mit Putin/Russland über dessen Sichtweise reden zu wollen. Stattdessen beschäftigte „alle Welt“ der „Fall Skripal“ (4 Tage nach der Putin-Rede). Der „Skripal-Fall“ verlieh dem Bild eines aggressiven, rachsüchtigen Russlands, das alle internationalen Normen mit Füßen trampelt und frech glaubt, mit allem auch noch durchzukommen, eine neue Tiefe. Natürlich kam es nicht damit durch, denn der Westen stand beweislos wie eine Eins zusammen und belegte das mörderische Russland mit neuen Sanktionen. Nur der alte Skripal ist seither verschollen. Für den erfüllte sich tragischerweise das Putinsche Orakel aus dem Jahr 2010, das ein Judas immer schlecht endet (Anm.: Putin sprach über Alkohol- oder Drogensucht und Heimatlosigkeit).
Im Jahr 2021 veröffentlichte das Carnegie Endowment for International Peace eine Einschätzung zur einseitigen Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA: „Es war ein epischer Fehler“, lautete das Urteil. Denn es hat den Rüstungswettlauf angeheizt und in Russland und China die Sorge verstärkt, die US-Raketen-Abwehrsysteme könnten ihre nuklearen Abschreckungskapazitäten wertlos machen. Auch dieser Artikel nahm Bezug auf die Putin-Rede von 2018: Dieser Autor kam zum Schluss: Die Geschichte scheint ihm (Putin) Recht zu geben.
2007 wurde die NGO Internationales Forum Luxemburg zur Verhütung einer nuklearen Katastrophe geschaffen. Sie befasst sich mit Fragen der nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen. Auf der Hauptwebseite findet man Äußerungen von Persönlichkeiten aus dem Jahr 2016 präsentiert: Dringend notwendig sei eine Verständigung zwischen den USA und Russland auf der Basis von gegenseitigem Respekt. Dort liest man auch die Warnung davor, dass es inzwischen offenbar im Trend liege, so zu handeln, als würde man sich auch mit einem Einsatz von Nuklearwaffen arrangieren.
Statt diesen Stimmen zuzuhören, wurde der Mittelstrecken-Vertrag von den USA aufgekündigt. Förmlich wurde Russland die Schuld zugeschoben, obwohl Russland Inspektionen vorgeschlagen hatte, um diesen Vertrag zu erhalten. Auch die EU wollte ihn behalten, hat sich dann aber im NATO-Rahmen gefügt.
In der Diskussion um die Genese des heutigen Krieges spielt neben der Nato-Osterweiterung (und damaligen Warnungen vor einem „historischen Fehler“) oft auch eine interne Notiz des US-Botschafters Burns in Moskau (2008) eine Rolle, die dank Wikileaks bekannt wurde. In dieser Notiz ging es nicht nur um russische „rote“ Linien. Es ging auch darum, dass Russland fürchtete, die Ukraine könnte zerbrechen, wenn sie vor ein Ultimatum gestellt würde: NATO oder Russland? Darin hieße es auch, Russland wolle nicht in einen Zugzwang geraten und Entscheidungen treffen müssen, die es nicht treffen wolle.
Phantomschmerzen, narzisstische Kränkungen, Minderwertigkeit, Bockigkeit, mörderische Aggressivität
Aber wen interessierte, was man in Moskau dachte, wo man doch alles bereits wusste und weiß: Der Kremlfürst trauert der Sowjetunion hinterher, hegt daher imperiale Pläne, um seinen globalen Glanz aufzupolieren usw. Schließlich ist die Weltordnung eine andere, die ganze Welt ein Vorhof der USA, da geht es um Interessen. Im Fall Moskaus geht es um Phantomschmerzen, narzisstische Kränkungen, Minderwertigkeit, Bockigkeit und neuerdings mörderische Aggressivität. Man kennt das ja. Ein klassischer Fall für die Psychiatrie, mittlerweile möglichst dauerhaft weggeschlossen.
Heute schreibt ein Ex-Militär lieber einen propagandistischen Artikel, der ankündigt, dass Russland die nukleare Karte ziehen wird, statt darüber nachzudenken (wenn er denn schon so sicher ist), wie man diese Kuh wieder vom Eis kriegt. Aber das kann der nicht, weil er, so wie viele im Westen, in irgendeinem versteckten Winkel des Hirns genau weiß, dass man diese Kuh selbst aufs Eis führte, auf dem man leider auch steht.
Das ist das Problem. Russland lässt sich zwar gedanklich und politisch aus Europa verbannen. Aber man kriegt es nicht weg. Es lässt sich nicht absprengen vom Globus. Und es hat Nuklearwaffen. Das setzt imperialen Versuchungen Grenzen. Gleichzeitig aber treibt genau das die Eskalation an: Wenn „Stärke zeigen“ als richtiges Rezept gilt, dann muss Stärke demonstriert werden, in Gestalt der an die Ukraine gelieferten Waffen, in der Konzeption des kommenden Nato-Luftmanövers, im aktuellen maritimen US-Aufmarsch in der Arktis. Wer zuerst blinzelt, hat verloren.
Russland verliert den Wirtschaftskrieg nicht. Es hat die Shock-and-Awe-Strategie der westlichen Sanktionen 2022 absorbiert. Man kann selbstverständlich darauf pokern, dass sich das ändern könnte, falls man überflüssiges Geld verlieren möchte. Dieser Krieg, der die Russen „ruinieren“ soll, ist unbefristet. Er enthält keine Aussicht auf Befriedung. Inzwischen ist Deutschland in eine Rezession geschlittert. Wir haben Inflation, ein Energieproblem und damit ein langfristiges Wettbewerbsproblem. Die Zahlen lügen nicht.
Russland ist nicht international isoliert, und die vermeintliche Einheit des Westens hat tiefe Risse. Die Parolen werden immer obszöner: Wenn wir in der Ukraine verlieren, verlieren wir auch Taiwan, tönte Senator Graham kürzlich in Kiew. Nie wäre US-Geld besser angelegt worden als jetzt in der Ukraine.
Während Deutschland und die EU noch den US-Hegemon besingen, machen sich nun andere daran, die Welt zu ordnen. Zuckerbrot und Peitsche, Teile und Herrsche sind zwar immer noch mächtig, aber nicht mehr völlig dominant. Syrien ist wieder Teil der Arabischen Liga, China vermittelte die Annäherung von Saudi-Arabien und dem Iran. Die Afrikanische Union ist sehr viel selbstbewusster geworden. Brasilien, Indien, Indonesien und viele andere haben zur eigenen Stimme gefunden. G7 mag glauben, das Schiffsruder in den Händen zu halten, nur die Milliarden Habenichtse, die auch mitreisen, haben den Kompass übernommen.
Sie sind es leid, Spielball in einem Konflikt zu sein
Denn sie sind die Heuchelei und Doppelmoral genauso leid, wie sie es leid sind, Spielball in einem Konflikt zu sein, der längst zu schweren globalen Wirkungen geführt hat und zum Dritten Weltkrieg entarten könnte. Sie sehen, was so viele im Westen entweder nicht sehen können oder wollen: Im Fall der Ukraine fordert Russland mit aggressiven (völkerrechtswidrigen) Mitteln die Berücksichtigung seiner Sicherheitsbedürfnisse ein, die der Westen negiert. Darauf sind wir nicht vorbereitet: Weder auf die politische Herausforderung, noch auf die militärische. Denn in den letzten 30 Jahren hat der Westen die Fähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung gründlich verlernt. Es reichte, über die Welt zu trampeln und nach allem zu greifen, was einem gerade einfiel. Immer unter dem Beifall der westlichen Massenmedien, immer mit der Projektion, nur Gutes zu bringen.
Die aktuelle deutsche Außenpolitik ist ein aus der Zeit gefallenes Phänomen. Selbst Fiona Hill, eine der Falken im Washingtoner Politikbetrieb, erkennt inzwischen, dass die Welt sich ändert und warum. Nein, sagte Hill jüngst in Tallinn, der Ukrainekonflikt ist kein bloßer Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, er schuf eine über die Kontinente verteilte „Meuterei“ gegen den US-Hegemon. Selbstverständlich will Frau Hill diese „Meuterer“ (des „Restes“) kleinkriegen, sich dabei aber nicht mit dem Ballast des angeschlagenen US-Leitschiffs beschweren. Hills Vorschläge verraten, wo ihre Wiege stand: Sie sind „very british“.
Statt allem kühl ins Auge zu sehen, wird schon nach dem nächsten Happen geschnappt: Erst wird Russland erledigt, so die westliche Verblendung, und dann China Mores gelehrt. Die fast eine Milliarde Menschen wird es dem kläglichen Rest Menschheit schon zeigen, wo die Reise hingeht.
Wie viele können überhaupt noch nüchtern die Entstehung des Konflikts mit Russland betrachten, weil er nur so auch auflösbar würde? Wie lautet die Lieblingsantwort: Putin muss nur seine Armee zurückziehen, und dann setzt der Prozess von Abrechnung und des Alleswiedergutmachens ein. Nicht mal ein dreijähriges Scheidungskind glaubt elterlichen Versicherungen, dass alles wieder gut wird und Mama und Papa es noch liebhätten, wenn es Zeuge von anhaltendem Gebrüll, Hasstiraden und Handgreiflichkeiten wurde. Wie viele sind in der Lage, vor sich und anderen einzugestehen, dass es die Ukraine ist, die in diesem Krieg unter die Räder kommt. Kann man doch alles wieder aufbauen, die US-Geldgeber sitzen auch schon im Sattel. Das Land ist längst vollständig abhängig von westlicher Unterstützung. Wieviel ist da noch da an Souveränität?
Die EU-Eliten finden es offenbar auch ganz normal, dass sich die USA nicht nur an die Spitze der militärischen Planung gesetzt haben, sondern auch noch an die Spitze der Planung der ukrainischen Zukunft, worin immer die auch bestehen mag. Die Ukraine verliert ihre Männer zuhauf. Sie hat möglicherweise auch längst einen Gutteil der Frauen und Kinder verloren, weil die nicht mehr zurückgehen werden. Schon vor dem Krieg war der demographische Trend in der Ukraine äußerst ungünstig. Inzwischen könnte er sich als „unheilbar“ erweisen. Die Industrie ist eingebrochen, die Landwirtschaft ist eingebrochen, die schwache Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind dem Kriegsrecht gewichen. Die Medien sind ganz und gar nicht frei.
Zerbrechen der Ukraine
Aber schlimmer noch, dieser Krieg hat das politische Zerbrechen der Ukraine vollendet, nachdem der Westen beim Minsk-Abkommen betrog. Niemals wieder werden sich die einstigen ukrainischen Staatsbürger des Donbass und der Krim einem westlich unterstützten Kiew unterordnen. Sie haben ihre Loyalität gewechselt, so wie auch Kiew klargestellt hat, dass es eine gnadenlose Abrechnung geben wird, und die Antiterroraktion gegenüber dem Donbass nur ein läppischer Vorgeschmack war, falls Kiew die Einwohner der betroffenen Gebiete in die Finger kriegt.
Täglich wird neu erklärt, dass Russland militärisch verliert, verlieren wird, verlieren muss. Seit wie vielen Monaten gehen Russland nun schon Munition und Panzer aus? War es nicht in Bachmut, wo die russischen Soldaten nur noch eine Schusswaffe und eine Schaufel hatten? Erst war Bachmut strategisch wichtig (CNN, Oktober 2022). Dann verkündete der ukrainische Präsident vor dem US-Kongress im Dezember 2022, dass der Kampf um Bachmut („unsere Hochburg“) den Verlauf des Krieges ändern werde und übergab die Flagge mit den Unterschriften von Kämpfern als Symbol für den kommenden Sieg. Dann erklärte Selensky gegenüber AP, dass Bachmut deswegen so wichtig sei, um einen Propagandasieg Putins zu verhindern. In Hiroshima, beim G7-Treffen, war noch von geheimnisvollen Operationen die Rede, und nun lebt Bachmut fort „nur in unseren Herzen“.
Weil Bachmut zum politischen Sieges-Symbol wurde, konnte die ukrainische Armeeführung keinen Rückzug bzw. keine militärische Neuaufstellung anordnen, wie es der Oberkommandierende der ukrainischen Armee offenbar bevorzugt hätte. So geriet Bachmut zu einem „Fleischwolf“, in dem die „primitiven Russen“ (Zelenskyj, US-Kongress 2022) die heroisch kämpfenden Ukrainer besiegten. Da beide Seiten über den Blutzoll lügen, geben nur Bilder von Bachmut und einige Artikel im Mainstream eine Vorstellung von der furchtbare Menschenopferung.
Denn etwas anderes ist es ja nicht, wenn man junge und alte Ukrainer ohne militärisches Training an die Front schickt, ihnen eine Waffe in die Hand drückt und erklärt, sie würden schon wissen, was zu tun sei an Ort und Stelle. Wer Videos gesehen hat von der Hölle von Bachmut, weiß, was diese Unglücklichen taten am Ort des Geschehens. Sie starben, sie wurden verwundet. Die Liste der nach Bachmut entsendeten ukrainischen Einheiten ist so lang.
Wie lange soll der Krieg dauern?
Das ganze Blutvergießen in der Ukraine lässt sich nicht mehr auf die Formel bringen, dass an allem allein Putin schuld ist. Schon gar nicht mehr, nachdem der Westen die Verhandlungen um Frieden 2022 sabotierte. Ein ehemaliger israelischer Premierminister ist Kronzeuge dafür.
Immer noch lautet das Mantra: Solange es eben dauert. Gerade erst wollte die Ukraine einen schnellen Sieg. Noch in diesem Jahr. Nun lautet die Devise: Es geht weiter, auch im Jahr 2024 und womöglich darüber hinaus. Die zugesagten Waffenlieferungen aus den USA deuten auch in diese Richtung. Wie lange soll der Konflikt dauern, in dem es aus Sicht des Westens keinen russischen Sieger geben darf und aus Sicht Russlands keine Niederlage?
Russland zog ohne Nuklearwaffen, aber unter Hinweis auf eine existentielle Bedrohung in den Krieg, der immer noch nicht total ist, aber total werden kann. Ist es Teil der westlichen Strategie, die Russen dahin zu bringen, dass alle Hölle losbricht über einem Land, dass sich Jahrhunderte Geschichte und Kultur mit Russland teilt, in dem sich auch ukrainisches und russisches Blut vermengten? Die extrem nationalistischen Kräfte aus dem Westen der Ukraine hätten sicher nichts dagegen, solange es nur die russischsprachigen Ukrainer trifft. Wird Kiew noch verzweifelter versuchen, die NATO direkt in den Krieg zu verwickeln? Operationen unter „falscher Flagge“ sind auch nicht vom Tisch.
Laut Frau Nuland bereiten die USA seit Monaten mit der Ukraine eine Gegenoffensive vor. Laut dem ehemaligen Oberbefehlshaber der NATO in Europa, General Hodges, geht es primär um die Krim, aus russischer Sicht also um eine Existenzbedrohung Russlands. Dauert es nun solange, bis Russland seine Kriegsziele (konventionell) militärisch erreicht, da es die militärische Übermacht hat (siehe Washington Post) und auf diese Art der Kriegsführung, anders als der Westen, offenbar vorbereitet ist?
Anm.: Letzteres ist nicht mir eingefallen. Dass sich die NATO die Dimension eines solchen Krieges, wie er gerade abläuft, nicht vorstellen konnte, hat der Oberkommandierende der NATO in Europa im Januar in Schweden vorgetragen. Daraus schließe ich: Wer sich etwas nicht vorstellen konnte, ist auch nicht darauf vorbereitet.
Wird der Konflikt „eingefroren“?
Soll es in einer Art permanenten, abwechselnd kalten und heißen Krieg münden, der auf dem Feld und im terroristischen Untergrund ausgetragen wird? Dauert es so lange, bis dem Westen klar wird, dass wir eine Verantwortung für die Konfliktlösung tragen, weil der Konflikt, der aktuell militärisch ausgetragen wird, aus unterschiedlichen Interessenkonstellationen und einer „regelbasierten Ordnung“ entsprang, die nur einen Bestimmer kennt und Versöhnung für Schwäche hält?
Oder dauert er bis zu dem Augenblick, an dem es zum ersten Mal nuklear knallt, egal warum und durch wen? Werden uns in diesem letzten Moment der menschlichen Zivilisationsgeschichte dann UFOs, die man in den USA offenbar regelmäßig sieht, vor uns selber retten? Angeblich können sie Nuklearwaffen deaktivieren und stellen alle bekannten Gesetze der Physik auf den Kopf. Wollen wir uns darauf verlassen?
Im Moment gibt es kaum noch Hinweise auf ein Mindestmaß an wechselseitigem Vertrauen, um Verhandlungen zu führen und Absprachen treffen zu können. Wir sind in einer weit schlimmeren Krise als jemals im Kalten Krieg, aber auch das scheint die wenigsten umzutreiben. Es gibt kaum noch Hinweise darauf, dass in den Führungsetagen des westlichen Bündnisses oder auch im medialen Mainstream Realitäten und Verstand dominieren. Von Kiew muss man in dem Zusammenhang nichts erwarten. Aber auch im Moskauer Führungszirkel scheint sich eine vergleichbare Art Blutrausch einzustellen, wenn man Medwedjews jüngste Einlassungen zu den Zukunftsoptionen der Ukraine ernst nimmt.
Kein einziger Mensch sollte eine drohende und letztlich politisch verursachte Atomkriegskatastrophe nur für eine teuflische Spielart der Vergänglichkeit allen Lebens halten („..alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“) oder als Kreml-Propaganda abtun. Das rheinische „Et hätt noch emmer joot jejange“ (es ist noch immer gut gegangen) ist auch völlig fehl am Platz.
Panik, Zynismus oder Hoffnungslosigkeit verbieten sich
Aber Panik, Zynismus oder Hoffnungslosigkeit verbieten sich ebenfalls. Der globale Süden will Verhandlungen, drängt auf friedenssichernde Lösungen. Er repräsentiert sehr viele Menschen. Wir sollten uns ihnen anschließen, ihren Stimmen folgen. Sie sind nicht der „Rest“, wie Frau Hill glaubt, sie sind die, die klar sehen, dass eine Minderheit sich nur geschickt zur Mehrheit erklärte und schamlos um die Zukunft der Menschheit würfelt.
Wer leben will, kann sich „bewaffnen“ mit der UN-Charta, die die friedliche Konfliktlösung fordert und sich auf den Kern der Menschenrechte besinnen. Sie sind dazu gedacht, Frieden zu bringen, durch die Begegnung im „Geist der Brüderlichkeit“ (Schwesterlichkeit eingeschlossen).
Schwerterschwingende Kreuzritter als Bringer von Menschenrechten sind in der universellen Erklärung genauso wenig vorgesehen wie die Geringschätzung des Lebens eines Menschen.
Der Rest wird schwierig genug.
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