Beueler-Extradienst

Meldungen und Meinungen aus Beuel und der Welt

Doppelte Wahl

Das türkische Wahlergebnis ist in Deutschland negativ aufgenommen worden. Für die weitaus meisten ist es unfassbar, dass zwei Drittel der hier lebenden Türk/innen für Erdogan votiert haben. Sie leben bei uns in einem Land, wo Demokratie, Menschenrechte, unabhängige Justiz und Pressefreiheit hohe Werte darstellen. Nun unterstützen sie einen Despoten und die Repression in der Türkei. Und sie bejubeln die Wahl „ihres“ Präsidenten.

Vielleicht ist das Wahlergebnis aber auch ein Anlass zur Nachdenklichkeit bei jenen deutschen Politiker/innen, die aufgrund ihrer offenen Einstellung gegenüber Einwanderer/innen die doppelte Staatsangehörigkeit und damit ein doppeltes Wahlrecht befürworten. Bekanntlich sollen nach Auffassung der Bundesregierung Einbürgerungen vereinfacht und doppelte Staatsbürgerschaften und damit doppeltes Wahlrecht erleichtert werden.

Für die doppelte Staatsangehörigkeit gibt es in der Tat gute Argumente. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft soll die Integration in den neuen Lebensraum erleichtern, und der Beibehalt der bisherigen Staatsbürgerschaft soll verhindern, dass Einwander/innen zur Kappung von verbliebenen Verbindungen zur alten Heimat gezwungen werden. Allerdings gibt es auch Befürchtungen, dass eine doppelte Staatsangehörigkeit die Integration verlängert oder schwächer ausprägt, weil die Bindung an den „Erststaat“ erhalten bleibt, und dass deshalb keine volle Loyalität gegenüber dem zweiten Staat entsteht. Immerhin besteht der Eindruck, dass selbst Türkischstämmige der dritten Generation oft noch nicht in Deutschland „angekommen“ sind. Da wirkt die Hoffnung auf eine multikulturelle Gesellschaft und eine Integration in eine offene, freiheitliche Gesellschaft gescheitert.

Die positive Einschätzung der doppelten Staatsbürgerschaft gilt nicht für das doppelte Wahlrecht. Da dürfen Wähler/innen aus der Ferne, die vielleicht nur einmal im Jahr Urlaub im „Land ihrer Väter“ machen und deren Kenntnis von den dortigen Verhältnissen naturgemäß begrenzt ist, über die Zusammensetzung des dortigen Parlaments mitbestimmen und möglicherweise einen entscheidenden Einfluss wahrnehmen. Vielleicht trägt die Möglichkeit, in Deutschland zu leben und in der Türkei wählen zu dürfen, sogar zur Entfremdung bei. Wer zwei Pässe hat, kann sich die Rosinen herauspicken, die ihm eines der beiden Länder bietet. Und kann entscheiden, ob er Erdogan oder Steinmeier als seinen Präsidenten ansieht.

Hier bietet sich eine Analyse der deutschen Zahlen der letzten türkischen Wahlen an (Präsidentschaftswahl, 2. Wahlgang): In Deutschland wohnen 2,9 Mio. Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund. Davon sind 1,5 Mio. zu Wahlen in der Türkei zugelassen. Die Wahlbeteiligung lag bei 49 %, also deutlich geringer als in der Türkei selbst. Das waren 732.000 Wähler/innen, 494.000 wählten Erdogan. 530.000 Wahlberechtigte hatten die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit. Unterstellt man, dass deren Wahlbeteiligung und Erdogansympathie genau so hoch sind wie bei allen, so ergeben sich 174.000 Stimmen für Erdogan.

Die Zahl der Doppelstaatler lässt sich nicht exakt ermitteln. Erstens sind einige von ihnen in die Türkei zurückgekehrt. Zweitens war es bis Ende 1999 zwingend, beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die türkische aufzugeben. Etliche Türk/innen erwarben diese jedoch im Anschluss an die Einbürgerung in Deutschland erneut. Manche türkischen Behörden duldeten oder förderten diese illegale Praxis.

In der Türkei gab es aktuell 61 Mio. Wahlberechtigte, im Ausland weitere 3,4 Mio., zusammen also 64,4 Mio. Angesichts der Wahlbeteiligung von 85 % haben 54,74 Mio. Menschen ihre Stimme abgegeben. Erdogan hat davon 52,1 % erreicht, das sind 28,52 Mio. Stimmen. Die Voten der in Deutschland lebenden Türk/innen machen dann 2 % seines Wahlergebnisses aus, die der Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit 0,6 %. Natürlich würde – sofern in Deutschland nicht mitgewählt würde – auch die Stimmenzahl des Gegenkandidaten sinken – angesichts des hiesigen Wahlergebnisses um 1 % bzw. 0,3 %.

Angesichts der Tatsache, dass Erdogan in den meisten westeuropäischen Staaten ähnlich gute Ergebnisse erzielt hat wie in Deutschland, könnte das Auslandswahlrecht der Türk/innen bei knappen Wahlergebnissen ausschlaggebend werden. Da wird klar, warum Er­dogan dafür gesorgt hat, dass die im Ausland leben Türk/innen wählen dürfen, und warum seine Anhänger/innen und Institutionen in Deutschland einen intensiven Wahlkampf ge­führt haben.

Die Zahlen lassen erkennen, dass das doppelte Wahlrecht diesmal keinen unmittelbaren Einfluss auf das türkische Wahlergebnis gehabt hat. Insoweit können wir beruhigt sein. Dennoch erzeugt diese Regelung zu Recht ein ungutes Gefühl, nicht nur politisch, sondern auch rechtlich. Bekanntlich geben Grundgesetz und Bundeswahlgesetz sechs Grundsätze für Wahlen vor. Einer ist die Gleichheit der Wahl: Jede Stimme soll den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben.

Angesichts der weltweiten Verflechtungen und der konkreten Tatsache, dass Wahlergebnisse in anderen Staaten spürbare Auswirkungen auf Deutschland haben können, erscheint es nicht vertretbar, dass bestimmte Bürger/innen zweifaches Wahlrecht genießen. Der demokratische Grundsatz „one man, one vote“ sollte auch international gelten. Aus guten Gründen ist es Doppelstaatlern bei der Europawahl bei Androhung von Strafe untersagt, zweimal zu wählen. Bei den nationalen Wahlen dürfen sie sich dann jedoch zweimal beteiligen, z.B. in Italien und in Deutschland, womit sie dann doppelt so großen Einfluss auf die Zusammensetzung des (von den Regierungen gebildeten) Europäischen Rates haben. Wieso werden diese Deutsch-Italiener privilegiert?

Möglicherweise hat bei der Abfassung von Grundgesetz und Bundeswahlordnung niemand thematisiert, dass es doppelte Staatsangehörigkeiten und doppeltes Wahlrecht geben kann und dass damit ein demokratischer Gleichberechtigungsgrundsatz tangiert wird. Wenn die geplante Gesetzesänderung in Kraft tritt, wird die Zahl der Doppelstaatler und Doppelwähler deutlich steigen. Es sind ja nicht nur Türk/innen betroffen. Derzeit leben in Deutschland 13,4 Mio. Personen mit ausländischem Pass. Der Handlungsbedarf wird also zunehmen.

Vielleicht ist dies ein Anlass für das Bundesverfassungsgericht, zu prüfen und zu bewerten, ob diese Regelungen mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar sind. Eine Lösung liegt auf der Hand. Man könnte beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit eine Option auf eines der beiden Wahlrechte verlangen. Die Betroffenen können dann entscheiden, wo sie ihren faktischen und wo sie ihren politischen Lebensmittelpunkt haben. Oder man koppelt das Wahlrecht an den ersten Wohnsitz.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Immerhin gehen “wir” schon bedeutende Schritte auf Erdogan zu:
    https://extradienst.net/2023/05/31/rechtsbrecher-erklaeren-klimaprotest-fuer-kriminell/
    ebenso wie Schweden
    https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schweden-anti-terrorgesetz-100.html
    Für unseren Nato-Partner im Präsidentenpalast von Ankara ist kein Opfer zu gross. Oder? Wer will sich dann über die Leute beschweren, die den wählen? Der “Erfolg” gibt ihnen doch recht.

  2. Helmut Lorscheid

    Ich bin ganz entschieden gegen die doppelte Staatsangehörigkeit. Besonders bei Türken. Für mich ist sie nur dann akzeptabel, wenn ein Land seine Staatsbürger nicht aus der Staatsangehörigkeit entläßt – das ist meine ich z.B. bei Iran der Fall.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

© 2024 Beueler-Extradienst | Impressum | Datenschutz

Theme von Anders NorénHoch ↑