Den Kapitalismus in seinem Lauf … halten weder Demokratie noch Medien auf

In den letzten Tagen und Wochen verdichtet sich ein Ton der Verzweiflung in meinem privaten Freund*inn*enkreis. Die Macht der FDP in der Regierung, der Aufschwung der Faschisten, die Lächerlichkeit der Aufmerksamkeitsökonomie, die “vierte Gewalt” zu nennen, mir noch nie in den Sinn gekommen ist. Selbst bei klugen reflektierten Menschen gelingt es diesen versagenden Medien dennoch, Aufmerksamkeit und Intelligenz zu binden. So werden sie unschädlich für Herrschaft und System gemacht.

Wie kommichdrauf? Kennen Sie “Rammstein”? Ich nicht. Ich fand die schon immer scheisse. Aber grüne Arbeitskollegen von mir (Frauen nicht mitgemeint) fanden deren Musik in den 90ern grossartig. Warum, konnten sie mir nicht verständlich erklären. Nun hat einer aus dieser Band eine Affäre am Hals. Überraschend daran ist nur, wie lange das gedauert hat. Erst musste die mächtige #metoo”-Bewegung kommen, in die sich nun viele Medien, die es nötig haben, reinzuschleimen versuchen. Nunja, immer noch besser, als sie als “Terroristinnen” zu diffamieren und einsperren zu lassen. Vielleicht kommt das ja noch.

Der Kollege Harald Neuber/telepolis hat sich nun dieses Geschehen ein bisschen näher angesehen. Und ist zu diesem Ergebnis gekommen: Warum die Berichterstattung über Till Lindemann so ekelig ist wie seine Pornos – Kontroverse um Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann. Berichte schaffen Aufmerksamkeit für Medien, Frauen helfen sie nicht. Warum das zwar dem Zeitgeist entspricht, aber rechtsstaatsfeindlich ist.”

Ich kann seiner Sichtweise im Grossen und Ganzen folgen. Nur den Punkt 5. seiner Schadensliste verstehe ich nicht: “schaden, falls sich die Vorwürfe nicht erhärten, dem Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt nachhaltig.” Warum? Wer in Polizei, Sicherheitsbehörden und vorgeblich frauenfreundlichen Männerkreisen das Treiben der Aufmerksamkeitsökonomie als Ausrede einsetzt – der gehört gefeuert, egal, ob irgendwas stimmt oder nicht.

Warum behandle ich das hier, obwohl mich Rammstein selbst in Spurenelementen nicht interessiert? Weil der Kollege Neuber intelligent und anschaulich die aktuellen Dysfunktionen deutscher Medienbetriebe beschreibt. Selbst der von mir geschätzte Kollege Daniel Drepper mit all seinen Qualifikationen hat sich hier zum Opfer der herrschenden Verwertungsmechanismen machen lassen. Sie funktionieren leider bei weit wichtigeren Themen ganz genauso. Und das erzeugt die oben beschriebene Verzweiflung in meinen Freundinnenkreisen. Die Folge ist Absentismus von Wahlen und Demokratie und Eskapismus im Medienkonsum. Beides ist denen, die herrschen, komplett wurst. Die Betreffenden sind “draussen”, spielen für die Durchsetzung (oder Bekämpfung) von Interessen keine Rolle.

Daraus generiert sich der Vormarsch der Rechten.

Die Anderen, alle links von der Mitte, selbst und gerade die mit “Systemkritik” im Kopf, sind willige Objekte der wichtigsten systemerhaltenden Strategie des Kapitalismus: der Individualisierung. Selbst die, die angeblich gegen sie kämpfen, leben sie in ihrer eigenen politischen Praxis vor. Keine Partei/Fraktion hat das exklusiv – es ist flächendeckend. So kann das natürlich nichts werden.

Der Kapitalismus zerstört auch seine “guten” Seiten

Neubers Vorgänger Florian Rötzer/overton hat einen Vorgang in den USA entdeckt, der in seiner Abstrusität geradezu “vorbildlich” zur weiteren Zuspitzung der beschriebenen Systemprobleme ist: Schon wieder ist ein KI-System entgleist, das Menschen ersetzen sollte – EATING DISORDER – Ein Chatbot sollte Menschen mit Essstörungen beraten, machte aber das Gegenteil. Er sollte Menschen ersetzen, die sich gerade gewerkschaftlich organisiert hatten.”

Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der vorgebliche “Fachkräftemangel”, der im Kern ein Mangel der Arbeitsbedingungen ist, wovon die Herren Merz, Spahn, Lauterbach etc. aber ahnungslos sind, bzw. bewusst und strategisch nichts wissen wollen, treibt diese monströsen Absurditäten voran. Das wird Menschenleben kosten wie die Coronapandemie, oder Kriege, die die Herrschenden gegeneinander führen (lassen). Wir geburtenstarken Jahrgänge werden zu den Opfern gehören.

Darum zum guten Schluss ein Eskapismus-Tipp, der freilich einige Barmittel voraussetzt:

Jessica Hamzelou/MIT Technology Review/heise: Altern ‘moralisch schlecht’: Innovatoren wollen eigenen Staat für Langlebigkeit – Zuzalu, eine Pop-up-Stadt in Montenegro, soll zum Hafen für Biohacker werden, die an lebensverlängernden Maßnahmen für die Menschheit arbeiten.”

Von jemand, der sich dort auskennt, ich selbst war Anfang der 80er mal dort, weiss ich, dass es dort “sehr schön” ist, “allerdings voller Russen”. Zuzalu hört sich phonetisch nach “Zuzahlen” an. Wenn Wladimir Putin dort Urlaub macht, schnell weg! Denn – spätestens – dann ist es ein Ziel.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net