Warum ein Krieg, den “Russland schon verloren hat” immer weitergeht – Ein Gipfeltreffen der Ratlosigkeit und leerer Versprechungen

„Die Abschreckung ist das Wirksamste gegenüber Putin. Weil wir keine Abschreckung hatten, haben wir Krieg.“ (Norbert Röttgen, 11. Juli 2023, bei Maischberger) Nach dem NATO-Gipfel von Vilnius beklagte Röttgen öffentlich, dass die Chance vertan worden wäre, durch eine klare Zusage an die Ukraine, sie nach dem Krieg zum NATO-Mitglied zu machen, Russland abzuschrecken. Tatsächlich ist der Gipfelbeschluss von Vilnius sehr vorsichtig formuliert und hält inzwischen alle Optionen offen, auch die, dass es nie zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine kommt. Denn er knüpft die Mitgliedschaftsoption der Ukraine an zwei Bedingungen: Alle müssen einverstanden sein, und die Ukraine muss alle Bedingungen erfüllen (vgl. Punkt 11, letzter Satz)

Praktisch gibt es keine „Liste“ von Beitrittsbedingungen, die ein NATO-Mitglied erfüllen „muss“. 1997 bildete sich allerdings ein Grundverständnis von bestimmten Kriterien heraus:

– Ein Land sollte demokratisch und

– marktwirtschaftlich verfasst sein (oder zumindest sich auf dem Weg dahin befinden).

– Das Militär sollte unter ziviler Kontrolle stehen.

– Das betreffende Land sollte ein guter Nachbar sein und

– Interoperabilität mit den NATO-Streitkräften erreichen wollen.

Zentral aber bleibt die im NATO-Statut verankerte Bedingung, dass das einzuladende Land einen Mehrwert für die Sicherheit des Bündnisses darstellen muss. Das ist die alles entscheidende Grenze der Bündniswahlfreiheit. Diesen „Mehrwert an Sicherheit“ kann die Ukraine nicht leisten, da sie zum Stellvertreter in einem Tauziehen zwischen den USA/NATO und Russland wurde. Denn das Wichtigste aus NATO-Sicht ist und bleibt (noch): Kein direkter Krieg mit Russland.

Nur noch eine Frage des Augenblicks

Was sich auf dem ukrainischen Schlachtfeld entfaltete, ist kein Krieg des 20. Jahrhunderts. Es ist kein Krieg, auf den die NATO vorbereitet wäre bzw. den sie konventionell gewinnen könnte. Eine direkte, nicht-nukleare NATO-Russland-Auseinandersetzung würde bereits bis in den Weltraum reichen. Beide Seiten wären versucht, den Zugang der anderen zu den Satelliten-gestützten Echtzeitinformationen und Kommunikationsmöglichkeiten zu eliminieren. Von da an wäre Griff nach dem Nukleararsenal als „letztes“ Mittel nur noch die Frage eines Augenblicks.

Also muss die Ukraine es allein ausfechten, was der Westen ihr zudachte: die strategische Schwächung Russlands, zu der NATO und EU die Begleitmusik liefern: Sanktionen, Waffen, Informationen, Spezialoperationen, Training und das propagandistische Versprechen, dass die Ukraine siegen wird, siegen muss. In gewisser Weise löst die NATO so ein, worüber George Soros unter dem Titel „Die Zukunft der NATO“ bereits 1993 sinnierte: die Verbindung von NATO-Waffen mit dem menschlichen (soldatischem) Potential in Osteuropa, die dazu führt, dass die NATO keine Verluste erleidet, die in der westlichen Öffentlichkeit nicht gerne gesehen werden. Solange es nur die Ukraine trifft, kann man die Hände ringen und barmen und Russland anklagen, aber es trifft nicht die „eigenen“ Leute.

Diese zynische Logik prägte auch die US-Berichterstattung über den Gipfel von Vilnius. In „Meet the Press“ erklärte Chuck Todd, dass Bidens Erfolg darin bestünde, die NATO-Alliierten zusammengeschmiedet zu haben, einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu führen, ohne amerikanische „boots on the ground“. Denn die USA sind im Wahlkampfmodus. Biden will es noch einmal wissen. Nach der Schlappe in Afghanistan muss aufgezählt werden, was der US-Präsident goldrichtig macht. Zinksärge mit US-Flaggen bedeckt, das wäre ein politisches Desaster. So sind es „nur“ Menschen in einem europäischen Land, jenseits des großen Teiches… Um die kann man Krokodilstränen weinen, aber das ist das Tal der Tränen, das durchschritten werden muss.

NBC verdanken wir auch den Vergleich zwischen Biden und Trump, was ihre Auftritte in Helsinki angeht (ab Minute 2). Trump traf in Helsinki 2018 auf Putin. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz erklärte Trump, er glaube Putin, dass sich Russland nicht in den US-Wahlkampf 2016 eingemischt hätte. Damit stellte er sich damals gegen das von Geheimdiensten, US-Demokraten und den mit ihnen verbundenen Medien beförderte Narrativ. Prompt folgte darauf die Beschuldigung, er wäre ein Hochverräter, und prompt entschuldigte sich Trump.

Von allem ist nicht mehr soviel übrig

Inzwischen ist mehr als eindeutig, dass das Narrativ der russischen Wahlbeeinflussung 2016 Teil der propagandistischen (und sehr erfolgreichen) Darstellung von Russland als unbelehrbarer, hochaggressiver Feind war und der psychologischen Einstimmung auf den Krieg diente. Biden dagegen verzichtete auf eine gemeinsame Pressekonferenz mit Putin, als er in ihn in der Schweiz traf und verkündete in Helsinki 2023, nunmehr die Hauptstadt eines neuen NATO-Mitgliedes: Russland hat den Krieg schon verloren. So bleibt nach dem NATO-Gipfel von Vilnius zunächst erst einmal alles wie gehabt: Die Ukraine muss kämpfen, ausgerüstet mit dem, was der Westen für sie noch hat und mit den immer weniger werdenden Männern, die zum Krieg noch taugen. Von allem ist nicht mehr soviel übrig.

Sonst würden die USA keine Cluster-Munition liefern, die inzwischen von den meisten Ländern geächtet ist. Aber das ist zu einem guten (Verteidigungs-)Zweck. Mit solcher Logik lässt sich demnächst der Einsatz jeder verbotenen Waffe rechtfertigen. Mit der gleichen Logik kommentierte der US-Außenminister den jüngsten Angriff auf die Krim-Brücke: Die Ukraine entscheidet, wir beobachten die Situation. Denn mittlerweile kann ja niemand mehr behaupten, die Russen attackierten sich selbst. So schob der Gipfel von Vilnius auch die Zerstörung des Nowa Kachowka Staudamms dem Krieg in die Schuhe. Wenn der nicht wäre, wäre alles noch heil.

Wir haben nichts mehr mit den deutschen Panzern zu tun

So ist es auch aus Deutschland zu hören. Wir haben nichts mehr mit den deutschen Panzern zu tun, die unter ukrainischer Flagge rollen. Wegen des Eigentumsübergangs. Aus Deutschland stammend, in die Ukraine geliefert, sind das alles jetzt quasi ukrainische Waffen. Sollten die dann versagen, haben wir auch nichts damit zu tun. Denn wer kauft schon deutsche Panzer, die auf dem ukrainischen Schlachtfeld ausbrennen? Die darin saßen, hatten Pech. Man fragt sich, wann die Ukrainer es satt sein werden, so verheizt zu werden. Der Einzige, der bisher laut murrte, ist der Stabschef der ukrainischen Armee.

Demnächst wollen Frankreich und Großbritannien Langstreckenwaffen liefern. Wo die niedergehen werden, so inzwischen die öffentliche Darstellung, liegt auch allein in der Verantwortung der Ukraine. Treffen sie urrussisches Territorium, bleiben westliche Hände blütenweiß, hat man angeblich nichts damit zu tun. Irgendwann werden Flugzeuge folgen (wer sie fliegen kann, ist offen). So wird eskaliert, wohl wissend, dass es die „Wunderwaffe“, die alles drehen und den ukrainischen Sieg bewirken würde, nicht gibt, wie Kirchheimer vom militärischen Geheimdienst der USA jüngst einräumte. Das alte und neue NATO-Rezept zur Kriegsbeendigung lautet: Russland müsse sich nur zurückziehen, die Aggression beenden, der Ukraine alles Territorium wiedergeben, denn all die westlichen Anstrengungen um ein Verhandlungslösung vor dem Krieg seien leider gescheitert.

Warum sie ein verhandeltes Kriegsende nicht wollten

So erklärte das die Bundesaußenministerin im Juli 2023 im Interview mit Ronzheimer und wurde nicht einmal rot dabei. Baerbock führte die Minsk-Abkommen ins Feld, um die sich die Koalition so bemüht hätte und vergaß völlig, dass die nie dazu gedacht waren, verwirklicht zu werden, weder durch Frankreich oder Deutschland, noch seitens der Ukraine. Über die russischen Vorschläge zur Verhandlung einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa, die im Dezember 2021 an die NATO und die USA adressiert waren, sprach sie gar nicht. Die in Istanbul 2022 erreichte Verhandlungslösung zwischen der Ukraine und Russland, immerhin paraphiert, war ihr auch entfallen. Denn sonst müsste sie sich mit der Frage auseinandersetzen, warum sie und andere ein verhandeltes Kriegsende nicht wollten und nicht wollen.

Die Antwort darauf gab Biden in Helsinki. Warum mit einem schon besiegten Russland auch noch verhandeln? Das würde Sinn machen, wenn es der Realität entspräche, die offenbar in den Köpfen der maßgeblichen Akteure überhaupt keine Rolle spielt und wenn, dann in einem ganz perfiden Sinn. Denn nichts an diesem Stellvertreterkrieg lief, wie geplant. Der Westen glaubte, mit den Sanktionen Russland schnell „zu ruinieren“. Russland glaubte, eine schnelle Verhandlungslösung mit Kiew zu erreichen. Beide Seiten verkalkulierten sich. Nun kämpfen beide um Sieg.

Niemand redet über die militärischen Opfer der Ukraine

Inzwischen richtet Russland erklärtermaßen seine territorialen Kriegsziele an der Reichweite der Waffen aus, die der Ukraine geliefert werden. Je weiter diese Waffen reichen, um so größer würde die Pufferzone aus russischer Sicht werden müssen. Die NATO wiederum arbeitet an einem „cordon sanitaire“, der ausschließlich aktuelles NATO-Territorium betrifft, Niemand redet über die militärischen Opfer der Ukraine. Was richten 155 mm Geschosse tatsächlich an? Immer sind es „nur“ die Frauen, die Kinder, die Alten. Aber auch diese Sorge gilt schon nicht mehr für die, die im abtrünnigen (und inzwischen russischem) Donezk leben. Deren Elend, das 2014 einsetzte, interessiert den Westen überhaupt nicht.

Niemand sah die sich entfaltende Tragödie klarer voraus als Russland. Es fürchtete diesen Krieg, den es nicht führen wollte. Das war Teil seiner Vorbehalte gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Aber das ist schon Teil einer Erzählung, die dem NATO-Narrativ widerspricht. Denn auch für die NATO in Vilnius gilt unvermindert: Die NATO ist rein defensiv und bedroht niemanden. Sie schreckt nur ab. Dieser Krieg kam aus dem Nichts. Er war völlig unprovoziert. Er ist Ausdruck der russischen Lust an der Vernichtung der Ukraine. Nur dass die Ukraine, so geht die NATO-Erzählung weiter, nicht vernichtet werden wird. Sie wird militärisch gegen Russland siegen.

Ergibt diese NATO-Haltung irgendeinen Sinn, der über das Sterben in der Ukraine hinausreicht?

Nur dann, wenn man unverdrossen glaubt, dass Russland als erster zu Boden geht. Indes, auch die NATO kommt nicht umhin zu bemerken, dass die Russen sich nicht zurückziehen und die ukrainische Gegenoffensive nicht vorankommt. Um nicht mit Moskau reden zu müssen, wird stattdessen an einem neuen Eisernen Vorhang gearbeitet, der sich quer durch Europa ziehen soll. Damit die Russen, wenn sie schon die Ukraine vernichten, nicht auch noch über uns überfallen. Also muss mehr Abschreckung her, mehr Rüstung, mehr als je zuvor. Das ist die Logik von Vilnius. Es ist eine Bunkermentalität, ohne Gesprächsbereitschaft, ohne diplomatischen Ausweg. Es ist ein zynisches Endzeitszenario, das große politische Ratlosigkeit verrät.

Nach Vilnius ist ebenfalls eindeutig, dass die EU weder die Kraft noch den Willen hat, eine anhaltende Eiszeit in Europa zu verhindern, obwohl alle gegenwärtigen Planungen nur eines implizieren: eine andauernd extrem fragile Sicherheitslage auf dem europäischen Kontinent. So ist der Ball wieder im Feld der „Großen“, den USA und Russland. In Kiew lag er nie.

Hätte er dort gelegen, hätten wir Frieden gehabt seit April 2022. Die Ukraine wäre neutral geworden, der Donbass wäre ukrainisch, die Krim russisch geblieben. Das wäre zwar nicht alles gewesen, aber eine sehr viel humanere Lösung als der andauernde Krieg und die anhaltende militärische Abschreckung. So bleibt es bei der Ansage der NATO: Alles ukrainische Territorium (Grenzen 1991) wird durch die Ukraine militärisch zurückerkämpft. Die Krim und der Donbass. Und alle übrigen Regionen auf der Welt aufgepasst: Wir denken global! Wir sind eine Milliarde und die Gewinner der Geschichte. (Russland hat ja schon verloren.)

3,3 Milliarden Menschen in hoch verschuldeten Ländern

Allein, unter dieser einen Milliarde Menschen gibt es immer mehr mit immer tiefer werdenden Sorgenfalten im Gesicht, vom Rest der Menschheit ganz zu schweigen. Während wir über höhere Rüstungsbudgets reden, leben inzwischen 3,3 Milliarden Menschen in so hoch verschuldeten Ländern, dass der Schuldendienst ihre Investitionen in Bildung oder Gesundheit längst übersteigt. Das globale Finanzsystem scheint ungerührt, obwohl es mit einem kolossalen Systemversagen konfrontiert ist, wie der UN-Generalsekretär anmerkte.

Auch diese Tragödie dringt nicht durch, so wie nicht durchdringt, dass der nun durch Russland gestoppte Getreidedeal zwei Komponenten hatte: eine ukrainische und eine russische, und der Westen hinsichtlich der russischen Lieferungen eine Bringschuld hat, die er nicht einlöste. Die UN hatte sich offenbar bemüht, durch das Dickicht der Sanktionen eine Schneise zu schlagen und russischen Besorgnissen nachzukommen. Nun wird die Türkei, die vom UN-Generalsekretär als einziges Land lobend erwähnt wurde, versuchen zu retten, was gerettet werden muss. Wird erst der Albtraum, dass im Schwarzen Meer die zivile Schifffahrt zum Erliegen kommen könnte, weil nichts mehr sicher ist, den Weckruf bringen?

So ist es auch verständlich, dass sich immer mehr Staaten abwenden von dem, was einst Hoffnung und Versprechen war. Wir kommen immer näher an einen Punkt, an dem nur noch wir an etwas festhalten, was niemand sonst mehr will: Eine alte Welt beherrscht vom Glauben an die eine unbesiegbare Führungsmacht, in der wir uns wie strafende Götter aufführen, ohne Rücksicht auf Verluste. Sicherheit und Zukunft haben ein anderes Gesicht. Was als geplante Strategie der globalen Isolation Russlands begann, führt absehbar in die Isolation des Westens und in seinen Niedergang. Die Zeichen sind längst an der Wand. Der Gipfel von Vilnius wollte und konnte sie nicht lesen.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.