Von der aktuellen Notwendigkeit politischer Bildung
Der Äther galt im 19. Jahrhundert als die Substanz, die das Licht trägt, die bewegt, die die Leere zwischen festen Körpern füllt. Äther war überall, dabei so unfassbar wie der heilige Geist der Katholiken. Niemand konnte diesen Äther sehen, riechen, fühlen, schmecken. Albert Einstein hat sich Ende des 19. Jahrhunderts am Ätherwind versucht:„Der elektrische Strom setzt bei seinem Entstehen den umliegenden Äther in irgend eine, bisher ihrem Wesen nach noch nicht sicher bestimmte, momentane Bewegung“, schrieb er. Später haben Einstein, Nils Bohr, Heisenberg und andere mit der Äthertheorie aufgeräumt, sie ersetzt.
Und heute? Ungewissheit allerorts, überall Zweifel, oft mit Abneigung verknüpft. Unverständnis breitet sich aus, als werde es tagtäglich von Millionen ausgesät. Widerwille, Beleidigungen, Hass. Habe ich etwas vergessen? Mir kommt es so vor, als ob sich der Satz der Maria Böll über ihren Sohn Heinrich: „Was soll aus dem Jungen bloß werden“, über die gesamte Gesellschaft gelegt habe. Wir haben heute unseren eigenen Äther, es fehlen freilich die Einsteins und Heisenbergs und eine Marie Curie, die den „Äther“ vertreiben könnten.
Und nun kommt auch noch die AfD hinzu, wird Teil des „Äthers“. Gegenwärtig liegt diese Partei in den Umfrage-Projektionen, die mehr erfassen als die politische Augenblickstimmung bei 20 v.H. (so am 14. Juli die Forschungsgruppe Wahlen und die Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung am 4. Juli). In Brandenburg, Thüringen und Sachsen würde die AfD bei Landtagswahlen gegenwärtig stärkste Fraktion. Spitzenwert in Thüringen sind 34 v.H. Seit genau einem Jahr liegt die AfD vor ihrem Bundestagswahl-Ergebnis von 2021. zu alledem: CDU-Chef Friedrich Merz hat nun, nachdem Mario Czaja durch Herrn Linnemann ersetzt wurde, die Tür zur AfD wenigstens einen Spalt breit geöffnet.
2021 machten knapp fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger das Kreuzchen anlässlich der Bundestagswahl bei der AfD (Erststimmen). Überträgt man die Projektionswerte bei ähnlicher Wahlbeteiligung auf eine fiktive Wahl, lägen die Erststimmen der AfD bei zehn Millionen – das ist in etwa das Ergebnis, das die CDU 2021 in der Bundesrepublik erzielte. Die CSU nicht mitgerechnet.
Die AfD ist erst vor zehn Jahren gegründet worden. Ihre Gründerinnen und Gründer hatten mehrfaches im Sinn: Man wollte die stärker werdende gesellschaftliche und parlamentarische Bewegung hin zu einer umfassenden rechtlichen Gleichheit im Land wenigstens bremsen. Ferner sollte Besitz der Deutschen in Form von Kapital und Produktivmitteln gegenüber, wie sie meinten, unkalkulierbaren europäischen Risiken konserviert werden. Man wollte eine europäische Schuldenaufnahme abwehren und dafür sorgen, dass nicht allzu viele „Fremde“ ins Land strömten. Die AfD wurde, zusammengefasst, aus der Furcht vor Neuem und Verlusten gegründet: Germans accumulated Capital first. Damals, 2013, erreichte diese Partei in der Bundestagswahl weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, nämlich 4,7 v.H.
2017 entfielen auf die AfD 12,6 v.H. der Zweitstimmen und 2021 waren es 10,3 v.H. Ursächlich für den Anstieg war und ist, dass Gegnerinnen und Gegner einer Einwanderung nach Deutschland nun genau wussten und wissen, wo sie bei Wahlen ihr Kreuzchen machen sollen. In Kombination mit „der Ausländerfrage“ setzte sich in vielen, vielen Köpfen fest, das „System“ regiere über die Köpfe der Menschen hinweg.
Das ist ein altes Muster, dass sich schon die Nazis gegen die Weimarer Republik zu Nutze gemacht hatten. Die Nazis nannten die demokratischen bürgerlichen und linken Parteien „Systemparteien“. Der Begriff ist heute auf der rechten Seite wieder gang und gebe.
Aus den letzten Jahren resultiert die märchenhafte Erzählung, die AfD habe sich im Laufe der vergangenen Jahre radikalisiert. Damit soll der stimmungs- und stimmenmäßige Aufstieg der AfD einen quasi „naturwüchsigen“ Charakter bekommen. Das ist mindestens ungenau. Die AfD ist ab dem Tag ihrer Gründung systematisch extremisiert worden. Das war kein passivisches Geschehen, sondern darin steckt eine aktiv betriebene Verwandlung. Zuerst geschah die langsam, freilich damals bereits für die von Verlust-Furcht Getriebenen frustrierend. Dann rascher. Die ursprünglich gesellschafts- und finanzwirtschaftlich bewegten Revisionisten erfüllten hierbei die Rolle der nützlichen Idioten.
Die AfD stützt sich mittlerweile auf einen argumentativ versierten, reaktionären, völkisch eingestellten Funktionärskörper. Auch der Antisemitismus fehlt da nicht. Nach Darstellung des Verfassungsschutzes haben etwa 30.000 Bürgerinnen und Bürger im Land das Parteibuch der AfD. Im Juni 2023 vorgelegten Jahresbericht der Behörde ist die Rede davon, dass davon 10 000 extremistische Ansichten verträten, also solche Auffassungen, die demokratiefeindlich sind und die darauf hinauslaufen, den Rechtsstaat a la longue abzuschaffen. Der Verfassungsschutz hat insgesamt fast 40.000 rechtsextremistische Bürgerinnen und Bürger registriert. 23.500 Straftaten wurden 2022 als rechtsextremistisch motiviert eingeordnet.
Zum Vergleich: Die erste wirkmächtige rechtsextremistische Bewegung während der fünfziger Jahre, die sozialistische Reichspartei hatte 10.000 Mitglieder, die NPD bis zum Zeitpunkt der AfD-Gründung maximal 7000.
Um den Funktionärskörper der AfD herum existiert eine Fülle kleiner und kleinster, regional und lokal verorteter, konservativer bis zutiefst ausländerfeindlicher, antisemitischer, rassistischer und teils rohe Gewalt einsetzende Vereine und Initiativen. Zusammengefasst lässt sich auf beide „Sphären“ gemünzt sagen: Man weiß, was man voneinander hat, ohne sich ständig um den Hals zu fallen.
Ferner stützt sich die AfD heute auf eine Art „Überbau“, auf – so scheint es – „intellektualisierte“ Figuren, Organisationen und Medien, die der AfD Einfluss und Beachtung weit in traditionell konservative Schichten sichern sollen. Der „Apparat“ bedient sich aller heute gegebenen Kommunikationstechniken, auch des ständigen Antriebs und der Selbst- Vergewisserung durch sogenannte soziale Medien. Zudem hat sich die völkisch-ausländerfeindliche deutsche Bewegung in einen internationalen Raum eingepasst.
Das Wichtigste in diesem Zusammenhang: Ohne abertausende Mitläufer blieben Funktionärskörper und Schlägertrupps und Überbau in der Wirkung begrenzt. Sie wären eine ständige Bedrohung; sie ängstigen abertausende Jüdinnen und Juden im Land auf fürchterliche Art, auch viele Frauen werden bedroht, die sich als dem Islam zugehörig zeigen, sie verfolgen Linke, bedrohen und ermorden Amtsträger wie im Fall des Walter Lübcke. Aber erst die Masse macht den Kohl richtig fett.
Mitläufer. Auch das ist ein Wort, das wir aus unserer Geschichte kennen. Manche haben sich angewöhnt, die als eine amorphe Masse aus Verirrten, Fehlgeleiteten, Frustrierten, aber irgendwie dennoch im Kern Gutwillige zu begreifen, die auf den Ruf warten: Kommt zurück! In der Folge bildeten sich Illusionen wie Quellwolken vor einem Gewitter. Beispiel Wolfgang Kubicki, FDP-Abgeordneter und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Im Januar 2019 sagte er dem Berliner Tagesspiegel: „Die AfD hat bundesweit ihren Zenit überschritten, das ist klar zu erkennen….. Ich beobachte ohnehin, dass sich das Bild der AfD bei ihren Anhängern abschleift…“ Und: „Ich warne dringend davor, den Verfassungsschutz politisch zu instrumentalisieren. Die Behörde kommt ihrer Aufgabe nach und jede Aufforderung, die AfD zu beobachten, verstärkt deren Opferrolle und Argumente, die anderen Parteien wollten sie mundtot machen.“
Der Glaube an Unsinn, Dummheit und eine gehörige Portion Bösartigkeit
Voll daneben. Wer wie Kubicki meint, Beobachtung stärke am Ende die AfD, der meint wohl auch, zur Zeit würde in den Kinos der Film gespielt: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Herr Höcke als ideologischer „Enkel“ des unverstandenen, rebellischen James Dean und Frau Alice Weidel als Wiederkehr der Natalie Wood – da lachen nicht mal mehr die Hühner.
Angeleitet durch die wortführenden hat eine große Zahl begonnen, die Repräsentanten „des Systems“ zu verachten; ein Teil von denen hasst die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Darin stecken auch abstruse Vorstellungen.
Abstruses Zeug. Man kann es drehen und wenden wie man will: Zum Mitläufertum gehören Nichtwissen, der Glaube an Unsinn, Dummheit und eine gehörige Portion Bösartigkeit. Dummheit und Unwissen?
Der Focus lieferte vor wenigen Tagen ein aufschlussreiches Stückchen Hintergrund zu dem, was sich da in Köpfen abspielt, also wie es unten tickt, wenn nach oben geguckt wird. Das Blatt hatte sich im kleinen thüringischen Ort Goldisthal umgeschaut und neben anderen eine Frau „mit längeren Haaren“ befragt. Die kritisierte, „Politiker, die vom Urlaub mit dem Flieger abraten, aber selbst in aller Welt präsent seien“. Es frustete diese Frau auch, dass „die Ostdeutschen“ nach der Wende wegen ihrer selbstgemachten Stoffbeutel „verpönt“ gewesen seien, die nun aber im Trend lägen. In Goldisthal setzten 61 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihr Kreuzchen hinten den Namen des AfD-Kandidaten für das Landratsamt.
Statt Abendbrot Gedanken machen
Sie werden es kaum glauben. Das Institut für Demoskopie Allensbach fragte kürzlich, wie das im Grundgesetz geregelt sei: Repräsentative oder direkte Demokratie in Deutschland? 47 v.H. der Befragten gaben als Antwort die repräsentative Demokratie an. Aber 40 v.H. kratzten sich ratlos den Kopf und 13 v.H. tippten daneben. Mit einer weiteren Frage wollten die Allensbacher wissen, welche Stimme für die Stärke einer Fraktion im Bundestag entscheidend sei, die Erst- oder die Zweitstimme? 58 v.H. lagen falsch oder gaben an, das nicht zu wissen (FAZ vom 24. Juni, Seite zehn: „Am Bürger vorbei“). Der kluge alte Spruch, sich statt Abendbrot Gedanken zu machen, ist unter vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen leider völlig aus Gebrauch und Übung. Es würde mich nicht wundern, wenn aus diesen Milieus auf die Kreuzworträtsel-Frage nach dem „berühmten deutschen Publizisten mit fünf Buchstaben statt „Heine“ der Name „Höcke“ hingeschrieben würde.
Daher sind jüngste Äußerungen von Bundeskanzlern Olaf Scholz zum Thema nicht überzeugend. Er sei der AfD gegenüber „ganz zuversichtlich“, erklärte er in einer Regierungsbefragung am 5. Juli im Deutschen Bundestag. Der Kanzler wörtlich: „Sie werden bei der nächsten Bundestagswahl nicht anders abschneiden als bei der letzten.“ Auf wen oder was sich dieser Optimismus dabei stützt, wurde nicht klar.
Unentwegt warnen Repräsentanten der Jüdinnen und Juden in Deutschland vor einem weiteren Erstarken der AfD. „Auffällig“ sei, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster dem Spiegel, „dass die AfD, auch im Bund als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft, in der Lage ist, das Milieu, das sie anspricht, sukzessive zu erweitern.“
Schuster liegt wohl eher richtig. Was also ist zu tun?
Das wichtigste ist, politische Bildung in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger zu bringen. Von der Wiege bis zur Bahre. Politische Bildung wird die AfD nicht austrocknen; aber sie kann dazu führen, dass sie wieder schrumpft und klein wird.
Ich lese andauernd, „die Jugend“ wolle nichts rechtes mehr leisten. Ferner wird erzählt. „die Alten“ fräßen die Jungen auf, weil sie einen zu großen Teil des Volkseinkommens beanspruchten; und die Häuser gehörten ihnen sowieso. Die Mittelschicht verschwinde, sie versinke im Prekariat. Im heutigen „Äther“ finde ich große Sensibilität gegenüber Benachteiligungen und üblen Nachreden und gleichzeitig eine wachsende Verrohung. Das von den Nazis in Strafrecht aufgenommene Wort „Volksverräter“ ist wieder zu hören und zu lesen. Flora und die Fauna gingen einem schrecklichen Ende entgegen, wird berichtet. Der Golfstrom fließe immer langsamer. Auf dem Land werde es immer wärmer. Der Westen der Republik habe nach der deutschen Einheit den Osten beschissen. Die Chinesen“ seien dabei, uns aufzukaufen. Die Amis wollten uns endgültig amerikanisieren. Andere sagen, Putin wolle aus Deutschland Kleinholz machen. Wer davon immer noch nicht genug hat, der kann ja denen zuhören, die behaupten, Bill Gates wolle das Land verseuchen.
Gegen all das helfen keine Talkshows und auch keine Demos. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die weiterführenden Schulen dazu durchringen könnten statt Abschlussfahrten in Europas Städte und Museen eine Woche politische Bildung zu betreiben: Erklären und Verständnis wecken für demokratische Institutionen. Begreiflich machen, dass Auswahl und demokratischer Wettbewerb, Repräsentation und Beständigkeit, die „ewige Gültigkeit“ von Grundrechten Dinge sind, die unser Leben ausmachen.
Es wäre darüber hinaus etwas gewonnen, wenn in den Tarifverträgen nicht nur Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung vereinbart würden, sondern auch die politische Bildung. Es wäre ferner noch mehr gewonnen, wenn unsere etwas schläfrigen Intendanten und Intendantinnen sich wieder mal anschauten, was weiland der „7. Sinn“ im Vorabendprogramm zwischen 1966 und 2005 für die Sicherheit auf den deutschen Straßen leistete. Warum gibt es Ähnliches nicht, um die politische Bildung der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern? Meinetwegen im Wechsel mit der „Börse vor acht“.
Es gäbe viele Möglichkeiten, in Sachen politischer Bildung voran zu kommen. Ihnen werden noch viel mehr einfallen als mir. Und Bonn? Bonn ist die Stadt des Grundgesetzes, der Friedens- und Ostpolitik, der guten Nachbarschaft, der Achtung des Grundgesetzes. Die Bundesstadt ist geradezu prädestiniert, in den früheren Räumlichkeiten der Republik politische Bildung anzubieten.
Mein Dank für diesen Beitrag kommt spät, lieber Klaus Vater, ist aber um so nachdrücklicher, als gerade heute die folgende Meldung über die Ticker lief. Es ist unfassbar! Das Werk das Seehofer begonnen hat, will nun eine SPD Innenministerin vollenden. Und das passend im Nachlauf des gerade von allen europäischen Faschisten abgefeierten Parteitag in Magdeburg.
https://www.deutschlandfunk.de/bericht-bundeszentrale-fuer-politische-bildung-droht-sparprogramm-100.html