Best of 6. August 2023: WM, Grüne/Ampel, Niger, Mediathekperlen

Die DFB-Fussballerinnen müssen sich nicht schämen. Die Weltmeisterinnen sind auch raus. Ich genoss das Elfmeterschiessen zum Mittagessen im l’Olivo auf meinem – lautlosen! – Tablet. Die kranke Elfmeterregel der Fifa liess gleich mal die Luft raus. Die Torhüterinnen fliegen zwar meistens in die richtige Ecke, weil sie so lange stehenbleiben müssen, schaffen es aber bei platzierter Ausführung nicht mehr rechtzeitig in die Flugbahn des Balles. So bleibt ihnen nur psychologische Kriegsführung, deren gesprochene Seite uns TV-Glotzer*inne*n verschlossen bleibt. Star des Spiels war dennoch die schwedische Torhüterin Zećira Mušović, ein Kind des Jugoslawienkrieges der 90er, die ihr Team überhaupt erst ins Elfmeterschiessen gebracht hat. Ausgeschieden ist heute Nacht Südafrika (habs noch nicht gesehen), aber sie kommen wieder.

Diese WM dürfte nun noch interessanter werden. Ich frage mich, wer Japan schlagen soll (und will). Spanien war im ersten Versuch desasterartig gescheitert. Ob sie einen zweiten bekommen?

Grünes Sündenregister

Fabio de Masi wirkt öffentlich nach dem freiwilligen Verlust seines Bundestagsmandats wie befreit. Seitdem lässt sich langsam erahnen, was für ein Verlust der Mann für “Die Linke” im besonderen und dem Bundestag im allgemeinen ist. Respektabel, dass er sich nicht egomanisch an seinen – gewiss zahlreichen – innerparteilichen Widersacher*inne*n zu rächen versucht, sondern sich eine Stellung als respektabler Publizist aufbaut. Und dabei hat es heute die Grünen erwischt.

Wie die Ampel Deutschland vor die Wand fährt – Die deutsche Wirtschaft ist auf Schrumpfkurs – und die Bundesregierung tut alles, damit es auch so bleibt.” schreibt de Masi in der Berliner Zeitung. Lesen Sie das in Ruhe, und suchen Sie nach den Stellen, an denen Sie widersprechen würden. Ich habe nämlich – leider – keine gefunden.

Niger

Zur Krisenentwicklung in Niger gibt es weitere Texte. Dabei ist bemerkenswert, dass sie jetzt erscheinen, während das Land und seine Region jahrzehntelang den meisten Medien überhaupt keine Erwähnung wert war. Auch jetzt ist es noch so, dass den “Leitmedien” fast jede Kompetenz fehlt, weil sie niemals auf die Idee gekommen wären, dort “kostspielige” Korrespondent*inn*enplätze zu platzieren. Landesbesuche beschränkten sich darauf, sich in den Flugzeugen von Bundesminister*inne*n oder EU-Kommissionspräsidentinnen mitnehmen zu lassen und eingebettet zu berichten. So ist dann auch die Politik der EU und der Bundesregierung geworden: ahnungslos.

Und jetzt das Gegreine, dass “der Russe” und seine “Wagner-“Mörder – auf den Namen mussten die ja auch erstmal kommen – sich die Dummheit zunutze machen. Das als sarkastischer Vorspruch meinerseits zu diesen dennoch informativen Texten.

Joana de Deus Pereira/ipg-journal: Das Spiel der Hydra – Nach dem Putsch in Niger wächst Russlands Einfluss in Afrika. Doch auch Moskau droht der Verlust der Kontrolle – verfolgt Wagner eigene Interessen?”

Philipp Fess/telepolis: Wagner-Gruppe in Niger: Kalter Krieg in der Sahel-Zone – In Niger stehen sich nicht nur Putschisten und Demokraten gegenüber. Auch die Achsen USA-Europa und Russland-China ringen um Einfluss. Ein hybrider Informationskrieg eskaliert die Lage.”

Harald Neuber/telepolis: Interne Dokumente: EU steigt in Informationskrieg mit Russland in Afrika ein – Russische Fahnen nach dem Umsturz in Niger schüren Nervosität. Experten in Brüssel warnen vor Desinformation aus Moskau. Nun planen sie Gegenpropaganda – auch präventiv.”

Wer wie ich meint, dass Sonneborn/Latour die Sache annähernd richtig sehen, könnte sich zu der Überlegung verführen lassen, wie ein Bündnis mit den Zivilgesellschaften solcher Länder gegen die militarisierten Oligarchien und marodierenden und mordenden Dschihadisten geschmiedet werden könnte. Wer würde die real existierenden Migrationsökonomien menschenrechtlich stabilisieren, mittels der sog. “Werte”? Wer soll das von hier aus ansteuern? Die EU? Die Bundesregierung? Die feministische wertebasierte Aussenministerin? Oder die in die Geschichte eingehen wollende Innenministerin (“historische” Menschenjagd)? Parteistiftungen? Ja, wer …?

Mediathekperlen: “No Sex” und Beirut

Kontrastreich das ARTE-Programm von letztem Mittwoch. Beides behandelt Emanzipationskämpfe – aber sie könnten kaum unterschiedlicher sein.

Sorgen der Menschen in reichen kapitalistischen Ländern: No Sex – In einer Gesellschaft, in der man über seine sexuellen Eskapaden fast ebenso beiläufig spricht wie über das Wetter, passen enthaltsam lebende Menschen nicht in die Norm. Ob freiwillig oder umständehalber abstinent: Wie gestaltet sich das Leben, wenn eines der angeblichen menschlichen Grundbedürfnisse unbefriedigt bleibt? Keuschheit erlaubt eine neue Sicht auf die heutige Gesellschaft.” Verfügbar bis Ende August.

Im Schatten von Beirut – Hoffen auf ein Wunder – Sabra und Schatila, zwei Stadtteile der libanesischen Hauptstadt Beirut, sind Orte, dessen Bewohner:innen am Existenzminimum leben – ohne Papiere, ohne Bürgerrechte, ohne Perspektive. Die nach der Gründung Israels für die palästinensischen Flüchtlinge notdürftig geschaffenen Camps sind über die Jahrzehnte zu eigenen Stadtteilen geworden.” von Stephen Gerard Kelly. Verfügbar bis Ende Oktober.

Warnhinweis: In beiden Filmen wird nicht wenig geweint. Sie dürfen mitweinen, aber danach die Wut nicht vergessen. Beirut/Libanon: Augen und Ohren zu, Mauer bauen und Deckel drauf? Bombardieren, wie es die Nachbarstaaten machen? Ignorieren? Nach dem Film können Sie das nicht mehr.

Für einen ausgeglicheneren Gefühlshaushalt  – mit viel Sinn für das Schöne im politischen (!) Leben – empfehle ich Ihnen (heute Abend linear nach dem Tatort): Belle Epoque – Saison der Liebe – Spanien in den 1930er Jahren: Der junge Soldat Fernando desertiert. Die Monarchie liegt in den letzten Zügen. Unterschlupf findet er über den Winter in einem kleinen Dorf bei Don Manolo. Zum Sommer kommen Manolos Töchter aus Madrid zurück … – Eine beschwingte, vielfach ausgezeichnete Komödie (1992), die Penelope Cruz zum internationalen Durchbruch verhalf.” Verfügbar bis 4.9.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net