Indigene Kultur als Aushängeschild des Infrastrukturprojekts Tren Maya – Wundersame Bahn CLXIII
So authentisch, so echt, so naturverbunden. „Wir Europäer*innen haben den Bezug zur Natur komplett verloren, die Indigenen dagegen leben im Einklang mit ihr.“ Oder: „Das Retreat in Tulum war ein einschneidendes Erlebnis! Ein echter Schamane hat mich wieder an die Wurzeln meines Selbst geführt.“ So oder so ähnlich klingen so manche Urlauber*innen, die von einer Reise aus Mexiko zurückkehren. Die Exotisierung (und Stereotypisierung) einer anscheinend so fernen Lebensweise ist allgegenwärtig und prägt uns alle – ob popkulturell in Film und Fernsehen vermittelt, ob als zur Schau gestelltes Karnevalskostüm oder als Souvenir auf der Fensterbank. Sowohl die Urlaubsdestinationen selbst als auch Reiseveranstalter „schmücken“ sich mit der Kultur des jeweiligen Ortes. Auch beim Infrastrukturprojekt „Tren Maya“ wird diese Strategie angewandt. Aber, das dürften sich einige fragen, was ist daran nicht in Ordnung? Warum sollten Regionen nicht von ihrem materiellen und immateriellen Erbe profitieren?
Oft sehen Länder des Globalen Südens im Tourismus eine wirtschaftliche Chance, die eine „Entwicklung“ (1) unabhängig vom Rohstoffexport verspricht. Dies hat auch Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (den Erstbuchstaben entsprechend abgekürzt zu AMLO) erkannt und ist nun dabei, sein Prestigeprojekt, den Tren Maya, zu verwirklichen. Wie sich bereits erahnen lässt, sind die Namensgeber*innen für den Zug die indigenen Maya, eine heterogene Bevölkerungsgruppe, die neben den ebenso indigenen Tsotsiles, Tsetales und Choles weite Teile der Halbinsel Yucatán im Südosten Mexikos bewohnt.
Der Tren Maya soll über 1500 Kilometer Tourist*innen, Anwohner*innen und Waren zwischen den urbanen Zentren Yucatáns und den bedeutendsten Maya-Stätten transportieren. Obwohl der Tourismus nur knapp ein Drittel der prognostizierten Gewinne ausmachen soll, wird er als Legitimation für den Trassenbau benutzt. Schließlich soll der Tren Maya die „unterentwickelte“ und wenig industrialisierte Region in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung voranbringen. Die für Bau und Organisation zuständige Tourismusbehörde FONATUR verspricht Arbeitsplätze im Baugewerbe, in Hotellerie und Gastronomie sowie beim Verkauf von Kunsthandwerk.
Tourismus ist nie ein einseitiges Erlebnis. Er hinterlässt sowohl bei dem/der Tourist*in als auch bei der lokalen Bevölkerung Spuren. Er beeinflusst Wirtschaft, Infrastruktur und auch Weltanschauungen, während Tourist*innen mit neuen Eindrücken, Erkenntnissen und Souvenirs zurückkehren. Es geht um den Austausch mit anderen Kulturen, Traditionen und Bräuchen. Tourist*innen sind auf der Suche nach anderen Reiseformen, die ihre persönlichen Bedürfnisse befriedigen, möchten neue Formen des Lebens oder Wohnens ausprobieren und unbekannte Orte „entdecken“. Daher entwickelt sich Kultur zunehmend zu einem zu beobachtenden und konsumierenden Objekt. Diese Art von Tourismus entstand in den 1970er-Jahren, erlangte jedoch erst in den 1990er-Jahren mehr Bedeutung – durch die Erosion des Massentourismus’, durch anspruchsvollere Tourist*innen sowie durch Nichtregierungsorganisationen, die Druck auf die Tourismusindustrie ausübten, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen.
„Indigener Tourismus“
Im Fall des Tren Maya kann von „indigenem Tourismus“ gesprochen werden, denn er zielt darauf ab, indigene Gemeinden beim Ausbau der touristischen Angebote miteinzubeziehen, außerdem soll deren Einverständnis eingeholt sowie lokale, nationale und internationale Zusammenarbeit erreicht werden. Diese Art von Tourismus soll einen kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und den verschiedenen kulturellen Identitäten vermitteln.
Historisch gesehen sind indigene Gruppen Lateinamerikas Teil der Entwicklung des dortigen Tourismus. Sei es, weil Tourismus- und Immobilienkapital in die Territorien der indigenen Gruppen eindringt, oder weil Indigene mit dem Tourismus verbundene Lohnarbeiten ausführen, wie den Verkauf von Produkten oder bestimmte Dienstleistungen. Durch die Globalisierung erfreut sich kulturelle Diversität einer immer größeren Aufmerksamkeit. Die Nutzung indigener Traditionen, Zeremonien, Tänze, Musik und anderer Ausdrucksformen durch den Tourismus steht jedoch im scharfen Gegensatz zur mangelnden Anerkennung ihrer kollektiven Rechte. Die Anerkennung indigener Lebensweisen als „immaterielles Erbe“ (der UNESCO) befördert die Vorstellung der indigenen Bevölkerungsgruppen als prämodern, mit einer anzestralen, also von den Vorfahren überlieferten Lebensweise, im Gegensatz zur „modernen“ westlichen Lebensweise.
Indigene arbeiten letztlich als Arbeiter*innen in prekären und rassifizierten Arbeitsverhältnissen in der Gastronomie und Hotellerie, im Baugewerbe oder verkaufen Kunsthandwerk. Indigenes Handwerk sowie medizinische, schamanische Leistungen werden ausgebeutet und angeeignet, während auf ihre politischen Forderungen nach Anerkennung ihrer Rechte nicht eingegangen wird.
Mexiko setzt seit Längerem auf indigene Stätten und die UNESCO, um den Tourismus anzukurbeln. Die Kulturstätten sollten in den Tourismus jenseits von Strand und Sonne einbezogen werden (obwohl der klassische Strandtourismus immer noch die höchsten Einnahmen generiert). So entstanden staatlich geförderte Programme zur Entwicklung indigener Völker durch Tourismus, wie die „pueblos mágicos“, die „magischen Dörfer“, oder die „paraísos indígenas“, die „indigenen Paradiese“, die den Besucher*innen ein einzigartiges Erlebnis bieten, in dem sie „die Energie der Berge spüren und sich mit der Natur und den Indigenen verbinden“ können. Das kulturelle Erbe stellt also eine Ressource dar, die weltweit anerkannt und für touristische Zwecke sowie zur Förderung der wirtschaftlichen „Entwicklung“ genutzt wird.
Plurikulturelle Natur der Nation
Trotz der Rückbesinnung auf die kulturellen Ausdrucksformen der Indigenen zwecks Förderung des Tourismus war die staatliche Politik Mexikos während des gesamten 20. Jahrhunderts darauf ausgerichtet, alles Indigene zu unterbinden, mittels Maßnahmen verschiedener Institutionen, einschließlich des Bildungswesens. Erst ab 1992, nach einer Reihe von Kämpfen, ist (theoretisch) die plurikulturelle Natur der Nation anerkannt worden. Der Staat sollte für den Erhalt der Sprachen, Kulturen, Traditionen und Bräuche der indigenen Gruppen einstehen. In Wirklichkeit folgte im selben Jahrhundert eine Reihe von Enteignungen von Gemeindeeigentum, das von da an dem Markt zur Verfügung stand.
Das Hochhalten der indigenen Kulturen erfolgt gleichzeitig zum Vordringen des Kapitals (Immobilien, Tourismus, Bergbau, Energie etc.) auf indigenes Land, sei es durch Privatisierung, die Vergabe von Konzessionen an Bergbau- und Energieunternehmen oder an große multinationale Tourismusunternehmen, wie im Falle des Tren Maya. Dabei wird die touristische Erschließung indigener Gemeinden und Regionen als Politik mit entwicklungspolitischer Zielsetzung dargestellt. Tourist*innen wird eine Form indigener Lebensweise dargeboten, die im scharfen Gegensatz zu Ausgrenzung, Prekarität und Menschenrechtsverletzungen steht.
Die Bevölkerung vor Ort ist, nicht zuletzt aufgrund der enormen PR-Maschine für AMLOs Regierung und den Tren Maya, enorm gespalten.
Die Informationen über das Projekt, die der Bevölkerung vorliegen, sind oft intransparent und betonen stets die Vorteile des Plans. Negative Folgen für Gesellschaft und Umwelt werden kaum erwähnt. Als „progressiver“ Präsident betonte AMLO mehrmals, er lasse den Zug nur dann bauen, wenn die Bevölkerung vor Ort damit einverstanden sei. Dazu ließ er ein Referendum abhalten, in dessen Ergebnis 88,9 Prozent dafür und 6,6 Prozent der Stimmen dagegen waren. Die UN kritisierte, dass wenige Indigene überhaupt an der Abstimmung teilnahmen und hauptsächlich Stadtbewohner*innen mit Zugang zu Wahllokalen ihr Votum abgaben. Auch Gruppen der Maya, Tsotsiles, Tsetales und Choles haben Klage eingereicht, da die Umfrage die ILO-Konvention 169 nicht respektiere und somit ihre Rechte auf Selbstbestimmung und -verwaltung verletze.
Verstärkte Militarisierung
Seit Anfang 2023 wird von einer verstärkten Militarisierung in den Regionen gesprochen, die sich gegen den Tren Maya auflehnen. Dies hängt vor allem mit der Gründung der Grupo Olmeca-Maya-Mexica, S.A. de C.V., dem offiziellen Inhaber des Tren Maya, zusammen. Die Regierung übertrug die Verwaltung dieser Unternehmensgruppe dem mexikanischen Verteidigungsministerium (Sedena). Um die steigende Militarisierung der Region als Antwort auf wachsenden Widerstand zu rechtfertigen, erklärte AMLO am 18. Mai 2023 den Tren Maya zum Projekt für die „nationale Sicherheit“. Daraufhin konnten am 18. Juli die Arbeiten auf dem Streckenabschnitt 5 wieder aufgenommen werden, obwohl ein Richter in Yucatán zuvor einen Baustopp aufgrund fehlender Genehmigungen erlassen hatte.
Der Widerstand der indigenen Gruppen in der Region sollte ernst genommen werden, denn es geht um ihr Territorium, ihre Kultur und ihr Recht auf Selbstverwaltung. Tourismus kann, wenn erwünscht, in indigenen Regionen für nachhaltige „Entwicklung“ sorgen, muss jedoch mit Respekt für die Bedürfnisse und Rechte der Indigenen angegangen werden. Das Einbeziehen ihrer Kultur sollte nicht nur symbolisch sein, sondern auch eine wirkliche Beteiligung der lokalen Bevölkerung ermöglichen.
1) Mit den Anführungszeichen möchte sich die Autorin von der westlichen Entwicklungsvorstellung distanzieren.
Vertiefende Lektüre:
Ansotegui, E. (2020), Tren Maya o barbarie: comunidades indígenas en el contexto de la globalización
Morales González, M. (2008), ¿Etnoturismo o turismo indígena? Teoría y Praxis, S. 123-136
Moscoso, F. (2022), Sociedades e identidades culturales en América Latina. In: F. Gliemmo & Moscoso Florencia, Geografía turística latinoamericana. Aportes conceptuales y estudios de caso para la comprensión de un escenario en transición. La Plata, Argentina
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 468 Sep. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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